Hinweise des Tages
Heute unter anderem zu folgenden Themen: Peter Hartz ist enttäuscht; Sozialhilfe nur noch 5 Jahre; schwangere Unterschicht; Zeitverträge boomen; „strukturelle Reformen“ gegen wirtschaftliche Ungleichgewichte; USA drängen auf Yuan-Aufwertung; Altersarmut in Ostdeutschland; Wohnungslücke; Wirtschaftsrat der SPD; Schavan denkt um; Filmkritik: Avatar; CD verbreitet Angst und Schrecken. (RS/WL)
- Reformer Peter Hartz: Hartz-IV-Kritik lässt ihn nicht kalt
- „Sozialhilfe auf fünf Jahre begrenzen“
- In den Betten des Prekariats
- Gesundheits-Kommission startet
- Zeitverträge: Unternehmen lassen Nachwuchskräfte zappeln
- Mit “strukturellen Reformen” gegen die Ungleichgewichte im Euroraum?
- Robert von Heusinger: Von den Franzosen lernen
- USA wollen Yuan-Aufwertung erzwingen
- Millionäre ziehen Vermögen aus Liechtenstein ab
- Finanzwetten: Banken fordern von Leipzig 84 Millionen Euro
- Viele Ostdeutsche müssen mit Rente auf Hartz-IV-Niveau rechnen
- Verbände warnen vor katastrophaler Wohnungslücke
- Wirtschaftsrat soll SPD wiederbeleben
- Bildungsministerin Schavan: Neues Amt macht neue Meinung
- Texas schreibt Geschichte um
- Kehrt die DDR zurück in die Städte und Gemeinden?
- Nachtrag zum Interview mit James K. Galbraith vom 16.3.
- Filmkritik: Avatar
- Zu guter Letzt: Verbreitet Angst und Schrecken – die Steuersünder-CD
Vorbemerkung: Wir kommentieren, wenn wir das für nötig halten. Selbstverständlich bedeutet die Aufnahme in unsere Übersicht nicht in jedem Fall, dass wir mit allen Aussagen der jeweiligen Texte einverstanden sind. Wenn Sie diese Übersicht für hilfreich halten, dann weisen Sie doch bitte Ihre Bekannten auf diese Möglichkeit der schnellen Information hin.
- Reformer Peter Hartz: Hartz-IV-Kritik lässt ihn nicht kalt
Der Mann, nach dem die Reform des Arbeitslosenrechts benannt ist, fühlt sich zu Unrecht kritisiert. Ganz anders hätten die ursprünglichen Vorschläge ausgesehen
Quelle: FRAnmerkung Orlando Pascheit: Lassen wir die Person Hartz einmal außen vor, schließlich hat die nach ihm benannte Kommission entschieden. Und da hat Peter Hartz recht. Die entscheidende Verschärfung der Hartz-Regeln fand nämlich im Kanzleramt statt – und zwar unter ausschlaggebender Mitwirkung von Frank-Walter Steinmeier.
- „Sozialhilfe auf fünf Jahre begrenzen“
Clintons Reform beendete das seit 1935 geltende Recht auf lebenslange Sozialhilfe. An seine Stelle trat ein auf fünf Jahre begrenztes Recht auf Unterstützung bei tatkräftiger Hilfe nicht zu irgendeiner abstrakten Integration, sondern zum Übergang in Arbeit. Der Erfolg dieser Maßnahmen war durchschlagend: Bezogen vor der Reform 12,2 Millionen amerikanische Bürger Sozialhilfe, so waren es 2005 nur noch 4,5 Millionen. Die Frauen der Unterschicht betrieben nun Geburtenkontrolle. So sank die Zahl der „welfare mothers“ drastisch, ebenso die Kriminalität der Söhne dieses Milieus.
Solange die Regierung das Recht auf Kinder als Recht auf beliebig viel öffentlich zu finanzierenden Nachwuchs auslegt, werden Frauen der Unterschicht ihre Schwangerschaften als Kapital ansehen. Allein eine Reform hin zu einer Sozialnotversicherung mit einer Begrenzung der Auszahlungen auf fünf Jahre statt lebenslanger Alimentierung würde wirken – nicht anders als in Amerika. Eine solche Umwandlung des Sozialstaats würde auch die Einwanderung in die Transfersysteme beenden. Deutschland könnte dann im Wettbewerb um ausländische Talente mitspielen, um seinen demographischen Niedergang zu bremsen.
