Die Toten von Gaza könnten das Ende der Netanjahu-Ära einläuten
In den letzten Tagen erlebten Gaza und der Süden Israels den massivsten Schlagabtausch seit Ende des letzten großen Krieges 2014. Israelische Kampfjets und militante Gruppen im Gazastreifen feuerten Hunderte Raketen ab, mehr als ein Dutzend Menschen wurden getötet, viele mehr verletzt. Die jüngste Welle der Gewalt löste in Israel eine Regierungskrise aus, die final das Ende der Netanjahu-Ära einleiten könnte. Von Jakob Reimann[*].
Die Gewalt beginnt
Entgegen dem Eindruck, der nach Lektüre von Spiegel, Tagesschau & Co. aufkommen könnte, war der Auslöser für die Tage der Gewalt eine vollkommen aus dem Ruder gelaufene Geheimaktion der Israelis, der ersten dokumentierten Bodenoffensive seit dem letzten großen Krieg gegen Gaza 2014. Israelische Special Forces infiltrierten den Gazastreifen am späten Sonntagabend in einem Zivilfahrzeug nahe Khan Younis im Süden der Mittelmeerenklave. Am Ende der Aktion waren acht Menschen tot – sieben Palästinenser starben, darunter der Hamas-Kommandeur Nour Baraka, sieben weitere wurden verletzt. Auch wurde ein israelischer Offizier getötet und ein weiterer verletzt.
Nachdem Hamas-Kommandeur Baraka den israelischen Wagen stoppte, wurde er mit schallgedämpfter Waffe erschossen, woraufhin umherstehende Hamas-Kämpfer das Feuer eröffneten, eine Schießerei entbrannte und die israelischen Kräfte schließlich zu einem Olivenhain Richtung Grenzzaun flohen und dort von einem Helikopter ausgeflogen wurden. Auf ihrem Rückzug erhielt das Kommando Feuerschutz von israelischen Kampfjets, die „mehr als 40 Raketen abfeuerten“, so Augenzeugen gegenüber Reuters.
Während die Hamas von einem „feigen, israelischen Anschlag“ sprach, bestritt das israelische Militär via Twitter, dass es sich um ein Exekutionskommando gehandelt habe, sondern „der Stärkung von Israels Sicherheit“ dienen sollte. Israelischen Medien zufolge ging es um die Beschaffung von Geheimdienstinformationen. „Wir haben andere Möglichkeiten, Menschen hinzurichten,“ erklärt Tal Russo, israelischer Generalmajor a.D., auf Channel 10, „und wir wissen, wie es viel eleganter geht“.
Die Gewalt eskaliert
Was auch immer die Intention der Special Forces war, Fakt ist, dass die Aktion im blanken Chaos endete. Als Reaktion für diese Missachtung des gültigen Waffenstillstands feuerten militante Gruppen aus Gaza 460 Raketen und Mörsergranaten nach Israel, von denen über 100 vom israelischen Raketenabwehrschirm Iron Dome abgefangen wurden und ein Großteil der restlichen auf Freiflächen einschlug, so die Angaben des israelischen Militärs. Dutzende Geschosse landeten jedoch in israelischen Städten und Dörfern, verletzten rund 70 Menschen und richteten erhebliche Sachschäden an.
Eine dieser Raketen schlug in ein überwiegend von Arbeitern aus Russland, Äthiopien und Marokko – Juden und Araber gleichermaßen – bewohntes Haus in Ashkelon ein und tötete einen Mann, das einzige zivile Todesopfer in Israel. Der 48-jährige Mann, dessen frisch verheiratete Frau schwer verletzt aus den Trümmern gerettet werden konnte, heißt Mahmoud Abu Asaba und stammt ursprünglich aus einem Dorf nahe Hebron im Westjordanland, ist also ein von Palästinensern getöteter Palästinenser – ein Umstand, der in seinem Zynismus die gesamte Absurdität und Sinnlosigkeit des Raketenbeschusses aus Gaza widerspiegelt, den ich an dieser Stelle mit allem Nachdruck verurteile.
Am Montag feuerten Hamas-Kämpfer eine Kornet-Panzerabwehrrakete aus russischer Herstellung – die vermutlich über die libanesische Hisbollah nach Gaza geschmuggelt wurde – auf einen Bus, in dem sich kurz zuvor noch 50 israelische Soldaten befanden und verletzten dabei einen Soldaten. Die Hamas veröffentlichte ein Video des Anschlags, das vermuten lässt, dass die Angreifer warteten, bis der Bus leer war. Hätten sie dies nicht getan – und hätten dafür die 50 Soldaten getötet – würden wir uns in dieser Sekunde ohne Zweifel in einem ausgewachsenen Krieg befinden.
