Hype oder Kairos? – Thesen zum Höhenflug der Grünen

Götz Eisenberg
Ein Artikel von Götz Eisenberg

„Es genügt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen“, heißt es beim frühen Marx. Dieses Zitat aus der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie fiel mir ein, als ich über den rätselhaften Höhenflug nachdachte, den die Partei Die Grünen derzeit erlebt. Über diesen wird viel spekuliert und phantasiert. Die meisten Kommentatoren neigen dazu, ihn für einen Hype zu halten, ein typisches Phänomen des Medien- und Internetzeitalters. Auf ihrer ständigen Suche nach Sensationen bemächtigen sich die Medien eines Themas und verschaffen diesem auf diese Weise eine große Aufmerksamkeit, die so lange währt, bis sie sich auf das nächste Thema stürzen. Einiges spricht dafür, dass der Höhenflug der Grünen mehr ist als das. Er wird von objektiven Tendenzen gespeist, die sich hinter dem Rücken der Akteure durchsetzen und ihnen selbst nicht einmal bewusst sein müssen. Götz Eisenberg[*] versucht zu ergründen, welche Wirklichkeit sich zum grünen Gedanken drängt.

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Was ist ein Kairos?

Es gibt Ideen und politische Projekte, die existieren lange, ohne nennenswerte Beachtung zu finden. Sie dümpeln im Abseits vor sich hin und vermögen nur eine kleine Anhängerschaft zu mobilisieren, der mitunter etwas Sektenartiges anhaftet. Ideen und Projekte benötigen einen geschichtlichen Atem, brauchen den Wind einer historischen Tendenz im Rücken. Wenn die Wirklichkeit sich endlich zum lang gehegten Gedanken drängt, kommt es plötzlich zu einer Verbindung von aus den Subjekten kommenden Kräften mit den objektiven Verhältnissen. So etwas nannte man im alten Griechenland Kairos. Kairos bezeichnet eine glückliche historische Konstellation, die ganz verschiedene, zunächst keineswegs in eine Richtung strebende Kräfte zu einem Energiebündel zusammenfügt, das einer Neuerung zum Durchbruch verhilft. Erleben die Grünen und ihre Sympathisanten gegenwärtig einen solchen Kairos? Und wenn ja, warum gerade heute?

Es scheint in Bezug auf die mediale Abstumpfung einen Punkt zu geben, an dem die Verdrängung nicht mehr funktioniert. Das gegen schlechte Nachrichten errichtete Immunsystem bricht unter dem Dauerbeschuss von Horrormeldungen und schrecklichen Bildern zusammen. Eine chronische Gereiztheit bemächtigt sich der Menschen, Panik flackert auf und kommt kaum noch zur Ruhe. Erkenntnisse, die man lange nicht wahrhaben wollte, dringen ins Bewusstsein. Man konnte in den letzten Monaten keine Nachrichtensendung hören oder sehen, ohne mit Meldungen konfrontiert zu werden, die von einer aus den Fugen geratenen, stürzenden Welt künden. Die drohenden Fahrverbote, der trotz anderslautenden Klimaschutz-Beteuerungen stetig steigende Ausstoß von Treibhausgasen und die damit verbundenen Gesundheitsrisiken, der bevorstehende Kollaps des Individualverkehrs in den Städten und der Pendler-Wahnsinn, der über alle Maßen heiße Sommer, die damit einhergehende Wasserknappheit, die Bilder von nach Sauerstoff japsenden und toten Fischen, die in immer rascherer Folge sich ereignenden Stürme und Überschwemmungen, die riesigen Waldbrände bis hinauf in den hohen Norden Europas haben die ökologische Krise für viele Menschen endlich aus der Abstraktion gerissen und der Wahrnehmung zugänglich gemacht. Nachrichten über das Sterben der Bienen und Insekten, den Schwund von Vogelarten tun ein Übriges. Wer sich einen Rest von kritischem Urteilsvermögen und Sensibilität bewahrt hat, spürt, dass es so nicht weitergehen kann und dass wir auf eine Katastrophe zusteuern.

Seit der Club of Rome 1972 seinen Bericht über Die Grenzen des Wachstums vorgelegt hat, könnten wir um die Gefährdung des Planeten und die Endlichkeit seiner Ressourcen wissen. Die Mahner blieben umgeben vom Odium der Schwarzmalerei und des apokalyptischen Spinnertums. Auch die sich Ende der 1970er Jahre formierenden Grünen wurden lange als Ökos, Müslis, Körnerfresser tituliert und mit übelriechenden Wollpullovern, langen Haaren, Landkommunen und zotteligen Bärten assoziiert. Die Linken bezichtigten sie des Eskapismus und verorteten sie in der Tradition des Monte Verita, auf dem sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts allerhand seltsame Heilige und Propheten trafen. Die traditionelle Linke hielt die räuberische und zerstörerische Beziehung des Kapitals zur Natur bestenfalls für einen „Nebenwiderspruch“, der vom „Grundwiderspruch“ zwischen Lohnarbeit und Kapital ablenkte. Man wollte ja am Typus der Industrialisierung gar nichts ändern, sondern diese lediglich einer neuen Kommandostruktur unterstellen. Die Natur galt auch den Sozialisten/Kommunisten als etwas, das umsonst da war und unbegrenzt Rohstoffe lieferte für menschliche Aneignungsprozesse.

