Neoliberales Denken verklebt die Herzen und Hirne
Wird unsere Gesellschaft zunehmend unsolidarischer? Ja, findet die Frankfurter Autorin Heike Leitschuh. Eigene Beobachtungen in ihrem Umfeld, aber auch Nachrichten aus den Medien hat Leitschuh zum Anlass für eine Recherche genommen, um der Frage nachzugehen, wie stark der Egoismus in unserer Gesellschaft verwurzelt ist. Ihr Ergebnis: Viele Bürger denken in erster Linie an sich selbst. Dieses Verhalten, so sieht es die Journalistin, ist vor allem an der neoliberalen Ordnung festzumachen, die in Politik und Gesellschaft seit vielen Jahrzehnten vorherrscht. Und: Politiker, aber auch die sogenannten Eliten, lebten ein negatives Verhalten vor, das dann auch bei den Bürgern zum Vorschein kommt. Ein Interview über eine „Kultur des Miteinanders“, die nicht mehr normal ist, so Leitschuh. Von Marcus Klöckner.
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Frau Leitschuh, wie kommen Sie darauf, zum Thema Egoismus in unserer Gesellschaft zu recherchieren?
Seit einigen Jahren sehe ich immer deutlicher, dass sich die Kultur des Miteinanders verändert hat. Gerade im öffentlichen Bereich, also wenn man auf der Straße entlangläuft, in der Bahn fährt, oder auch in den Geschäften: Mir fällt immer wieder eine Ruppigkeit im Umgang miteinander auf, die nicht normal ist. Ich habe mich gefragt: Woher kommt das? Warum können die Menschen nicht etwas respektvoller, freundlicher, rücksichtvoller miteinander sein?
Und, können sie?
Sie können schon. Und auch dafür gibt es Beispiele. Aber gerade die positiven Beispiele wirken wie ein Kontrastmittel, das einem zeigt, wie krass Menschen in der Öffentlichkeit miteinander umgehen.
Gab es einen konkreten Auslöser, der Sie zu dem Thema geführt hat?
Den gab es. In Hessen, wo ich lebe, sollen Rettungsfahrzeuge innerhalb von 10 Minuten bei Patienten oder Unfallopfern sein. Die Rettungskräfte können diese Zeit aber oft nicht einhalten, weil sie immer wieder zu Bagatellfällen gerufen werden.
Das heißt?
Menschen haben offensichtlich keine Hemmungen, einen Rettungswagen für absolute Kleinigkeiten, wie einen Zeckenbiss, einen verletzten Finger, Kopfschmerzen oder ähnliches, zu rufen. Dieses Verhalten führt dazu, dass Rettungskräfte bei wirklich schweren Fällen nicht rechtzeitig ankommen können. Normal wäre es, dass die Patienten, die lediglich eine Kleinigkeit zu beklagen haben, mit gesundem Verstand abwägen und sich bewusst machen, dass ihr „Leid“ nicht an erster Stelle steht und sie keinen Rettungswagen brauchen, sondern sich selber helfen oder zum Hausarzt gehen können. Wir sehen hier eine Einstellung, nämlich: Ich zuerst!, die sich in vielen Bereichen unseres Lebens zeigt.
Dieses Verhalten setzt sich fort in den Notaufnahmen von Krankenhäusern, wo auch oft Menschen mit Kleinigkeiten sitzen, aber sogar anfangen zu randalieren, wenn Sie nicht sofort drankommen. Ganz zu schweigen von Sportplätzen, wo Eltern, die ihre Kinder anfeuern, sich oft völlig unflätig benehmen. Das geht soweit, dass die Spieler gegnerischer Teams auf das Übelste beleidigt werden und nicht einmal Schiedsrichter verschont bleiben.
Ob auf der Straße, in den Krankenhäusern, auf Sportplätzen, in Kitas, Schulen usw., also überall dort, wo Menschen auftreten, stimmt mehr und mehr das Grundlegende nicht mehr.
Was sind denn die Ursachen für dieses Verhalten?
