Das tödlichste Artefakt – Gedanken zu Robert Proctors Buch über die Zigarettenkatastrophe

Klaus-Dieter Kolenda
Ein Artikel von Klaus-Dieter Kolenda

Bei meiner Literatur-Recherche zu einem aktuellen Artikel über die Gesundheitsschäden des Tabakrauchens [1][2] bin ich auf das Buch des US-amerikanischen Wissenschaftshistorikers Robert N. Proctor mit dem Titel „Golden Holocaust“ gestoßen [3]. Der Untertitel des 2011 erschienenen Buches lautet „Origins of the cigarette catastrophe and the case of abolition“, was soviel bedeutet wie „Die Ursprünge der Zigarettenkatastrophe und ein Plädoyer für die Abschaffung der Zigaretten“. Das Buch umfasst insgesamt 737 Seiten mit 35 illustrativen Abbildungen und vielen instruktiven Tabellen einschließlich eines umfangreichen Anmerkungsapparates mit einem detaillierten Personen- und Sachregister. Von Klaus-Dieter Kolenda.

„Golden Holocaust“ wurde ins Französische und Polnische übersetzt, aber leider nicht ins Deutsche, was den relativ geringen Bekanntheitsgrad dieses wichtigen Buches im deutschsprachigen Raum zum Teil erklärt. Bisher sind auch nur wenige Rezensionen auf Deutsch im Internet erschienen. Dazu gehört die sehr informative und auch kritische Buchbesprechung des Wirtschaftshistorikers Christopher Neumaier aus dem Jahre 2012 [4], die mich zur Lektüre von Proctors Buch animiert hat und auf die ich mich in einigen Abschnitten meines Artikels beziehen werde. Eine weitere lesenswerte Rezension ist ebenfalls 2012 in der Berner Zeitung erschienen [5]. Für die Mühen der Lektüre des „Buch-Ziegels“ [5] von Proctor wurde ich mit vielen neuen Erkenntnissen, insbesondere über die empörenden kriminellen Machenschaften der US-amerikanischen und britischen Tabakkonzerne, belohnt.

Proctor beschreibt in seinem Buch die Zigarette als „deadliest artifact in the history of human civilization“ („tödlichstes Artefakt in der Geschichte der menschlichen Zivilisation“) und gibt an, dass den Zigaretten im 20. Jahrhundert weltweit etwa 100 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind. Derzeit wird die Zahl der jährlichen Todesopfer durch Tabakrauchen auf 7 Millionen pro Jahr geschätzt, wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am Weltnichtrauchertag 2017 bekannt gab [6]. In der Europäischen Union sterben nach Angaben der EU-Kommission derzeit jährlich etwa 700.000 Menschen vorzeitig an den Folgen des Rauchens. Allein in Deutschland fielen dem Tabak 2013 circa 121.000 Personen zum Opfer [7].

Aus meiner Sicht als Arzt und Rehabilitationsmediziner sei Folgendes ergänzt: Unter den zehn wichtigsten Risikofaktoren für die Krankheitslast und vorzeitige Todesfälle steht in den Ländern mit hohem Einkommen (ein Begriff der UNO), den sogenannten reichen Ländern, der Tabakkonsum vor Bluthochdruck, ernährungsabhängigen Risikofaktoren sowie körperlicher Inaktivität und Alkoholmissbrauch an erster Stelle [1][2].

Zu berücksichtigen ist, dass es auch beim Tabakrauchen einen „sozialen Gradienten“ gibt, das heißt, bei den Angehörigen der unteren Einkommensschichten ist das Rauchen zwei- bis dreimal häufiger als bei denen der oberen. Diese Unterschiede dürften neben zum Beispiel chronischen Stressbelastungen einer der wichtigsten Gründe dafür sein, dass in Deutschland die durchschnittliche Lebenserwartung der Armen etwa zehn Jahre niedriger ist als die der Wohlhabenden [1].

