Arbeitsmarkt: „Was gibt es hier zu jubeln? Gar nichts!“
Als Angela Merkel vor Kurzem bekannt gab, nicht mehr als Parteivorsitzende zur Verfügung zu stehen und ihre Kanzlerschaft 2021 beenden zu wollen, überschlugen sich so manche Kommentatoren vor Lobeshymnen auf die Kanzlerin. Der Wirtschaftswissenschaftler Heinz-Josef Bontrup zeigt im NachDenkSeiten-Interview, dass Merkels Arbeitsmarktpolitik alles andere als Grund zu jubeln gibt. „Merkel steht uneingeschränkt für eine neoliberale Umverteilung von den Arbeits- zu den Kapitaleinkünften“, sagt der Professor mit Schwerpunkt Arbeitsökonomie. Bontrup verweist auf eine Arbeitsmarktpolitik, „die zu Lasten der Gewerkschaften, Beschäftigten und Arbeitslosen“ geht und zu einer immer ungleicheren Einkommensverteilung führt. Von Marcus Klöckner.
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Herr Bontrup, Bundeskanzlerin Merkel will sich 2021 nicht mehr zur Wahl stellen. Würden Sie für die NachDenkSeiten schon einmal bilanzieren? Was hat Merkels Arbeits- und Wirtschaftspolitik bzw. die der Koalitionsregierung den Menschen in Deutschland gebracht?
Merkel hat während ihrer bisherigen Kanzlerschaft einen insgesamt neoliberalen Kurs gefahren. Dies gilt für die gesamte Wirtschaftspolitik und im Besonderen auch für die Arbeitsmarktpolitik. Merkel steht für eine „marktkonforme Demokratie“, für Schuldenbremsen, Austeritätspolitik und eine Beschneidung des Sozialstaats. In der Arbeitsmarktpolitik wurde der von Schröder schon ausgebaute Niedriglohnsektor weiter durchgesetzt. Merkel steht uneingeschränkt für eine neoliberale Umverteilung von den Arbeits- zu den Kapitaleinkünften. Übrigens hat sie auch nie einen Ausbau der Mitbestimmung in Erwägung gezogen. Weder der unternehmensbezogenen noch der betrieblichen Mitbestimmung.
Also wenn es um Unternehmen geht, muss in Merkels Politik das Kapital das Sagen haben?
Eindeutig: ja. Das „Investitionsmonopol des Kapitals“ (Erich Preiser) würde sie nicht im Traum in Frage stellen. Es war aber nicht nur Merkel, die regiert hat. Wir wollen bitte nicht vergessen, dass sie schwergewichtige politische Helfer hatte. Insbesondere die SPD und in ihrer zweiten Kanzlerschaft auch die FDP. Und vom Grundsatz ist Merkel, wie alle Neoliberalen, fest davon überzeugt, dass Arbeitslosigkeit immanent an den Arbeitsmärkten durch zu hohe, nicht markträumende Arbeitsentgelte entsteht. Würden die Beschäftigten und Gewerkschaften auch sinkende Arbeitsentgelte akzeptieren, so wären sie auch nicht arbeitslos. Da sie dies aber verweigern, sind sie in neoliberaler Schreibweise „freiwillig arbeitslos“ und „freiwillig Arbeitslose“ hätten eben auch nur einen geringfügigen Anspruch auf eine staatliche Unterstützung. Siehe Hartz-IV. Dass Arbeitsmärkte aber nur abgeleitete Märkte sind und deshalb vielmehr von der jeweiligen Entwicklung an den Güter- und Finanzmärkten abhängen, wird bei den Neoliberalen völlig ausgeblendet und offensichtlich auch von Merkel.
Wir hören immer wieder, dass die Arbeitslosenzahl zurückgegangen ist. Das ist doch positiv, oder?