Quelle: FAZAnmerkung WL: Die gesamte Argumentation von Heinsohn beruht auf nicht hinterfragten Annahmen und Hypothesen. Was ist etwa daran schlimm, wenn die Bevölkerung in Deutschland schrumpft? Es wird gar nicht nach Ursachen gefragt, warum die Geburtenrate in den letzten Jahren geschrumpft ist. Warum ist die Geburtenrate im Osten Deutschlands mit der Einheit eingebrochen? Auch in anderen europäischen Ländern ist die Geburtenrate zurückgegangen.
Heinsohn stellt falsche Behauptungen auf: So behauptet er z.B. dass im neuesten Berufsbildungsbericht stehe, dass unter den Lehrstellenbewerbern fast die Hälfte nicht ausbildungsfähig sei. Diese Angabe ist im Berufsbildungsbericht 2009 allerdings nirgendwo zu finden. Selbst in der Arbeitgeberstellungnahme ist nur davon die Rede dass sich die ausbildenden Unternehmen „mit einer defizitären Ausbildungsreife vieler Bewerber konfrontiert sehen“ (S. 54) [PDF – 1.1 MB].
Angeblich verlassen von den 50 befähigten Kindern 10 das Land. Ob diese Behauptung richtig ist, vermag ich nicht nachzuvollziehen. In der Regel sind es jedoch vor allem akademisch Gebildete, die ins Ausland gehen. Das ist auch gewünscht. Doch die allermeisten kommen nach einem Auslandsaufenthalt auch wieder zurück.
Warum gehen jünger Menschen ins Ausland?
Es ist eben so, dass ein Ober in Davos ein Mehrfaches verdient als ein tarifloser Niedriglohn-Kellner in Deutschland. Es wird verschwiegen, dass die durchschnittlichen Reallöhne etwa in England oder Skandinavien seit den 90er Jahren um 25% stiegen, während sie bei uns gesunken sind.
Wenn bei uns nach einer McKinsey-Studie mehr als die Hälfte der Studierenden darüber nachdenken, ins Ausland zu gehen, so hat das nur wenig mit Sozialabgaben oder Umverteilung zu tun, sondern hängt mit verbreiteten Zweifeln der Generation Praktikum zusammen, ob man für sich von einer gesicherten Zukunft in Deutschland ausgehen kann.
Werte wie Frieden (92 Prozent), Bürger- und Menschenrechte (91 Prozent), Umwelt-/Naturschutz (87 Prozent) sowie gleichauf soziale Wärme/menschlicher Zusammenhalt und Kinder/Familie (je 86 Prozent) und die Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit (79 Prozent), Bürger- und Gemeinsinn (71 Prozent), Vereinbarkeit von Beruf und Familie (79 Prozent) sowie Arbeitsplatzsicherheit (73 Prozent) stehen für die jungen Leistungsträger im Vordergrund ihrer gesellschaftlichen Wunschvorstellungen.
Siehe als mögliches Motiv für die Abwanderung junger Menschen auch:Befristete Jobs: Lebensplanung wird unmöglich
Sie sind jung, leisten Überstunden und können ihr Leben höchstens einige Jahre im Voraus planen. Berufseinsteiger sind oft befristet beschäftigt. Fachleute halten das für höchst problematisch.
Quelle: FRHeinsohn behauptet Fakten, die falsch oder interpretationsbedürftig sind oder er rückt sie so zurecht, dass sie zu seiner vorgefassten Meinung passen.
Es ist geradezu makaber, dass der Autor das FAZ-Gastbeitrags, der ganz offen die Geburtenbeschränkung von Ausländern fordert, Sprecher eines Raphael-Lemkin-Instituts für Xenophobie- und Genozidforschung (also für Fremdenfeindlichkeits- und Völkermordforschung) ist.
Und es ist bezeichnend für die FAZ, das solche Beiträge unkommentiert abgedruckt werden – darüber hinaus noch Chor mit der Bild-Zeitung.
In einem Buch „Weltmacht und Söhne“ vertritt übrigens der „Demograph“ Heinsohn die abstruse These, dass ein Überhang an jungen Männern im Alter zwischen 15 und 24 Jahren verantwortlich für Gewaltausbrüche und Kriege ist. Vgl. dazu die Kritik von Mohssen Massarrat.Anmerkung unserer Leser K.B.&F.B.: Herr Heinsohn beweist hinter seiner wissenschaftlichen Fassade, wie sehr die Arroganz der sich selbst empfindenden geistigen Elite wieder ihr Heil im Sozialdarwinismus sucht, hier gepaart mit der konsequenten Weiterführung der Freimarkt-Ideologie zu einem Menschenbild, welches sich nur noch als Produkt des Human-Marktes fassen lässt. Scheinbar hat Herr Heinsohn keinerlei geschichtliches Gespür – und passender Weise wird in den Internet-Kommentaren gleich wieder der Ruf nach der helfenden “starken Hand” laut, die Deutschland schon einmal so gut zu Gesicht stand.