Weiterhin hat die große britische Ärztestudie ergeben, dass fast 50 Prozent aller Raucher im mittleren Alter, das heißt zwischen dem 35. und dem 69. Lebensjahr, an einer durch das Rauchen hervorgerufenen Krankheit versterben und dabei durchschnittlich 22 Lebensjahre verlieren. Auf alle Raucher bezogen bedeutet das Rauchen einen Verlust von 10 Lebensjahren [1][8].

Im vorliegenden Artikel sollen die wichtigsten Inhalte von Proctors Buch über Ausmaß und Hintergründe der Zigarettenkatastrophe dargestellt werden. Proctor macht im letzten Kapitel seines Buches eine Reihe gut begründeter Vorschläge für die Eindämmung und Beendigung des Tabakrauchens. Darauf soll in Teil 2 dieses Artikels eingegangen werden, wobei auch die derzeit praktizierte Tabakkontrollpolitik in der EU und deren bisherige Ergebnisse diskutiert werden.

Übersicht über den Inhalt

Große Teile der Inhaltsübersicht habe ich (in gekürzter Form) der überzeugenden Darstellung von Neumaier entnommen [4].

Das Rauchen wird in der Zigarettenwerbung als „inalienable right of all free people“ („unveräußerliches Recht aller freien Menschen“) (S. 5) dargestellt. Proctor hält dem entgegen: Inwiefern kann es sich beim Rauchen um eine freie Willensentscheidung handeln, wenn Raucher zur Zigarette greifen, weil sie von den Tabakkonzernen gezielt nikotinabhängig gemacht worden sind?

Hier zeigt sich bereits das von Proctor identifizierte Leitmotiv der Tabakindustrie: Täuschung oder bewusste und zielgerichtete Manipulation von Fakten und Konsumenten. Dieses Motiv greift Proctor in seiner Darstellung immer wieder auf und widerlegt gekonnt die Strategien der Tabakindustrie.

Insbesondere im Gefolge der in den 1990-er und Anfang der 2000-er Jahre in den USA stattgefundenen Tabakprozesse sind derzeit viele Millionen ursprünglich geheimer Dokumente der Tabakindustrie im Internet zugänglich (S. 15 und 16). Diese Dokumente zeigen sehr deutlich – soweit sie bis heute ausgewertet werden konnten – dass die Tabakkonzerne nicht nur über die Schädlichkeit des Tabakkonsums und des Passivrauchens, sondern ebenso über die Suchtgefahr des Nikotins schon lange Zeit Bescheid wussten und die Nikotinabhängigkeit über Jahrzehnte systematisch manipuliert haben.

Proctor hat sein Buch sehr übersichtlich in vier Teile gegliedert. Im ersten Teil stellt er die Gründe für den Erfolg der Zigarette dar. Ein Grund ist die Erfindung der Heißlufttrocknung, die den Tabak milder gemacht und damit überhaupt erst die Inhalation des Tabakrauchs ermöglicht habe. Mit der Verbreitung von Streichhölzern können Zigaretten an jedem Ort und zu jeder Zeit angezündet werden. Die Massenproduktion (siehe unten) hat die Herstellung der Zigaretten enorm verbilligt und somit neue Käufergruppen erschlossen, sodass mit Zigaretten hohe Profite zu erzielen sind.

Die moderne Werbung in Printmedien, Radio und Fernsehen sowie die gezielte Produktplatzierung von Zigaretten in Filmen und das Sponsoring von Sport- und Kulturveranstaltungen hat ein positives Image des Rauchens erzeugt. In diesem Zusammenhang wendet sich Proctor gegen die Vorstellung, dass früher wesentlich mehr geraucht wurde, weil in alten Filmen die Protagonisten ständig Zigaretten rauchen. Der Autor belegt dagegen, dass die Filmstudios und ihre Stars lukrative Verträge mit den Tabakkonzernen abgeschlossen hatten und deswegen häufig zur Zigarette gegriffen wurde.

Ein weiterer wichtiger Grund für den Erfolg der Zigarette war der Krieg. In dem Kapitel „War likes tobacco, tobacco likes war“ („Krieg liebt Tabak und Tabak liebt Krieg“) (S. 44 ff.) führt er aus, dass im Ersten und Zweiten Weltkrieg Zigaretten zur „Nahrungsmittelration“ der Soldaten gehört haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren sie wichtiger Bestandteil des Marshall-Plans.