Hier muss ich zurückfragen. Von welchen Arbeitslosenzahlen sprechen Sie? Meinen Sie die registrierten Arbeitslosenzahlen oder sprechen Sie von den tatsächlichen Arbeitslosenzahlen? Die registrierte Arbeitslosigkeit liegt zurzeit bei gut 2 Millionen. Hinzu kommt aber fast eine Million statistisch wegdefinierte Arbeitslosigkeit. Menschen, die sich als Arbeitslose krank gemeldet haben oder sich als Arbeitslose in Weiterbildungsmaßnahmen befinden, oder Ein-Euro-Jobber und andere gelten statistisch nicht als arbeitslos und tauchen in Folge bei den registrierten Arbeitslosen nicht auf. Die Bundesagentur für Arbeit spricht hier mystifizierend von einer Unterbeschäftigung. Aber dennoch gilt in der Tat, unabhängig von der Arbeitslosendefinition, die Arbeitslosenzahlen sind zurückgegangen und auch die Beschäftigung hat zugenommen. Das sagt aber alles ökonomisch noch nicht viel.
Wie meinen Sie das?
Nur Kopfzahlen zu betrachten, ist allenfalls die halbe Wahrheit. Entscheidend ist das Arbeitsvolumen, also muss ich die Kopfzahlen, die Anzahl der Beschäftigten, mit der jeweils individuellen Arbeitszeit der Beschäftigten multiplizieren.
Aber auch beim Arbeitsvolumen haben wir seit 2005, dem Beginn der Kanzlerschaft Merkel, einen positiven Befund. Dies gilt sowohl für die Erwerbstätigen insgesamt, also für die abhängig Beschäftigten und die Selbständigen zusammen, als auch nur für die abhängig Beschäftigten. So lag 2005 insgesamt das Arbeitsvolumen der Erwerbstätigen bei 55,5 Mrd. Stunden und 2017 bei fast 60,0 Mrd. Stunden.
Also haben wir es mit einer Steigerung zu tun?
Das ist eine Steigerung um 8,1 Prozent. Nur bei den abhängig Beschäftigten lag der Zuwachs sogar bei 11,7 Prozent. Hier legte das Arbeitsvolumen von 46,2 auf 51,6 Mrd. Stunden zu. Dies sind aber nur gesamtwirtschaftliche Größen. Abweichend davon haben sich die Zahlen in den einzelnen Wirtschaftssektoren entwickelt. Den größten Zuwachs beim Arbeitsvolumen verzeichnete hier der Sektor „Unternehmensdienstleister“ mit 35,6 Prozent und den größten Rückgang der Sektor „Land- und Forstwirtschaft, Fischerei“ mit -16,7 Prozent, gefolgt vom Sektor „Finanz- und Versicherungsdienstleister“ mit -10,5 Prozent.
Aber noch etwas muss beachtet werden: Die personelle Verteilung des Arbeitsvolumens.
Damit hat die herrschende Politik aber so ihre Probleme, oder?
Darüber möchten viele Politiker nur ungern reden, denn hier zeigt sich nämlich das ganze Elend am Arbeitsmarkt. Die einen arbeiten Vollzeit und noch mehr und die anderen müssen sich mit Teilzeit und geringfügiger Beschäftigung begnügen. Zu Beginn der Kanzlerschaft Merkel lagen hier die Teilzeit-Beschäftigung bei gut 4,6 Millionen und die geringfügige Beschäftigung bei 2,4 Millionen betroffenen Menschen. Und heute sind es immer noch über 7 Millionen Menschen, die ohne eine anderweitige Versorgung von dieser nur geringen Arbeitszeit nicht leben können. Diese Menschen haben nichts und sie werden im Alter bitter arm sein. Hinzu kommt ein Anstieg an nur befristet eingestellten Beschäftigten und auch die Leiharbeit hat noch zugelegt, die wohl übelste Form von Beschäftigung. Hier verleihen Menschen andere Menschen.
In der Berichterstattung werden die positiven Zahlen im Zusammenhang mit der Arbeitslosigkeit eher als Jubelmeldung verkündet.