Israel erwiderte den Raketenhagel aus Gaza mit Raketenhagel auf Gaza und bombardierte dabei insgesamt 160 Ziele, darunter militärische Einrichtungen wie Waffenlager oder Gebäude des Hamas-Geheimdiensts. Jedoch griff die israelische Luftwaffe auch Wohnhäuser in dicht besiedelten Arealen an, einen Kindergarten sowie ein Hotel. Ein Bürogebäude der Hamas, in dem sich der Al Aqsa Radio- und TV-Sender befand, wurde vollständig zerstört – Erinnerungen an die Bombardierung des TV-Senders in Belgrad durch NATO-Jets 1999 kommen auf. BILDs Ressortleiter Politik Julian Röpcke ergötzte sich an der Zerstörung des Pressehauses – zweifelsohne ein Kriegsverbrechen –, da nun „ein schöner neuer Parkplatz entstanden“ sei. Insgesamt starben sieben Palästinenser bei den Bombardements, 15 weitere wurden verletzt.
Am Dienstag wurde schließlich ein von Ägypten mediierter Waffenstillstand implementiert – der nur einen Tag später gebrochen wurde, als israelische Truppen den 20-jährigen Fischer Nawaf Al-Aatar in Nord-Gaza töteten.
Netanjahus Koalition zerfleischt sich
Bis auf „kleinere, vereint jüdisch-arabische Demonstrationen in Tel Aviv, Jerusalem und Haifa gegen die Angriffe auf Gaza“, so berichten mir Kontakte aus Israel, hatte die Gewalt der letzten Tage keinen Einfluss auf den Alltag in den Metropolen Israels. „Es ist traurig zu sagen, doch das Leben hier ging seinen ganz normalen Gang“, so ein Kontakt, „die Gewalt ist Teil unseres Lebens“, so ein anderer, „wir haben uns daran gewöhnt.“ Diese Einschätzungen spiegeln auch meine eigenen Erfahrungen im Westjordanland und in Israel wider: Was in Gaza passiert, könnte genauso gut auf dem Mars passieren.
Anders sieht die Lage im Süden Israels aus. In mehreren Städten in unmittelbarer Nähe zum Gazastreifen kam es am Mittwoch zu teils gewalttätigen Protesten, deren Wut sich vor allem gegen Premierminister Netanjahu und dessen Waffenruhe mit der Hamas richtete. „Bibi Go Home!“ hallte es durch das direkt an Gaza grenzende Städtchen Sderot, und auch andernorts wurden Forderungen nach Benjamin „Bibi“ Netanjahus Rücktritt immer lauter.
In den letzten Tagen kam es – gemessen an Bomben und Raketen, nicht Todesopfern – zum massivsten Schlagabtausch seit Ende des letzten großen Gaza-Krieges 2014, bei dem knapp 2.200 Palästinenser, die meisten Zivilisten, und 69 Israelis, vier Zivilisten darunter, getötet wurden. Dennoch dominieren in Medien wie der politischen Rechten – in Israel im Grunde also alles rechts der Kommunistischen Partei – Stimmen, Netanjahu habe klein beigegeben und hätte, statt einen Waffenstillstand anzunehmen, mit harter Hand durchgreifen sollen.
Besonders prominent äußerte sich dies am Mittwoch in der unerwarteten Meldung vom Rücktritt des Verteidigungsministers Avigdor Lieberman, der als extremer Rassist und Kriegsfalke gilt und aus Protest über den Waffenstillstand seinen Posten räumte. Die brüchige Waffenruhe nannte Lieberman eine „Kapitulation vor dem Terror“, er hätte – wie immer – eine militärische Eskalation bevorzugt. Mit Liebermans Rücktritt hält Netanjahu neben seinen Ämtern als Premier-, Außen- und Gesundheitsminister jetzt auch das des Verteidigungsministers. Seine Rechtsaußen-Koalition verfügt in der Knesset über eine hauchdünne Mehrheit von lediglich 61 von 120 Sitzen. Lieberman kündigte außerdem an, seine restlichen Parteifreunde – insgesamt fünf Sitze – ebenfalls zum Austreten zu überreden – die Regierungskoalition gerät ins Wanken.
Der ultranationalistische Bildungsminister Naftali Bennet, der immer wieder mit widerwärtigsten Kommentaren von sich reden macht – „Ich habe in meinem Leben schon jede Menge Araber getötet, da ist absolut kein Problem dabei.“ – schlachtet das Chaos ebenfalls aus und fordert für sich Liebermans Posten als Verteidigungsminister ein. Andernfalls, so Bennets Drohung, werde er die acht Sitze seiner Partei Jüdisches Heim aus der Koalition abziehen, darunter auch Justizministerin Ayelet Shaked, die im Gaza-Krieg 2014 offen zum Genozid an den Palästinensern aufrief. Die Koalition zerfleischt sich gegenseitig.