Weiterhin geht er ausführlich auf die Manipulationen der Tabakindustrie ein. Er betont, dass die chemische Zusammensetzung von Tabak gezielt geändert wurde, um sowohl die Wirkstärke als auch die Suchtgefahr der Zigarette zu erhöhen. Das Verhältnis von Teer zu Nikotin im Tabak wurde zum Beispiel gezielt festgelegt: Die Höhe des Nikotingehalts muss gewährleisten, dass Raucher nikotinsüchtig werden, und der Teeranteil muss so eingestellt werden, dass der bittere Geschmack des Nikotins verdeckt wird. Insofern ist Tabak kein natürliches Erzeugnis, sondern ein im Labor entworfenes und industriell gefertigtes Produkt, das heißt ein Artefakt.

Im zweiten Teil beschäftigt er sich mit der Frage, wann wissenschaftlich fundierte Beweise für die vom Rauchen ausgehenden Krebsgefahren vorgelegen haben. Der dritte Teil schließt daran an und zeigt, wie die Industrie die Gesundheitsrisiken verschleiert hat und welche Rolle dabei technische Neuerungen wie die Filter- und die Light-Zigaretten spielten.

Proctor hat als Experte in vielen Tabakprozessen als Sachverständiger gegen die Tabakindustrie ausgesagt. In Gerichtsverhandlungen gegen die Tabakkonzerne geht es vor allem um die Frage, was wer seit wann über die Krebsrisiken des Rauchens wusste. Denn während außer dem Tabakkonsum noch viele andere Ursachen Herz-Kreislauferkrankungen auslösen können, ist der Zusammenhang zwischen Rauchen und zum Beispiel Lungenkrebs und bestimmten weiteren Krebserkrankungen relativ leicht nachweisbar. Nur bei dieser Frage bestand die Chance, dass die Schuld der Tabakindustrie zweifelsfrei festgestellt werden konnte.

Um einer Verurteilung zu entgehen, verfolgten die Tabakkonzerne eine Verteidigungsstrategie, die klar zwischen öffentlichem und wissenschaftlichem Wissen unterschied: Sie verkündeten, die Öffentlichkeit sei angeblich stets über die Risiken informiert gewesen und jeder Raucher habe damit das Risiko einer Krebserkrankung selbst in Kauf genommen; der wissenschaftliche Beweis für das Krebsrisiko hingegen sei erst in den letzten Jahren erbracht worden.

Proctor belegt das Gegenteil. Erst seit den 1970-er Jahren sei sich die Öffentlichkeit der Krebsrisiken allmählich bewusst geworden, habe diese jedoch noch immer erheblich unterschätzt. Industrienahe Studien wiederum hätten bereits im Jahr 1953 Tabakrauch eindeutig als Auslöser für Lungenkrebs identifiziert. Unabhängigen Forschern ist dies übrigens schon in den 1930-er Jahren gelungen (siehe unten).

Daraufhin haben die Chefs der US-Tabakkonzerne im Dezember 1953 die Strategie des „fighting science with science, creating doubt, fostering ignorance“ („bekämpfe Wissenschaft mit Wissenschaft, rufe Zweifel hervor und fördere Unwissenheit“) (S. 3) beschlossen. In den darauffolgenden Auseinandersetzungen unterstellten industrienahe Studien den Wissenschaftlern von unabhängigen Forschungseinrichtungen in der Regel, dass sie „unwissenschaftlich“ arbeiten würden und ihre Ergebnisse damit ungültig seien.

Das Design der Zigarette wurde ebenfalls manipuliert. Zwei Aspekte sind hier von besonderer Bedeutung gewesen: Die Illusion einer „sicheren“ oder „gesunden“ Zigarette sollte die verunsicherten Konsumenten beruhigen. Weiterhin wurde die chemische Zusammensetzung der Zigaretten verändert, um die Suchtgefahr zu erhöhen. In diesem Zusammenhang kommt dem Zigarettenfilter eine Schlüsselfunktion zu. Er filtere den Rauch und mache ihn somit „sauberer“, lauteten die Werbeversprechen. Dieses Argument hat maßgeblich dazu beigetragen, dass um 1960 Filterzigaretten die Hälfte des Marktes eroberten und ihre Dominanz in den folgenden Jahren weiter zunahm.