Was gibt es hier zu jubeln? Gar nichts! Es sei denn, man ist Anhänger des neoliberalen Mottos, „Alles ist sozial, was Arbeit schafft“. Welche, ist dabei völlig egal. Das darf aber nicht unsere gesellschaftliche Ausrichtung sein.
Nun haben wir es auch mit einem Strukturwandel in der Wirtschaft zu tun. Worum geht es dabei? Und: Wie begegnet die Merkel-Regierung dieser Veränderung?
Der Strukturwandel ergibt sich aus einer Verschiebung zum Dienstleistungssektor. Der Primärsektor, die Land- und Forstwirtschaft, hat heute nur noch eine geringfügige Bedeutung, aber auch der Sekundärsektor, die Industrie, nimmt immer mehr ab. Dies hat Konsequenzen für die menschliche Arbeit. Sie wird in vielen Bereichen des tertiären Sektors wesentlich schlechter bezahlt als im industriellen Sektor. Auch weil hier die Produktivität geringer ausfällt und die Möglichkeiten von Preissetzungen und -steigerungen nur beschränkt gegeben sind. Im Gegenteil: Hier kommt es nicht selten zu einem Preisdumping. Denken sie hier nur an die ins Haus gebrachte Pizza für 3,50 Euro. Das finden viele gut. „Geiz ist geil“.
Seit geraumer Zeit hören wir immer wieder von prekären Beschäftigungsverhältnissen.
Diese Beschäftigungsverhältnisse sind das Resultat aus Rahmenbedingungen, die ich beschrieben habe. Die Arbeitsmärkte haben sich immer stärker aufgeteilt in Vollzeit, in Teilzeit, in geringfügige und befristete Beschäftigung sowie in Leiharbeit. Arbeit ist dadurch zunehmend kommodifiziert und auch prekarisiert worden. Gute Arbeit, wie von den Gewerkschaften zu Recht gefordert, sieht jedenfalls anders aus. Von prekärer Arbeit können aber Menschen kein auch nur einigermaßen planbares Leben führen, wie die Unternehmer eine Planbarkeit für ihr eingesetztes Kapital von der Politik ständig einfordern und die Politik dem auch Genüge tut.
Was bedeutet die starke Zunahme des Niedriglohnsektors?
Schon Kanzler Schröder hat den Niedriglohnsektor gewollt und ausgebaut. Merkel hat hieran nichts geändert. Die Einkommensverteilung ist immer ungleicher geworden. Am unteren Ende der Lohnskala kam immer weniger an. Für die primäre Verteilung der Einkommen sind aber die Gewerkschaften und die Unternehmerverbände verantwortlich, und nicht die Politik. Stichwort Tarifautonomie. Nur wenn die Tarifverträge immer mehr erodieren bzw. die Tarifbindung massiv sinkt, dann haben die Gewerkschaften natürlich immer weniger Macht bei der Durchsetzung des zumindest verteilungsneutralen Spielraums, der sich bekanntermaßen aus der Produktivitäts- und der Preissteigerungsrate ergibt.
Hier wäre Merkel als Bundeskanzlerin gefragt gewesen, oder?
Merkel hätte zumindest für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst die Arbeitsentgelte erhöhen und die Arbeitszeiten verkürzen können. Hier ist sie schließlich die „Arbeitgeberin“. Und sie hat auch nicht die Gewerkschaften politisch bei der primären Verteilung von Einkommen unterstützt, indem sie Tarifverträge für allgemeinverbindlich hätte erklären und Unternehmerverbände ohne Tarifbindungen (OT) hätte rechtlich verbieten können. Auch hat Merkel nicht versucht die Verteilungsschieflage beim Bruttoeinkommen durch eine adäquate Steuer- und Abgabenpolitik zu berichtigen. So ist auch das verfügbare Einkommen nach staatlicher Umverteilung immer ungleicher verteilt worden. Hier sei noch erwähnt, dass von der ganzen Einkommensverteilung bzw. den Zuwächsen der Arbeitsentgelte die Rentenerhöhungen abhängen. Da habe ich den Eindruck, das haben viele nicht verstanden oder machen es sich zumindest nicht immer wieder bewusst.