Das Bollwerk bröckelt
Netanjahu verliert die Kontrolle über sein Kabinett der Rechtsextremen, es scheint ihm vor seinen Augen in den Händen zu zerbröseln. Die Rufe nach Neuwahlen – von allen Seiten, auch aus den eigenen Reihen – werden immer lauter und pressender.
„Die gegenwärtige Gaza-Krise hat den Präsidentschaftswahlkampf eingeläutet“, kommentiert mein Kontakt aus der Hadash, dem kommunistisch-pazifistischen Parteienbündnis Israels, den überraschenden Rücktritt des Verteidigungsministers: „Ich befürchte, Lieberman will als Präsidentschaftskandidat antreten.“ Mit seinem demonstrativ gegen Netanjahu geschossenen Rücktritt wolle sich Lieberman als Ultra-Hardliner, als starker Mann des Militärs präsentieren und sich so gegenüber der Bevölkerung „unmissverständlich weit rechts von Netanjahu positionieren“, so mein Kontakt weiter. Den Kriegsfalken Netanjahu – der den Spitznamen „Mr. Security“ trägt – in Sachen Sicherheitspolitik ausstechen zu wollen, ist gewiss ein ambitioniertes Unterfangen, doch spielt Lieberman geschickt den Umstand aus, dass Netanjahu seit Längerem angeschlagen ist.
Denn seit nunmehr zwei Jahren ist der Premier und sein engster Zirkel in ein Netz aus Korruptionsskandalen verwickelt: So wird Netanjahu vorgeworfen, von Geschäftsleuten undeklariert Geschenke im Wert von Hunderttausenden Schekel – Zigarren, Champagner und Schmuck für seine Frau Sara – entgegengenommen zu haben. Der zweite Fall umfasst der Polizei vorliegende Audioaufnahmen, in denen Netanjahu Arnon Mozes, Herausgeber Israels zweitgrößter – und Netanjahu-kritischer – Tageszeitung, im Austausch für wohlwollende Berichterstattung anbietet, per Gesetzgebung Mozes‘ größtem Konkurrenzblatt, Israel Today, Schaden zuzufügen. Der dritte und schwerwiegendste Fall kreist um einen Rüstungsdeal im Umfang von drei U-Booten und vier Korvetten zwischen der israelischen Regierung und ThyssenKrupp. Die deutsche Rüstungsschmiede soll über Mittelsmänner Schmiergelder in Millionenhöhe an hochrangige israelische Militärs und Politiker ausgeschüttet haben, um den Zuschlag für den Milliardendeal zu erhalten. In den nächsten Monaten wird sich entscheiden, ob der Generalstaatsanwalt Klage gegen Netanjahu erhebt.
Mit seinen zwölf Jahren als Premierminister (1996-1999, und seit 2009) ist Benjamin Netanjahu ein israelisches Bollwerk – nur Staatsgründer David Ben-Gurion war länger im Amt (was sich im Juli 2019 umdrehen würde). Erst Anfang des Jahres konnte er noch historisch gute Umfragewerte einfahren, während eine aktuelle Umfrage vom Mittwoch ergab, dass drei Viertel der Israelis unzufrieden mit Netanjahus Management der Gaza-Krise sind und die gegenwärtige Regierungskoalition – wären heute Wahlen – ihre Parlamentsmehrheit klar verlieren würde. Je nachdem, wie sich die Gewalt in Gaza und die dadurch ausgelöste Regierungskrise in den nächsten Wochen und Monaten entwickelt, und vor allem wie die Entscheidung des Generalstaatsanwalts über die Verfolgung Netanjahus zeitlich mit möglichen Neuwahlen zusammenfällt, ist eine Fortführung der Netanjahu-Regierung alles andere als gewiss.
Und so könnte eine vermasselte Geheimoperation in Gaza tatsächlich das Ende der Netanjahu-Ära eingeläutet haben.
[«*] Jakob Reimann bloggt auf JusticeNow! Er hat im Sommer 2014 sein Masterstudium in Biochemie in Dresden absolviert und arbeitet mittlerweile an der naturwissenschaftlichen Fakultät der An-Najah National University in Nablus, Palästina. Er forscht über die Auswirkungen chemischer Industrieanlagen auf Umwelt und Gesundheit der Menschen in der Westbank. Er ist zudem freiwillig für die Flüchtlingsorganisation PICUM tätig.