Besonders entlarvend empfinden wir, dass Herr Heinsohn auf der einen Seite die Probleme mit der sich seiner Ansicht nach zu frei vermehrenden Unterschicht und der “unkontrollierten” Zuwanderung mit Zahlenmaterial unterfüttert, bei seinem in Deutschland glücklicherweise verfassungswidrigen “Lösungsansatz” aus den USA einige Zahlen aber unter den Tisch fallen lässt, so zum Beispiel den enormen Anstieg derer Amerikaner, die unterhalb der Armutsgrenze existieren müssen.Ein Kommentar dazu:
Das unwerte Hartz IV-Leben
Es ist hemmungslos, was Vertreter einer neuen Rassen- und Klassenhygiene sich trauen, in Deutschland öffentlich von sich zu geben. Hartz IV-Empfänger und ihre Familien spielen inzwischen die Rolle einer Bevölkerungsgruppe, auf die man mittlerweile anscheinend ungestraft verbal einschlagen und ihr die Lebensgrundlage absprechen kann. “Sozialhilfe auf fünf Jahr begrenzen”, um so die Unterschicht zu dezimieren, das ist der grandiose Vorschlag des Sozialpädagogik-Professors. Was danach kommt, wovon dann Kinder und Eltern leben sollen, diese Frage bleibt er freilich schuldig. Die Sprache des Professors ist dabei eine neue Sprache der Verurteilung unwerten Lebens, fehlt uns doch “nicht das vierte bildungsferne Kind der Sozialhilfemutter, sondern das erste oder zweite der hoch besteuerten und kinderlosen Karrierefrau”, wie es in einem weiteren Artikel (2) von Heinsohn in Welt Online heißt.
Was passiert, wenn wie in den USA die Sozialhilfe auf fünf Jahre beschränkt wird, schildert der Soziologe Loic Wacquant in seinem Buch “Die Bestrafung der Armen”. Während die Zahl der Sozialhilfeempfänger drastisch zurückgegangen ist, weil sie nicht mehr registriert werden, explodierte die Zahl der Gefängnisinsassen (USA: Gefängnisland Nr. 1 (3)). Zählte man 1975 rund 380.000 Häftlinge in den USA, waren es 2000 1,9 Millionen. Das Elend der amerikanischen Wohlfahrt und der Ausbau des Gefängnissystems sind die beiden Seiten derselben politischen Medaille, so Wacquant, Professor an der University of California ( Über die Probleme der Massenhaft in den Vereinigten Staaten (4)). Überfüllte Gefängnisse, das ist die Antwort auf die wachsende Zahl der Armen, der sozial Verwundbaren und der Überflüssigen. Wacquant zeigt, wie die Regulierung und Kontrolle der unteren Klassen im Zeitalter der fragmentierten Lohnarbeit und der Verallgemeinerung ungesicherter Arbeitsverhältnisse über ein Strafsystem geleistet wird, das wieder die Zähmung der armen Klasse zur Aufgabe hat.
Quelle: TelepolisPassend zu Heinsohns Beitrag:
- In den Betten des Prekariats
Seit der Einführung von Hartz IV ist die Zahl ungewollter Schwangerschaften offenbar gestiegen. Sollte es für Bedürftige wieder kostenlose Verhütungsmittel geben?
Quelle: Spiegel-OnlineEin Kommentar dazu:
Viele Schwangerschaftsabbrüche bei Leistungsempfängerinnen
Die Diskussion über die “Gratispille” für Hartz-IV-Empfänger, die in manchen Bundesländern geführt wird, wirft ein anderes Licht auf steigende Geburtenzahlen als das Gerede von “Frauen der Unterschicht, die ihre Schwangerschaften als Kapital ansehen”.