Der Abschied vom Proletariat und die Krise der Linken

Mit dem Niedergang des Fordismus und ganzer Industriezweige begann sich die Industriearbeiterschaft aufzulösen. Für die Linke bedeutete das, „Abschied vom Proletariat“ nehmen zu müssen, wie André Gorz 1980 eines seiner Bücher betitelte. Der Linken kam ihr designiertes revolutionäres Subjekt abhanden, dessen Position seither vakant ist. Wenig später machte der Untergang der sozialistischen Staaten die Linke vollends heimat- und orientierungslos. Die Verwirrung war komplett, die Linke geriet in eine tiefe Krise, von der sie sich bis heute nicht erholt hat. Die traditionellen sozialdemokratischen Parteien wandten sich von der sozialen Frage ab und gingen mit wehenden Fahnen ins neoliberale Lager über. Deregulierung, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und Sozialabbau wurden ihr Mantra. Das Kapital benutzte sie, um gegen die Massen neue Formen und Praktiken der Ausbeutung zu etablieren und soziale Errungenschaften abzubauen, für die die Arbeiterbewegung über 100 Jahre lang gekämpft hatte. Nur die Sozialdemokratie konnte die Demontage des Sozialstaates gegen die Massen durchsetzen. Das Kapital ging eine Weile mit der Sozialdemokratie fremd, um dann nach geleisteter Arbeit wieder zu seiner angestammten Partnerin zurückzukehren. Trotz Arbeitslosigkeit, grassierender Armut und Wohnungsnot hat die verbliebene sozialistische Linke bis heute keine adäquate Antwort auf die sozialen Fragen und ökologischen Herausforderungen der Gegenwart gefunden. Sie kann deswegen von der unübersehbaren Krise der hegemonialen neoliberalen Formation und den Auflösungsprozessen der großen Parteien nicht profitieren. Die Linke tut sich schwer, die zahlreichen Bruchlinien der sozialen Integration und die sich entlang dieser Bruchlinien bildenden neuen sozialen Bewegungen strategisch zu codieren und zu einem halbwegs einheitlichen Willensstrahl zu bündeln. Es gibt, wenn man es in ironischer Anlehnung an die traditionelle Terminologie ausdrücken will, einen Aufstand der Nebenwidersprüche. Die klassische linke Zentralperspektive, die alles aus dem Blickwinkel des Proletariats betrachtete und beurteilte, ist weggebrochen und auch nicht wiederherzustellen. Wir dürfen uns eine zukünftige Linke nicht mehr als parteiförmigen homogenen Block vorstellen, sondern eher als ein „Patchwork der Minderheiten“, wie ein Buch von Jean-Francois Lyotard betitelt ist, das Ende der 1970er Jahre im Berliner Merve-Verlag erschienen ist. Ob es der von Sahra Wagenknecht initiierten Bewegung Aufstehen gelingt, die zerstreuten Widerstandspotenziale aufzugreifen und zu bündeln, wird sich in den nächsten Monaten und Jahren zeigen. Sie verkörpert immerhin einen Hoffnungsschimmer am trüben linken Himmel. Einstweilen profitieren von dem akkumulierten Frust und der Wut der „kleinen Leute“ eher die AfD und die politische Rechte. Es scheint ihr gelungen, den Leuten das Gefühl zu vermitteln, dass sie die Einzigen sind, die sich für ihre Probleme interessieren. Die solcherart Eingelullten und Verführten, die nicht unbedingt und durch die Bank eingefleischte Nazis oder Rechtsradikale sind, auf einer affektiven Ebene anzusprechen und ihnen andere Artikulationsmöglichkeiten und Ziele anzubieten, ist unsere vordringliche und existentiell wichtige Aufgabe. Dabei hätte eine linke Sammlungsbewegung, wenn sie unter den heutigen Bedingungen Erfolg haben will, die Quadratur des Kreises hinzubekommen und die soziale Frage mit der ökologischen zu verknüpfen. Bislang verhielten sich beide nach dem Prinzip des Wetterhäuschens: Entweder „Frau Ökologie“ war draußen und „Herr Klassenkampf“ war drinnen, oder „Herr Klassenkampf“ war draußen und „Frau Ökologie“ war drinnen. Um beide zu vereinen, muss die Linke ihre bis heute mitgeschleppte Fixierung an ein produktivistisches Fortschrittsmodell überwinden und es wagen, die Revolution als Bruch mit einem Fortschrittsbegriff zu konzipieren, dessen ruinöser und destruktiver Charakter immer deutlicher zu Tage tritt. Es sind nicht nur die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die verändert werden müssen, es ist der Industrialismus, der uns gefangen hält. Die Produktivkräfte selbst sind zu Destruktivkräften geworden. 200 Jahre industrieller Kapitalismus und Sozialismus mit ihrem Raubbauverhältnis zur inneren und äußeren Natur haben ausgereicht, den Globus sturmreif zu schießen und die Welt an den Rand des Abgrunds zu bringen.