Proctor schreibt, dass sich die Industrie jedoch bewusst gewesen sei, dass ein Filter nicht primär die ihm zugeschriebene Funktion erfüllen kann. Vielmehr sind drei andere Faktoren ausschlaggebend für die Entscheidung der Tabakkonzerne gewesen, die Zigaretten mit Filtern auszustatten – ein finanzieller, ein praktischer und ein illusorischer: Der Filter senkte die Herstellungskosten, da weniger Tabakmischung für eine Zigarette benötigt wird. Raucher bissen außerdem nicht mehr auf störende Tabakteilchen. Und die Filter beruhigten die verunsicherten Raucher, da sie zumindest die Illusion der „sicheren“ Zigarette verbreiteten. Proctor hat Zigarettenfilter deswegen als „design fraud“ („Designbetrug“) (S. 365) beurteilt und hat ebenso noch weitere Produktneuerungen wie Menthol- und Light-Zigaretten, die dasselbe Ziel verfolgten, als Betrug entlarvt.

Abgerundet wird die Studie durch einen vierten Teil. Hier befasst sich der Autor zunächst mit den giftigen Stoffen, die den Zigaretten beigemengt sind: Pestizide, Arsen und radioaktives Polonium (siehe unten).

Buchtitel nur Provokation?

Ein Kritikpunkt in der Rezension von Neumaier ist, dass für ihn ein weniger problematischer Titel wünschenswert gewesen wäre [4]. Proctor, ein renommierter Wissenschaftshistoriker der Stanford University in Kalifornien, der sich mit seinen Büchern zur Rassenhygiene und zur Krebsforschung im Nationalsozialismus einen Namen gemacht hat [9][10], ist sich dieser Problematik wohl bewusst, wie er auch auf eine Anfrage hin klargestellt hat [5].

Im Vorwort seines Buches schreibt Proctor über seine Titelwahl (S. 11 und 12): „I use the term Holocaust with caution, primarily to draw attention to the magnitude of the tobacco catastrophe“ („Ich gebrauche das Wort Holocaust mit Bedacht, vor allem wegen des Ausmaßes der Tabakkatastrophe“). Weiter heißt es an dieser Stelle (Übersetzung durch mich): „Offensichtlich gibt es bedeutende Unterschiede zwischen der Ermordung von 6 Millionen Juden durch die Nazis und dem Leiden der Raucher. Dennoch stehen wir in beiden Fällen vor einem Unglück von epischen Ausmaßen, das viele nicht sehen wollen und zu viele, ohne einzugreifen, geschehen lassen. Es herrscht Apathie.“

Dieser weit verbreiteten Apathie gegenüber der Zigarettenkatastrophe wollte Proctor mit seinem Buch mit der besagten Titelwahl und ebenso wohl auch mit dem Bild auf dem Umschlag des Buches (Schädel eines Skeletts mit brennender Zigarette, gemalt von Vincent van Gogh im Jahre 1885/1886) entgegenwirken und für eine möglichst große Aufmerksamkeit bei seiner potentiellen Leserschaft sorgen (Abbildung 1).

Weiterhin führt er an, dass vor ihm schon andere Wissenschaftler den tödlichen Tribut, den das Tabakrauchen fordert, in ihren Publikationen in anerkannten wissenschaftlichen Zeitschriften als „tobaccoism holocaust“ oder „Tobacco Holocaust“ bezeichnet haben. Er erinnert daran, dass der Begriff „Holocaust“ auch „eine Massenvernichtung von Menschen“ bedeutet. Das Wort „Holocaust“ leitet sich von einem griechischen Adjektiv ab, das mit „vollständig verbrannt“ zu übersetzen ist und ein vollständig auf Altären verbranntes Tieropfer meint. Die weltweit Jahr für Jahr zu verzeichnenden Millionen von Tabaktoten vergleicht Proctor mit einem derartigen „Brandopfer“, das er als ein Verbrechen gegen die Menschheit bezeichnet und das nur geschehen kann auf Grund von gesetzeswidrigem Verhalten der Tabakkonzerne.