Quelle: Telepolis - Gesundheits-Kommission startet – SPD-Kritik
Die von der Regierung eingesetzte Kommission zur Reform der Krankenkassenfinanzen nimmt heute (Mittwoch/15.00) in Berlin ihre Arbeit auf. Unter dem Vorsitz von Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) nehmen daran sieben seiner Kabinettskollegen teil, darunter auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. Die Kommission soll nach den Vorstellungen Röslers auch den Weg für eine allein von den Kassenmitgliedern zu bezahlende, einkommensunabhängige Prämie ebnen. Eine solche Pauschale wird von der CSU abgelehnt, die in dem Gremium von Verbraucherministerin Ilse Aigner vertreten wird. Die Vorsitzende des Bundestags-Gesundheitsausschusses, Carola Reimann (SPD), rechnet nicht mit raschen Ergebnissen der Kommission. «Ich bezweifele, dass es ein greifbares Ergebnis gibt. Ich erwarte, dass sich die Kommission lediglich auf einen Terminplan, auf die Geschäftsordnung und auf Formalien verständigt», sagte Reimann der Deutschen Presse-Agentur dpa in Berlin.
Quelle: Krankenkassen-NewstickerDirekt dazu:
Es geht auch anders – Ärztinnen und Ärzte protestieren gegen die Pläne von Dr. Rösler
Unmittelbar vor Start der Regierungskommission zur Gesundheitsreform hält Gesundheitsminister Rösler, trotz aller Proteste, an seinen Plänen zur schrittweisen Einführung einer einkommensunabhängigen Kopfpauschale – im Moment wird an 29 Euro anstelle der 0,9 Prozentpunkte, die alleine die Arbeitnehmer bezahlen, gedacht – zur Finanzierung des Gesundheitswesens fest. Diese Art der Finanzierung ist unsozial, da sie die Schwachen mehr belastet als die Starken, und der angekündigte Steuerausgleich darüber hinaus auch nicht finanzierbar ist. Als Kollege wurde Dr. Rösler von der Ärzteschaft mit Vorschusslorbeeren bedacht und ist seit langem der erste Gesundheitsminister, auf den die offizielle Ärzteschaft ohne Mistrauen zugeht. Nicht zuletzt deshalb, weil sie sich von einem Kollegen den Erhalt ihrer Privilegien erhofft.
Um zu zeigen, dass es auch Ärztinnen und Ärzte gibt, die mit den unsozialen Plänen des Ministers nicht einverstanden sind und die sich für ein solidarisch und gerecht finanziertes Gesundheitswesen einsetzen, rufen die Erstunterzeichner des Aufrufes „Ärzte gegen Dr. Röslers Rezepte – Für ein solidarisches Gesundheitswesen“ ihre ärztlichen Kollegen zum öffentlichen Protest gegen die Politik des Gesundheitsministers auf.
Quelle: Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte - Zeitverträge: Unternehmen lassen Nachwuchskräfte zappeln
Deutschlands Unternehmen wollen sich nicht binden. Laut einem Pressebericht befristen sie 47 Prozent aller Arbeitsverträge bei Neueinstellungen – viel mehr als früher. Die Gewerkschaften sind empört: “Junge Menschen müssen ihre Familienplanung am nächsten verfügbaren Job ausrichten.”
Quelle: Spiegel-OnlineDazu:
Befristete Beschäftigung: Jeder elfte Vertrag hat ein Verfallsdatum
Die Zahl befristeter Arbeitsverträge hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutlich zugenommen. Rund 2,7 Millionen (8,9%) der insgesamt 30,7 Millionen abhängig Beschäftigten hatten nach Ergebnissen des Mikrozensus 2008 einen Vertrag auf Zeit. Der Anteil befristet Beschäftigter erreichte damit seit 1991 (5,7%) seinen bisherigen Höchststand. Die Angaben beziehen sich auf “Kernerwerbstätige” im Alter von 15 bis unter 65 Jahren, ohne Auszubildende sowie Schülerinnen, Schüler und Studierende mit Nebenjob.
Quelle: Statistisches BundesamtAnmerkung WL: Aber von Arbeitgebern und ihren politischen Repräsentanten von CDU und FDP wird immer noch mehr Flexibilisierung auf dem Arbeitsmarkt gefordert. Siehe unten Wolfgang Franz, Vorsitzender des Sachverständigenrates.
- Mit “strukturellen Reformen” gegen die Ungleichgewichte im Euroraum?
Nach einem Bericht der Financial Times Deutschland (17.3.2010) hat der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble gestern einer Erklärung zugestimmt, laut der Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der Eurozone verringert werden sollen. Deutschland verpflichtet sich dabei zu “strukturellen Reformen, die bei der Stärkung der Binnennachfrage helfen”.