„Stück für Stück die Welt retten“

Aber nun zurück zur Frage nach den Ursachen des grünen Höhenflugs. Unlängst bekam ich eine Tafel Bio-Schokolade geschenkt. Auf deren Verpackung stand: „Stück für Stück die Welt retten.“ Schluss mit dem schlechten Gewissen wegen der zweifelhaften Herkunft der verwendeten Zutaten. Diese Schokolade stammt aus biologischem Anbau und wird fair gehandelt. Beruhigt kann der Konsument sich sagen: „Ich konsumiere Schokolade und tue, während sie in meinem Mund schmilzt, etwas Gutes.“ So einfach und angenehm ist das heute mit der Rettung der Welt. Das ins Politische gewendete Versprechen dieser Schokolade sind die Grünen. Sie transportieren das Versprechen eines grünen Kapitalismus, der Wachstum und Nachhaltigkeit miteinander versöhnt. Wir können die Welt retten, ohne die Eigentumsverhältnisse anzurühren. Der Kapitalismus soll lediglich von seinen krassesten Auswüchsen befreit werden und sich in ein Wirtschaftssystem verwandeln, das privates Profitstreben mit ökologischer Nachhaltigkeit versöhnt. Die Grünen und vor allem ihre Wähler verfahren nach dem alten Motto: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!

Der Kapitalismus ist in seiner ungezügelten und rastlosen Jagd nach Profit im Begriff, einige der Äste abzusägen, auf denen er selber sitzt. Der drohende ökologische Kollaps würde nicht nur die menschlichen Lebensgrundlagen zerstören, sondern auch die Reproduktion des Kapitals gefährden. Es gibt eine eigenartige Parallele zwischen dem Kapitalprinzip und der Verlaufsform der Krebserkrankung. Als Parasiten müssten Kapital und Krebs eigentlich auf das Wohlergehen ihres Wirts bedacht sein, aber beide nisten sich in ihm ein, breiten sich aus, überwuchern ihn und fressen sich durch alle Schichten des Wirts- beziehungsweise Gesellschaftskörpers hindurch, bis dieser schließlich kollabiert und abstirbt. Mit dem Wirtskörper stirbt natürlich auch der an ihm hängende und in ihm nistende Parasit. Ich kannte mal einen Krebskranken, der redete mit „seinem Krebs“ und versuchte ihm klarzumachen, dass er in seinem Wachstum gewisse Grenzen nicht überschreiten dürfe, weil er andernfalls mit ihm stürbe. Das könne ja nicht in seinem Interesse liegen. Er hat nicht auf ihn gehört. Der Krebs meines Bekannten verhielt sich dieser Belehrung gegenüber genauso indolent, wie das Kapital bislang gegenüber jeder noch so gut gemeinten Wachstumskritik. Beide können offenbar nicht anders als ständig zu wachsen. Sie gehorchen in ihrem Wachstum einer amokartigen Logik und reißen in ihren Untergang alles mit. Das Motto lautet: Nach uns die Sintflut! Das nehmen inzwischen auch die klügeren Repräsentanten der herrschenden Klasse wahr und beginnen, sich nach neuen Bündnispartnern umzuschauen, die den fälligen ökologischen Wandel einleiten und durchsetzen können. Das Kapital muss vor sich selbst und seinen destruktiven Tendenzen geschützt werden. Gesucht werden politisch-gesellschaftliche Kräfte, die einer neuer Stufe der kapitalistischen Entwicklung zur Durchsetzung verhelfen, ohne die Eigentumsverhältnisse in Frage zu stellen. Die Grünen präsentieren sich als eine politische Kraft, die den Abschied von den fossilen Energieträgern und den Übergang zu erneuerbaren Energien und den fälligen Umbau der Gesellschaft zu organisieren vermag, ohne an deren Grundfesten zu rühren. Die Verheerungen, die der losgelassene Markt und das Kapitalprinzip angerichtet haben, sollen innerhalb der Logik des Kapitals und mit marktförmigen Mitteln behoben werden.