Ja, was ist mit den Menschen los? Meine Antwort lautet: Seit fast 30 Jahren haben wir hier im Land eine Grundhaltung in Politik und Wirtschaft, die die Bürger darauf trimmt, ihr Ego in den Vordergrund zu stellen. Ich muss mein Leben soweit optimieren, dass ich im täglichen Konkurrenzkampf gut bestehe, in allen Bereichen, selbst bei der Partnerwahl. Alles muss sich rechnen, alles wird einer Kosten-Nutzung-Rechnung unterzogen. Stimmt das, was bei dieser Rechnung rauskommt, für mich nicht, dann kann ich das nicht akzeptieren. In so einem Umfeld ist es nur logisch, wenn viele Bürger zu „Ichlingen“ werden.
Sie sprechen vom Neoliberalismus?
Ja. Alles wird kommerzialisiert, dereguliert. Die Idee des Neoliberalismus ist ja, dass größtmögliche Freiheit für die Wirtschaft den größtmöglichen Nutzen für alle bringt. Das stimmt so aber nicht. Freiheit ohne Regeln nützt nur den Starken. Die Schwachen bleiben auf der Strecke. Das wird zum Beispiel deutlich, wenn wir uns die Reichtums- und Armutsverteilung anschauen.
Auch wenn es mittlerweile Gegentendenzen gibt und so manchem klar wird, welche Schäden der Neoliberalismus anrichtet: Die Auswirkungen der letzten 30 Jahre kann man nicht auf Knopfdruck abstellen. Leider hat sich vieles schon in den Herzen und Hirnen festgesetzt und sie verklebt. Zum Beispiel meinen inzwischen viele, dass die Schwachen selbst schuld sind an ihrer Lage. Deshalb schwindet die Solidarität. Gerade die kulturellen Wirkungen werden jetzt also erst richtig sichtbar – quasi als Kollateralschaden des Wirtschaftsliberalismus.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich sage sicher nicht, dass alle Menschen Egoisten sind, aber dennoch beschäftigen sich viele von ihnen aufgrund der Ordnung, die sie umgibt, so sehr mit sich selbst, dass sie so handeln, als seien sie Egoisten. Der Riss geht durch uns hindurch: Wir können hilfsbereit sein, aber auch unsympathische Ichlinge. Das Zwischenmenschliche gerät unter die Räder. Ich muss jetzt von A nach B. Ich muss jetzt meinen Job machen. Ich muss jetzt dieses und jenes Produkt kaufen. Ich muss jetzt als Erste an der Kasse sein. Ich, ich, ich.
Hinzu kommen die Ängste, die in der neoliberalen Ordnung entstanden sind. Angst, nicht gut genug zu sein. Angst, nicht mithalten zu können. Angst, nicht ganz vorne dabei zu sein. Angst, seinen Job zu verlieren. Angst, abzustürzen usw. Der Neoliberalismus, aber auch das Unmenschliche und Unüberschaubare in der Globalisierung, verängstigt Menschen.
Wir haben jetzt über die Bürger geredet. Aber wie sieht das Verhalten der Verantwortungsträger auf politischer Seite aus?
Da wird es leider auch düster. Viele Politiker leben den Bürgern nichts Gutes vor. Die ganze Palette an schlechten Eigenschaften können wir immer wieder aufseiten der sogenannten Eliten beobachten. Auch da sehen wir Personen, die immer nur auf das eigene Vorwärtskommen achten. Sie machen gravierende Fehler, sind aber nicht bereit, für ihr Fehlverhalten geradezustehen.
Manager, die fatale Weichenstellungen vornehmen, werden mit Millionen Euro abgefunden. Politiker und Politikerinnen haben mit zur sozialen Ungleichheit in unserer Gesellschaft beigetragen, aber müssen sich nicht verantworten. Der normale Bürger beobachtet dieses Verhalten und sagt sich: Wenn die sich nicht an Regeln halten, muss ich es auch nicht.
Der Umgang von Politikern miteinander, gerade im Parlament, überschreitet bisweilen auch Grenzen. Erinnert sei an Ex-Kanzleramtsminister Ronald Pofalla, der zu seinem Parteikollegen Wolfgang Bosbach sagte: „Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen“.