Daneben hat sich aber als beliebtes Argumentationsmuster die Behauptung entwickelt, Deutschland müsse nun in der Tat die Binnennachfrage stärken, und zwar ebenfalls durch “strukturelle Reformen” (also weitere Unternehmensteuersenkungen, Deregulierung des Arbeitsmarktes und Ausbau des Niedriglohnsektors). So wurde der Vorsitzende des Sachverständigenrates Wolfgang Franz in der vergangenen Woche in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (11.3.2010) mit der Aussage zitiert: “Mit Hilfe verbesserter Standortbedingungen beispielsweise im Bereich der Unternehmensbesteuerung und der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes kann man bewirken, dass Unternehmen wieder mehr in Deutschland investieren und damit mehr Arbeitsplätze hierzulande schaffen.” Und Hans-Werner Sinn behauptet seit langem, der deutsche Exportüberschuss erkläre sich durch zu hohe (!) Löhne und zu geringe (!) Lohnspreizung und allgemein zu schlechte Standortbedingungen für die Unternehmen, die Investitionen abschrecken. Zur Stärkung der Binnenwirtschaft und Überwindung des “pathologischen Exportbooms” seien daher weitere “strukturelle Reformen” notwendig.
Was genau heißt das? In der Vergangenheit waren “strukturelle Reformen” in Deutschland vor allem mit der Begründung durchgesetzt worden, Deutschland müsse international wettbewerbsfähiger werden. Deswegen wurde der Arbeitsmarkt flexibilisiert, und die Steuern auf Unternehmensgewinne und Kapitalerträge gesenkt.
Quelle: IMK - Robert von Heusinger: Von den Franzosen lernen
Merci beaucoup, Madame Christine Lagarde. Mit ihrer hochoffiziellen Kritik am deutschen Exportmodell haben Sie eine längst überfällige Debatte angestoßen – jenseits des Rheins, wie Sie sagen würden. Höchste Zeit also folgende Frage zu stellen: Ist das Exportmodell überhaupt stabil und erstrebenswert? Stabil kann es nicht sein, weil nie alle Länder gleichzeitig Überschüsse aufweisen können.
Quelle: FR - USA wollen Yuan-Aufwertung erzwingen
Der Streit zwischen Washington und Peking um den Yuan-Kurs geht in eine neue Runde: Dem Kongress liegt ein Gesetzentwurf vor, der vor allem China mit Sanktionen droht. “Die Manipulation der chinesischen Währung hat zur weltweiten Rezession beigetragen und jetzt behindert es die Erholung”, sagte der Hauptautor der Vorlage, der demokratische Senator Charles Schumer. Es gebe keine wirksamere Maßnahme, gegen die hohe Arbeitslosigkeit in den USA vorzugehen, als der künstlichen Schwächung des Yuan entgegenzutreten. Der Gesetzesentwurf wird von vier weiteren Senatoren, zwei Demokraten und zwei Republikanern, mitgetragen. Schumer sagte, er rechne mit breiter Zustimmung im Senat. Bereits zu Wochenbeginn hatten 130 Abgeordnete beider politischen Lager Finanzminister Timothy Geithner aufgefordert, in einem für kommenden Monat geplanten Bericht den Export-Weltmeister China als Währungsmanipulierer zu brandmarken.
Quelle: ZeitAnmerkung Orlando Pascheit: Die Weltmacht kämpft mit harten Bandagen. Was sich mit der geplanten Exportoffensive oder konkret mit der Bevorzugung von Boeing beim Kauf von Tankflugzeugen schon andeutete, setzt sich fort. Die Schwierigkeit ist nur, die USA haben in ihrer Volkswirtschaft eine weitreichende Deindustrialisierung zugelassen. Die chinesische Währung mag 10 bis 30 Prozent unterbewertet sein (je nach Institut), aber die Industrien, mit denen China die USA beliefern, sind in den USA zusammen mit den Jobs endgültig weg. – Unabhängig davon, ob die Klagen der USA oder auch Frankreichs berechtigt sind, die Wirtschaftskrise geht in die nächste Runde. Die Regierungen werden nervöser, und sie haben allen Grund dazu: Hohe Arbeitslosigkeit allerorten, Rekordschulden zur Rettung der Banken oder für Konjunkturpakete, drohende Staatsbankrotte usw.
- Millionäre ziehen Vermögen aus Liechtenstein ab
Die größte Bank Liechtensteins kämpft mit einem massiven Kundenschwund: Im vergangenen Jahr haben vermögende Anleger rund 2,5 Milliarden Euro abgezogen. Hintergrund ist vermutlich die Diskussion um das Bankgeheimnis – Steuerhinterzieher fühlen sich in dem Land offenbar nicht mehr sicher.