Proctors oben angeführte Feststellung, Zigaretten seien eine bedeutendere Ursache für den weltweiten Tod als Geschosse, kann auch als eine Provokation aufgefasst werden. Diese Aussage soll ebenfalls die Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, dass weltweit Tag für Tag eine Massenvernichtung menschlichen Lebens durch das Rauchen von Tabakzigaretten geschieht, die auf Grund des Einflusses der Tabakindustrie auf die Medien hinsichtlich Art und Umfang kaum zur Kenntnis genommen wird. Wenn man sich aber die oben genannten Zahlen der Todesopfer durch Tabakrauchen vor Augen führt und diese zum Beispiel mit der Zahl der Todesopfer der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert vergleicht, so lässt sich mit gutem Grund argumentieren, dass die Tabakindustrie der Industriezweig ist, der mit seinen Produkten (vor allem mit Zigaretten) wahrscheinlich direkt nach der Rüstungsindustrie weltweit die meisten Todesopfer hervorruft [1].

Massenproduktion von Zigaretten

Proctor führt aus, dass ein wesentlicher Grund für die massenhafte Verbreitung des Zigarettenrauchens nach dem 2. Weltkrieg die verbilligte Massenproduktion von Zigaretten gewesen ist. In einer der vielen Tabellen seines Buches hat er dargestellt, wie sich diese während der letzten 120 Jahre entwickelt hat (S. 40).

Während in den Anfangsjahren der Zigarettenherstellung in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts per Handarbeit etwa 1 Zigarette pro Minute gedreht werden konnte und es um 1900 schon Zigarettenmaschinen gab, die 600 Zigaretten pro Minute herstellten, sind heute moderne Zigarettenmaschinen wie die Hauni PROTOS-M8 in der Lage, 20.000 Filterzigaretten pro Minute (!) zu produzieren. Das Stammwerk dieser Maschinen, die Hauni Maschinenbau GmbH, hat übrigens ihren Sitz in Hamburg-Bergedorf.

Zigarettenmaschinen dieser Bauart sind bei den Tabakkonzernen auf der ganzen Welt im Einsatz. Diese Maschinen schaffen die Voraussetzung dafür, dass die etwa 6 Billionen (das ist eine 6 mit 12 Nullen) Zigaretten, die weltweit jedes Jahr mit den bekannten schrecklichen Krankheitsfolgen geraucht werden, extrem billig und extrem profiträchtig herzustellen sind.

Dazu sei ein von Proctor zitierter Kommentar des für zynische Statements bekannten Milliardärs Warren Buffett angeführt, den er bei der finanziellen Übernahme des Zigarettenkonzern R. J. Reynolds abgegeben hat (S. 42): „I tell you why I like the cigarette business. It costs a penny to make. Sell it for a dollar. It`s addictive“ („Ich will Dir sagen, warum ich das Geschäft mit Zigaretten so liebe. Die Herstellung der Zigarette kostet einen Penny und der Verkauf bringt einen Dollar. Und sie macht süchtig“).

Rauchen und Umwelt

Es gibt gute Argumente dafür, dass nicht nur der Tabakkonsum schwere Erkrankungen und damit einhergehende soziale und ökonomische Probleme für die Gesellschaft verursacht. Auch der Tabakanbau ist mit Risiken verbunden, die Gesundheit und soziale Strukturen, aber in besonderem Maße auch die Umwelt schädigen [11]. Dazu gehören vernichtete Wälder, verseuchte Böden, vergiftete Gewässer und erkrankte Arbeiter auf den Tabakplantagen, ja sogar Kinderarbeit, Hunger und Armut. Die Tabakkonzerne sind aber nicht allein für Weltarmut, Klimaerwärmung und Umweltverschmutzung verantwortlich, wie Neumaier in seiner Rezension zu Recht anmerkt [4]. Sie tragen aber sicher wesentlich mit dazu bei. So verstehe ich auch die entsprechenden Passagen in Proctors Buch (S. 516 ff).