Auch im Parlament zeigen Politiker, dass es vielen an Respekt vor ihrem Gegenüber fehlt. Natürlich soll man sich in einem Parlament auch streiten. Debatten müssen geführt werden, durchaus auch heftig. Es geht ja um was. Aber eine gewisse Form muss man doch wahren. Wenn man seine politische Gegnerin verachtet und als Idiotin hinstellt, dann ist das alles andere als ein gutes Vorbild – gerade dann nicht, wenn man die Diskussionskultur im Netz beklagt. Mit der AfD verschärft sich der Ton im Parlament auch nochmal. Auf keinen Fall aber dürfen die Rechtspopulisten die Kultur bestimmen.
Haben wir es in unserer Gesellschaft verlernt, uns auf anständige Weise zu streiten? Gerade auch in den Medien werden viele Debatten doch gar nicht mehr geführt. Der Meinungskorridor hat sich extrem verengt, offene Debatten werden immer schwerer. Stimmen Sie den Aussagen zu?
Die Fähigkeit zum zivilisierten und respektvollen Streiten scheint uns in der Tat weitgehend abhanden zu kommen. Ich beobachte außerdem, dass sich viele in ihre Echokammern zurückziehen. Ob das Medien oder Bürger sind: Viele wollen am liebsten nur unter sich sein.
Der Soziologe Andreas Reckwitz stellt fest, dass die Schichten und Kulturen kaum noch miteinander in Kontakt sind. Früher saßen die Lehrerin, der Handwerker, die Pfarrerin und der Koch im Wirtshaus gemeinsam am Tisch. Da wurde diskutiert und man hatte Kontakt zu Andersdenkenden. Heute geht man dahin, wo Leute sind, die so aussehen, so denken, so handeln wie ich. Das Schlimme am aktuellen Zustand ist, dass viele meinen, sie wüssten alles besser, der Respekt vor den anderen geht völlig verloren.
Wie lässt sich die Situation verändern?
An zwei Stellen muss angesetzt werden. Beim Individuum und der Politik. Von der Politik erwarte ich, dass sie konsequent überprüft, was sie falsch gemacht hat und falsch macht. Welche Weichen hat sie gestellt, die mit aller Konsequenz nur noch das Ich fördern, während das Wir völlig reduziert wird?
Ich erwarte weiter von der Politik, dass sie auch den ganzen Bereich der Deregulierung von öffentlicher Daseinsvorsorge, Wasserversorgung, Öffentlichem Verkehr usw. rückgängig macht. Mittlerweile haben wir Krankenhäuser, die in Konkurrenz zueinander stehen. Da geht es vor allem um ökonomische Interessen. Das ist doch komplett absurd und gefährlich obendrein.
Außerdem muss die Regierung sich dringend für eine gerechtere Besteuerung einsetzen und alle Steuerschlupflöcher schließen, die Finanzmärkte konsequent regulieren. Es muss verhindert werden, dass immer noch mehr Millionäre entstehen. Und die Reichen müssen einfach mehr zahlen. Wer reich ist, kann auch mehr für das Gemeinwesen tun.
Und ich würde dringend raten, genauer hinzusehen, wo überall in der Gesellschaft − gerade junge − Menschen an alternativen Konzepten für ein Leben und Wirtschaften jenseits von Wachstum und Neoliberalismus arbeiten. Aus diesen vielen kleinen Pflänzchen kann was Großes entstehen. Wenn man sie unterstützt.
Von den Bürgerinnen und Bürgern erwarte ich aber auch, dass sie sich über ihr eigenes Verhalten Gedanken machen. Sie sollten sich fragen: Wie verbringe ich meinen Tag? Lebe ich verantwortungsvoll? Habe ich Zeit, um mich mal um meinen Nachbarn zu kümmern? Kann ich irgendwo helfen, wenn Hilfe benötigt wird? Oder bin ich dauernd nur mit mir, meinem Konsum und meinem Smartphone beschäftigt? Oft sind es nur Kleinigkeiten, die aber dann in ihrer Gesamtheit viel bewirken können.
Lesetipp: Leitschuh, Heike: Ich zuerst! Eine Gesellschaft auf dem Ego-Trip. Westend. 2. Oktober 2018. 256 Seiten.