Quelle: Spiegel-Online - Finanzwetten: Banken fordern von Leipzig 84 Millionen Euro
Die hochspekulativen Finanzgeschäfte der Leipziger Wasserwerke haben jetzt erste Konsequenzen für die Stadt. Die betroffenen Banken, darunter die Schweizer UBS, verlangen die Überweisung von 84 Millionen Euro bis zum Ende der Woche. Die Geldforderung basiert auf risikoreichen sogenannten CDO-Geschäften. Für diese Finanzwetten, welche die inzwischen entlassenen Geschäftsführer der Kommunalen Wasserwerke (KWL) im Jahr 2006 mit den Kreditinstituten vereinbart haben und die anschließend geplatzt sind, soll nun die Stadt geradestehen.
Quelle: FAZ - Viele Ostdeutsche müssen mit Rente auf Hartz-IV-Niveau rechnen
Der Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft hat dramatische Spätfolgen: Für einen Großteil der Ostdeutschen, die ab 2030 in Rente gehen, wird die gesetzliche Altersversorgung einer DIW-Studie zufolge nur auf dem Niveau der Grundsicherung liegen – oder sogar darunter.
Die lange Arbeitslosigkeit und der zunehmende Trend zu Teilzeitbeschäftigungen und Minijobs fordern ihren Tribut – besonders in Ostdeutschland. Ein Großteil der Berufstätigen, die in rund 20 Jahren das Rentenalter erreichen, wird sich wohl auf einen sehr bescheidenen Lebensabend einrichten müssen. Einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zufolge werden die Zahlungen, die viele Arbeitnehmer von der gesetzlichen Rentenversicherung zu erwarten haben, nahe oder sogar unter der Grundsicherung von 600 Euro liegen.
Quelle 1: Spiegel
Quelle 2: DIW Wochenbericht 11/2010 [PDF – 453 KB] - Verbände warnen vor katastrophaler Wohnungslücke
Ohne aktives Eingreifen der Politik mit gezielten Steuer-Anreizen und gesicherter Investitionsförderung über die KfW-Bank werde sich bis 2025 eine Wohnungsbaulücke von 360 000 Wohnungen pro Jahr aufbauen, erklärten die Verbände am Mittwoch auf dem Wohnungsbau-Forum in Berlin. Immerhin seien einer aktuellen Studie zufolge drei Viertel aller deutschen Regionen von dieser Lücke bedroht, in der Hälfte des Bundesgebiets lägen die Haushalts-Nettoeinkommen unter dem Durchschnitt von 1774 Euro monatlich. «Das Aufeinandertreffen von fehlenden Wohnungen, steigenden Mieten und geringen Einkommen bedroht die wirtschaftliche Existenz der kommenden Rentnergeneration und die der jungen Erwachsenen besonders dramatisch», erklärten die Verbände auf Basis der vorgelegten Studie der Prognos AG. Diese Gruppen seien die Verlierer bei wachsendem Trend zu Einpersonen-Haushalten. «Wenn nichts getan wird, werden wir in 20 Jahren die Katastrophe haben, nämlich dass wir viel zu wenig Wohnungen haben, dass wir dann eine Verelendung kriegen», sagte Wiesehügel der Deutschen Presse- Agentur dpa. «Fehlende und unbezahlbare Wohnungen führen zu Abschiebungen alter Menschen in Pflegeheime, die drei Mal so teuer sind wie das, was wir jetzt an Wohnungsförderung diskutieren.
Quelle 1: Zeit
Quelle 2: Prognos [PDF – 5.8 MB] - Wirtschaftsrat soll SPD wiederbeleben
Es ist ein großes Manko: Im Zuge der innerparteilichen Streitigkeiten ist der SPD das ökonomische Profil abhanden gekommen. Ein neuer, prominent besetzter Wirtschaftsrat soll jetzt Abhilfe schaffen – und die Partei auch jenseits von Hartz IV wieder aufbauen.
Quelle: Spiegel-OnlineAnmerkung unseres Lesers J.A.: Erfreulich, dass vernünftige Ökonomen wie Flassbeck, Horn und Dullien im Wirtschaftsrat teilnehmen dürfen. Aber dass ausgerechnet die abgehalfterten Peer Steinbrück und Klaas Hübner oder der Agenda-Bürokrat Steinmeier “wirtschaftspolitische Prominenz, ökonomischen Sachverstand” darstellen sollen, ist eine SPIEGEL-typische Verdrehung der Faktenlage. Dass diese “Prominenz” weiter im Wirtschaftsrat mitmachen darf, wird ihn wohl von vornherein zum Scheitern verurteilen.