Proctor weist hier auch darauf hin, dass Zigaretten (in Form von weggeworfenen, noch brennenden Kippen) eine wesentliche Ursache für den Ausbruch von Feuern, Waldbrände eingeschlossen, sind und auch zum Ausbruch von industriellen Katastrophen beitragen. So wurde der bisher größte Industrieunfall der USA, die 1947 erfolgte Explosion von 2.600 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen von Texas City, Texas, mit 600 Toten durch Rauchen verursacht.

Giftstoffe im Tabakrauch

Im Kapiteln 25 (S. 489 ff.) nennt Proctor einige der Giftstoffe, die in den Zigaretten enthalten sind. Es handelt sich um Pestizide, Arsen und das radioaktive Polonium, aber auch um Blei und Maleinsäurehydrazid, ein problematisches Unkrautvernichtungsmittel. Dazu kommen eine Fülle von Duft- und Geschmacksstoffen und viele weitere Zusatzstoffe. Damit der Rauch (einschließlich der Gifte) leichter in die Bronchien gelangt, werden weitere Substanzen wie Menthol und Arzneimittel wie Bronchodilatatoren zur Erweiterung der Bronchien dem Zigarettentabak beigemischt.

Proctor schreibt, nur die wenigsten Zeitgenossen würden wissen, dass in den Zigaretten ebenfalls ein tödliches radioaktives Isotop, das schon genannte Polonium 210, enthalten ist, sodass Raucher einer ständigen krebserregenden Bestrahlung durch einen Alpha-Strahler ausgesetzt sind. Dieses Radioisotop gehört zu den stärksten Emissionsquellen von Alpha-Strahlung. Das ist die bei weitem tödlichste Form von Strahlung, die man einatmen kann. Der Autor erläutert diese Tatsachen ausführlich im Kapitel 26 (S. 506 ff.) und spricht von der „Three Mile Marlboro“ in Anspielung auf den Reaktorunfall im US-amerikanischen Kernkraftwerk „Three Mile Island“ im Jahre 1979, bei dem zum ersten Mal der Austritt größerer Mengen an Radioaktivität in die Umgebung erfolgt ist.

Besonders irritierend ist, dass sich in den ehemals geheimen und jetzt im Internet zugänglichen Dokumenten der Tabakindustrie seit den 1950-er Jahren Berichte über radioaktive Gefahren im Tabakrauch finden. Als 1964 von unabhängigen Forschern zum ersten Mal detaillierte Messungen von Polonium im Tabakrauch veröffentlicht wurden, begannen die Forscher der Tabakindustrie geheime Untersuchungen, um herauszufinden, wie viel Polonium 210 im Tabak vorhanden ist und ob uranhaltige Düngemittel eventuell dafür verantwortlich sind.

Wissenschaftler haben lange darüber gestritten, ob Radioaktivität im Zigarettenrauch von radioaktivem Niederschlag kommt, der auf die klebrigen Blätter fällt, oder ob sie von den Pflanzen aus der Radioaktivität des Bodens aufgenommen wird. Offenbar stimmt letzteres: Die Pflanzen nehmen mit ihren Wurzeln Zerfallsstoffe von Uran auf. Das ist zunächst radioaktives Blei, das sich dann zu Polonium 210 zersetzt, dem wichtigsten strahlenden Isotop im Zigarettenrauch.

In den geheimen Archiven sind darüber hinaus hunderte Untersuchungsberichte über Polonium zu finden, die nie veröffentlicht wurden. So beschäftigen sich Dokumente mit der Frage, ob Spezialfilter Polonium eliminieren können. Das waren frustrierende Untersuchungen, wie Proctor in einem Interview berichtet, das am 17. 5. 2010 kurz vor Erscheinen seines Buches in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurde [12].