An die Wiedereinführung einer Vermögensteuer und eine Erhöhung der Erbschaftsteuersätze hat Merkel auch keinen Gedanken verschwendet. Das gilt aber genauso, wie ich schon ausführte, für die anderen Parteien, die mitregiert haben bzw. mitregieren.
Immerhin: Die Koalition hat den Mindestlohn auf den Weg gebracht.
Das ist positiv zu werten. Nur welch eine politisch bornierte Auseinandersetzung ist dem vorgeschaltet gewesen? Dass wir hier trotz Tarifautonomie einen gesetzlichen Mindestlohn gebraucht haben, zeigt im Befund aber nur die schon erwähnte Erodierung der Tarifverträge. Man hat also mit dem Mindestlohn nur das Symptom kuriert und nicht kausal die Ursache bekämpft bzw. beseitigt. Mit 8,50 Euro je Stunde war der Mindestlohn von Anfang an zu niedrig gesetzt. Auch die jetzt beschlossenen Erhöhungen reichen nicht. Selbst der SPD-Finanzminister Scholz fordert, man ist erstaunt, 12 Euro je Stunde. Dem würde ich mich anschließen wollen. Aber bitte gleichzeitig die Ursachen für die zurzeit gegebene Notwendigkeit eines gesetzlichen Mindestlohns beseitigen und ihn damit überflüssig machen.
Was müsste eine bessere Arbeitsmarktpolitik tun?
Eine Arbeitsmarktpolitik müsste die zu Lasten der Gewerkschaften, Beschäftigten und Arbeitslosen bestehende Machtasymmetrie zu den Unternehmern und ihren Verbänden aufheben. Dazu gehört erstens eine umfassende Stärkung der Tarifverträge. Ich empfehle dazu eine Pflichtmitgliedschaft der Beschäftigten in den Gewerkschaften genauso wie eine Pflichtmitgliedschaft in den Unternehmerverbänden. Nur so läßt sich das kollektive Verhandlungsproblem des „Trittbrettfahrens“ von abhängig Beschäftigten und eine Verbandsflucht von Unternehmern auflösen. Zweitens muss eine ökonomische Verteilungsneutralität beim Einkommen in den Tarifverträgen sichergestellt werden. Die Arbeitsentgelte der Beschäftigten müssen mit der Produktivitätsrate und der Preissteigerungsrate (Inflationsrate) steigen. Die notwendige Umsetzung ist nach jedem Tarifabschluss durch eine wissenschaftliche Kommission zu überprüfen. Hier sind ökonomische Objektivitäten umzusetzen und keine Machtasymmetrien auszuleben. Verfehlungen gegen eine Verteilungsneutralität sind umgehend zu berichtigen. Drittens muss zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit die Arbeitszeit bei vollem Lohn- und Personalausgleich gekürzt werden. Dies nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund einer auf uns verstärkt zukommenden digitalisierten Arbeitswelt. Die daraus resultierende Produktivitätsdividende ist zu Gunsten der Beschäftigten umzuverteilen. Die Lohnquote muss steigen und die Mehrwertquote sinken. Und viertens ist ein Ausbau der unternehmensbezogenen und betrieblichen Mitbestimmung in Richtung einer uneingeschränkten Parität zwischen Arbeit und Kapital dringend geboten. Das einseitige Sagen der Kapitaleigner in den Unternehmen muss ein Ende haben. Zu einem demokratisierten Unternehmen gehört aber noch mehr: Nämlich die gleichberechtigte Mitbestimmung des dritten Produktionsfaktors, der Umwelt, in den unternehmerischen Aufsichtsorganen. Bei „wichtigen Großunternehmen“, wie es einmal (1968) in einem Gesetzentwurf der SPD-Fraktion im Bundestag stand, sollten außerdem „Vertreter des Interesses der Allgemeinheit“ mit Sitz und Stimme im Aufsichtsrat vertreten sein.