- Neues Amt macht neue Meinung
Annette Schavan fordert eine nationale Bildungspolitik. Auf die – leider sehr späte – Erkenntnis der obersten Bildungspolitikerin im Land lohnt es sich allerdings umso mehr einen Blick zu werfen. Schavan gehörte noch vor Jahren als Kultusministerin in Baden-Württemberg zu den heftigsten Befürworterinnen des Bildungsföderalismus. Nun hat Schavan offenbar erkannt, dass Verantwortung annehmen und Handeln zwei Seiten einer Münze sind. Weshalb sie nun dafür wirbt, das Grundgesetz erneut zu ändern. Man könnte auch sagen: den Fehler früherer Jahre einzugestehen und rückgängig zu machen. Weil mehr Bildungsgerechtigkeit in der Verantwortung aller liegt, will Schavan den Schulen in Deutschland nicht nur auf verschämten Wegen eine Milliarde Euro zukommen lassen, sondern bei der Verwendung ein Wörtchen mitsprechen dürfen.
Quelle: TagesspiegelAnmerkung R.F.: Schavans 1 Mrd. gegen Bildungsarmut wirkt ja auf den ersten Blick großartig. 20.000 Euro pro Schule zum Kampf gegen Bildungsarmut ist für einen Staat, der diese Verhältnisse zulässt doch eher peinlich. Man könnte ja auch einmal nachfragen, auf welchem Weg der Bund dieses Geld in die Schulen bringen will. Vgl. Wir schmieden Bündnisse gegen Bildungsarmut [PDF – 127 KB].
- Texas schreibt Geschichte um
In Texas wird der Kapitalismus abgeschafft. Jedenfalls auf dem Papier. Schüler in dem zweitgrößten US-Bundesstaat sollen in Zukunft anstatt des »negativ behafteten Begriffs« von der besser klingenden »freien Marktwirtschaft« sprechen, wie ein republikanisches Mitglied des Erziehungsausschusses in Austin, Texas, kürzlich erklärte. Diese und andere – weitaus ernst zu nehmendere – Änderungen hat die staatliche Einrichtung nun nach einer dreitägigen, hitzigen Debatte vorab beschlossen. Die zehn Republikaner in dem 15köpfigen Ausschuss stimmten Ende vergangener Woche geschlossen für nichts geringeres als eine christlich-konservative Neuausrichtung des Lehrplans. Die Änderungen in den Fächern Geschichte, Wirtschaft und Soziologie beruhen auf Vorschlägen eines Lehrergremiums. Fachleute wie Historiker oder Wirtschaftswissenschaftler konsultierte der Ausschuss vor der Abstimmung nicht. Die Lehren der Kapitalismus-Verfechter Friedrich von Hayek und Milton Friedman rücken noch stärker in den Vordergrund, die Kommunistenhetze in der McCarthy-Ära soll hinsichtlich ihrer »positiven Resultate« beleuchtet und der Unterricht über die Bürgerrechtsbewegung um »gewalttätige Weltanschauungen« namentlich der Black Panther Partei ergänzt werden. Unter die Räder der Geschichtsumschreibung kommt auch einer der Gründer der USA. Der Autor der Unabhängigkeitserklärung und dritte Präsident der USA, Thomas Jefferson, fällt in Ungnade, weil er sich für die Trennung von Kirche und Staat einsetzte.
Quelle: junge WeltAnmerkung RS: Wer die Macht hat, schreibt die Geschichte.
- Kehrt die DDR zurück in die Städte und Gemeinden?
Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die Sächsische Zeitung kontroverse Essays, Kommentare und Analysen zu aktuellen Themen. Es sind Texte, die aus der ganz persönlichen Sicht des Autors Denkanstöße geben und zur Diskussion anregen sollen. Heute: Gerhard Lemm, Oberbürgermeister von Radeberg. Er analysiert die Finanzlage der Kommunen. Bund und Land haben Sachsens Städte und Gemeinden an den Rand des Abgrunds manövriert– zulasten der Bürger. Notwendig ist ein Rettungsschirm.
Quelle: Sächsische Zeitung - Nachtrag zum Interview mit James K. Galbraith vom 16.3.