Die Gesundheitsschäden des Rauchens werden bekanntlich durch die eingeatmeten Tabakabbrandprodukte verursacht. Der Tabakrauch ist ein komplexes Gemisch aus über 5.300 Substanzen, darunter zahlreiche giftige und krebserregende Stoffe [1][2][7]. Dazu gehören die schon genannten Giftstoffe, aber auch Schadstoffe wie polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe, zum Beispiel Naphthalin, Nitrosamine und aromatische Amine, organische Verbindungen wie zum Beispiel Phenylchlorid, Acetaldehyd, Formaldehyd und Benzol, weiterhin Kohlenmonoxyd und das Alkaloid Nikotin, das nach Proctor bei etwa 80 bis 90 Prozent der Raucher zur Entwicklung einer Abhängigkeit beziehungsweise Sucht führt. Außerdem entstehen beim Abbrand der bis zu 600 Zusatzstoffe, die etwa 10 Prozent des Gewichts der Zigarette ausmachen, zusätzlich dutzende von krebserregenden Verbrennungsprodukten sowie Kohlendioxid, Stickoxide und Schwefeldioxid.

Rauchen und Krebserkrankungen

Besonders aufschlussreich ist eine Tabelle in Proctors Buch, die im Langzeitverlauf von 1900 bis 2010 den Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Todesfällen durch Lungenkrebs und dem Zigarettenkonsum in den USA aufzeigt (S. 57). In dieser Tabelle ist die Zahl der tödlichen Lungenkrebsfälle in diesem Zeitenverlauf in Abhängigkeit von der Zahl der gerauchten Zigaretten pro erwachsener Person und Jahr dargestellt.

Während im Jahr 1900 durchschnittlich 54 Zigaretten pro Person und Jahr geraucht wurden und die Zahl der diagnostizierten Todesfälle durch Lungenkrebs extrem niedrig war, stieg die Zahl der gerauchten Zigaretten von Jahr zu Jahr weiter an, erreichte in den 1960-er bis 1980-er Jahren mit etwa 4.000 Zigaretten pro Person und Jahr ein Maximum, ging dann langsam zurück und lag 2010 bei 1.500 Zigaretten. Die Zahl der Todesfälle durch Lungenkrebs stieg parallel dazu seit 1900 ebenfalls kontinuierlich an, erreichte 1995 – etwa 20 bis 30 Jahre nach dem Maximum des Zigarettenkonsums – mit 161.815 Todesfällen ebenfalls ein Maximum und ging dann bis 2010 auf 157.300 Fälle zurück.

Aus dieser Tabelle ist abzuleiten, dass ein zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Zigarettenkonsum und dem Auftreten von tödlichem Lungenkrebs besteht. Das gilt nicht nur für den Anstieg, sondern auch für den Rückgang der Lungenkrebsfälle und des Zigarettenkonsums. In diesem Zeitenverlauf kommt zum Ausdruck, dass die Entwicklung eines tödlichen Lungenkrebses bei Rauchern ein Prozess ist, der in der Regel 20 bis 30 Jahre in Anspruch nimmt und deshalb mit einer entsprechenden Zeitverzögerung auftritt. Weiterhin zeigt die Tabelle, dass der Höhepunkt des Rauchens („peak tobacco“) in den USA in den 1980-er Jahren überschritten wurde. Das gilt wahrscheinlich auch für eine Reihe von Industriestaaten in Westeuropa, aber sicher nicht für China und Indien, wie Proctor im Kapitel 29 (S. 539 ff.) unter der Überschrift „Globalizing Death“ („Globalisierung des Todes“) eindringlich darstellt.

Betroffen macht auch eine Tabelle (S. 124), die 27 Jazz-Größen aufführt, die in der Zeit von 1951 bis 2009 am Lungenkrebs verstorben sind, darunter auch Duke Ellington. Beliebte Jazz-Festivals wurden von den Tabakkonzernen gerne gesponsert und als Vehikel für den Absatz von Zigaretten benutzt. In der Folge gehörten Zigaretten und Jazzmusik zusammen. Die Musiker spielten über viele Jahrzehnte in verräucherten Clubs und zogen sich dabei schwere gesundheitliche Schäden zu, die ihr Leben verkürzt haben.