Im Interview hat Prof. Galbraith bei der Frage nach Erfahrungen mit Mindestlöhnen auf „jahrzehntelange Erfahrungen in skandinavischen Ländern“ hingewiesen. Da die skandinavischen Länder gar keine Mindestlöhne haben, haben wir bei Prof. Galbraith nachgefragt:„…Skandinavische Länder haben tatsächlich keine gesetzlichen Mindestlöhne. Stattdessen überlassen sie der Mindestbelohnung den Tarifpartnern – ein System, das gut funktioniert, da der Grad an gewerkschaftlicher Organisation in den Ländern sehr hoch ist. Während skandinavische Länder hervorragende Beispiele für funktionierende Sozialsysteme sind, sie werden oft von Mindestlohngegnern als Beweis dafür genannt, dass Mindestlöhne unnötig seien.“
Prof. Galbraith hat uns wie folgt geantwortet:
„Es stimmt natürlich: Wenn Sie starke und durchsetzungsfähige Gewerkschaften haben, brauchen Sie keine gesetzlichen Minima. Das ist eine Unterscheidung ohne Unterschied: so oder so werden Löhne nicht nach den Vorstellungen des Arbeitgebers, sondern nach einer sozialen Entscheidung über Lohnstrukturen und unter der Voraussetzung, dass Arbeitgeber und Produktivität sich daran anpassen.
In den USA gibt es starke Beweise (insbesondere die Studien von Card und Krueger), dass eine Erhöhung des Minimums Beschäftigung nicht verändert. Das bleibt nur deshalb kontrovers, weil es tief sitzenden Glaubenssätzen so stark zuwiderläuft.“ - Filmkritik: Avatar
So rational und unvermeidlich die effizientere Nutzung der nord- und südamerikanischen Weiten durch die einströmenden, landlosen europäischen Massen war, so pathologisch verlief die rassistisch unterfütterte Landnahme, die ein verhandelbares ökonomisches Konkurrenzverhältnis zwischen Jäger- und Sammlertum und moderner Agrikultur in eine hässliche Serie von durchaus gegenseitigen Massakern und Vernichtungskampagnen verwandelte. In Südamerika dauern diese Indianerkriege bis heute an.
Das Unbehagen über solche Prozesse spürt die bürgerliche Gesellschaft, weil sie ihr Selbstverständnis einer freien und gleichen, durch Konkurrenz stabilisierten Gesellschaft trübt. Sie hatte historisch kein Äquivalent anzubieten, das die Aufgabe des Jäger- und Sammlertums zugunsten der Arbeit in Minen unter Tage oder der Zerschindung von Menschen in Kautschukplantagen attraktiv erscheinen ließe — der Rassismus diente sich als Legitimation an, das Unmenschliche den zu Tieren und Dingen Erklärten antun zu können, weil die technologische Überlegenheit es erlaubte. Das technologisch-kulturelle Experiment “Avatar” ist Ausdruck und Folge dieses schlechten Gewissens.
Avatar trifft eine im ganzen Manierismus noch deutliche Aussage über die (Un-)Verhandelbarkeit von Interessen in einem assymetrischen Konflikt zwischen einer hochgerüsteten Industrie-Gesellschaft und einer Jäger- und Sammlergesellschaft…
Der theorielose, spielerisch-naive Charakter entspricht dem derzeitig propagierten Ideal eines Feldforschers in einer sich gegen Theorie abdichtenden Ethnologie. “Going native” ist die Folge, wo die eigene Gesellschaft als unbeherrschbar empfunden wird, die zugewiesene Rolle in der Fremde die in der eigenen Gesellschaft an Dienstgrad und Lustgewinn bei weitem übertrifft. Vom querschnittsgelähmten, befehlsgebundenen Marine zum kraftvollen, elastischen Anführer mit Kohlefaserverstärkten Knochen — es bedarf keines besseren Gesellschaftsmodells und erst recht nicht der Einsicht in dieses, um diesen Tausch attraktiv erscheinen zu lassen. Würde der Film also wirklich an seine vorgeschützte Gesellschaftskritik glauben, würde er nicht dieses Sonderangebot auf ein besseres Leben auffahren müssen.
Quelle: Blog “Nichtidentisches”Anmerkung KR: Felix Riedel ist meines Wissens der einzige Kritiker, dem das Feuerwerk technischer Innovationen dieses Films nicht die Sprache verschlagen hat.
- Zu guter Letzt: Verbreitet Angst und Schrecken – die Steuersünder-CD
Quelle: Stern