Erwähnt sei noch, dass ich mich beim Studium von Proctors Werk darüber gefreut habe, dass Fritz Lickint in mehreren Textstellen und im Anmerkungsapparat aufgeführt und als derjenige Wissenschaftler gewürdigt wird, der schon Anfang der 1930-er Jahre als Erster den Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs und weiteren Krebserkrankungen erkannt und darüber publiziert hat [13][14].

Lickint hatte schon 1935 auf der Grundlage seiner Forschungen herausgefunden, dass wahrscheinlich nicht das Nikotin, sondern das im Teer enthaltene Benzpyren das krebsverursachende Agens ist (S. 340). Proctor verweist in diesem Zusammenhang auch auf das monumentale 1.200 Seiten umfassende Werk von Lickint mit dem Titel „Tabak und Organismus. Handbuch der gesamten Tabakkunde“ aus dem Jahre 1939 (S. 161). Von Seiten der industrieabhängigen, aber auch der industrieunabhängigen amerikanischen und britischen Tabakforschung wurden diese Tatsachen bisher fast immer ignoriert.

In Erinnerung an diesen deutschen Pionier der Tabakforschung hat die Deutsche Gesellschaft für Nikotin- und Tabakforschung e. V. (DGNTF) die Fritz-Lickent-Medaille geschaffen. Diese wurde bisher an fünf verdiente Persönlichkeiten mit langjährigem Engagement im Bereich von Rauchen und Gesundheit verliehen (siehe dazu unter [15]).

Zum Autor: Klaus-Dieter Kolenda, Jahrgang 1941, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin und Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Artikel und eine Reihe von Fach- und Sachbüchern über die Prävention chronischer Krankheiten verfasst und arbeitet im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Nikotin- und Tabakforschung e. V. (DGNTF) mit. In der letzten Zeit hat er auch über medizinische, sozialmedizinische und sozialpolitische Themen in verschiedenen Websites und Online-Medien geschrieben.

Autor: Prof. Dr. med. Klaus-Dieter Kolenda, Kronshagen
E-Mail: [email protected]


[«1] Kolenda KD. Hauptsache nikotinabhängig. Über die Gesundheitsgefahren des Tabakrauchens und des Gebrauchs von E-Inhalationsprodukten und Tabakerhitzern

[«2] Kolenda KD. Über die Gesundheitsschäden des Tabakrauchens und das Gefährdungspotential von E-Inhalationsprodukten und Tabakerhitzern. Internistische praxis (im Druck)

[«3] Proctor RN. Golden Holocaust. Origins of the cigarette catastrophe and the case for abolition. University of California Press, Berkeley – Los Angeles- London 2011

[«4] Neumaier C. Rezension zu: Proctor, Robert N.: Golden Holocaust. Origins of the Cigarette Catastrophe and the Case for Abolition. Berkeley, CA 2011, in: H-Soz-Kult, 28.03.2013 (abgerufen am 29.10.2018)

[«5] Hochadel O. Die tödlichste Erfindung aller Zeiten. Berner Zeitung vom 17.3.2012

[«6] Rauchen-Millionen-Tote-Milliardenkosten-und-Umweltfolgen

[«7] Tabakatlas Deutschland 2015. Herausgegeben vom Deutschen Krebsforschungszentrum Heidelberg, 1. Auflage 2015

[«8] Doll R, et al. Mortality in relation to smoking: 50 years observation on male British doctors. BMJ 2004; 328: 1519-1528

[«9] Wikipedia: Robert N. Proctor

[«10] Proctor RN, Bröhm A. Blitzkrieg gegen den Krebs: Gesundheit und Propaganda im Dritten Reich. Klett-Cotta 2002

[«11] Deutsches Krebsforschungszentrum, Heidelberg (Hrsg.): Umweltrisiko Tabak- von der Pflanze zur Kippe. Heidelberg, 2009

[«12] SZ: Müll in der Kippe

[«13] Haustein KO. Fritz Lickint (1898-1960) – Ein Leben als Aufklärer über die Gefahren des Tabaks. Suchtmed 2004; 6 (3): 249- 255; Quelle (pdf)

[«14] Wikipedia: Fritz Lickint

[«15] Fritz-Lickint-Medaille