Grüne Modernisierungsgehilfen

An dieser Stelle verhält das Kapital sich listig und undogmatisch. Auch die kapitalistische Geschichte verläuft in dialektischen Sprüngen, und die Kräfte der Negation verkörpern oft, ohne es zu ahnen oder gar zu wissen, die nächst höhere Stufe der kapitalistischen Entwicklung und verhelfen dieser gegen zunächst massiven Widerstand zur Durchsetzung. Auf die Grünen bezogen könnte man es hegelianisch so ausdrücken: Der kapitalistische Profitgedanke bedient sich dieser einstigen Alternativbewegung, um einen drohenden Kollaps abzuwenden und eine fortgeschrittenere Stufe zu erklimmen. Die Grünen sollen bei der fälligen kapitalistischen Krebstherapie das Skalpell führen und den Arzt am Krankenbett geben. Damit dieser dialektische Trick gelingen kann, war und ist es wichtig, die „rote Linke“ und die „grüne Linke“ zu spalten und den grünen Teil ins neoliberale Lager hinüberzuziehen. Das ist in den letzten Jahren unter tätiger Mithilfe der Grünen selbst weitgehend gelungen. Sie sind zu einer im Kern bürgerlichen Partei geworden. Ihre Wähler stammen schwerpunktmäßig aus den Rucola- und Smoothie-Bezirken der Städte, wo man es sich leisten kann, „weltoffen“ und „mixophil“ (Zygmunt Bauman) zu sein und für ein „buntes Deutschland“ einzutreten. Die Grünen-Wähler können den Geflüchteten wohlwollend begegnen, weil sie in gesellschaftlichen Sphären leben, wo man nicht mit ihnen um Wohnungen und Arbeitsplätze konkurrieren muss. „Weltoffenheit“ entpuppt sich mehr und mehr als die mentale Seite der Schaffung des Weltmarktes und der Globalisierung und ist die Haltung derer, die von diesen Prozessen profitieren. Aus den luftigen Höhen ihrer sanierten Altbau- oder Penthouse-Wohnungen blicken sie blasiert auf jene herab, die „mixophob“ sind und sich vor der „Vermischung“, Migration und den Migranten fürchten. Sie sind aus ihrer Sicht uncool, unsexy und prolo und fügen mit ihrem dumpfen Rassismus dem „Standort Deutschland“ Schaden zu. Wo dieser sich, wie unlängst in Chemnitz, unschön artikuliert, finden sich die Mixophilen, die eine Vorliebe für heterogene, vielfältige Umgebungen haben, prompt zusammen und demonstrieren unter dem Schlagwort „Wir sind mehr!“ Als wäre die bloße numerische Überlegenheit der Gegendemonstranten ein Beleg dafür, dass ihr Programm richtig und vernünftig ist! Was wäre denn, wenn die Rechten mehr gewesen wären? Wären Wahrheit und Recht dann auf ihrer Seite? Es sollen in Chemnitz schließlich ungefähr 65.000 Menschen bei einem Konzert gewesen sein, auf dem namhafte Bands wie die Toten Hosen, Kraftklub und Feine Sahne Fischfilet kostenlos zu hören und zu sehen waren. Aber was besagt das? Die Leute wollen Musik hören und „Party machen“, das ist möglicherweise alles. Kann man auf diese Leute zählen, wenn es hart auf hart kommt? Haben sie den Rechten außer einer diffusen „Weltoffenheit“ wirklich etwas entgegenzusetzen?

Den Grünen wachsen gegenwärtig auch aus anderen Gründen neue Wählerinnen und Wähler zu. Viele Mittelschichtseltern haben in den letzten Jahren Kinder bekommen. Die Geburtenrate steigt auch in diesen Schichten seit Jahren an. Ein Kind ist ja nicht nur die Komplettierung eines bestimmten Lebensstils, sondern auch ein Kompliment an die Welt. Dieser wird zugetraut, dass sie dem Kind für rund 80 Jahre eine bewohnbare Heimstatt bietet. Die Eltern, die in letzter Zeit so kühn waren, ein Kind in die Welt zu setzen, müssen nun allabendlich aus den Nachrichten erfahren, in welchem Zustand sich diese befindet und dass die Zukunft des Planeten und so auch ihrer Kinder alles andere als rosig ist. In dieser Lage erscheinen vielen jungen Eltern die Grünen als letzte Rettung und Hoffnungsträger. Sie treten mit dem Versprechen auf, den Kindern eine lebenswerte Zukunft zu sichern und den Planeten vor der Selbstzerstörung zu retten.

Eine neue hegemoniale Formation?

Die Grünen, so lautet mein Fazit, profilieren sich gegenwärtig als die Partei der „realitätsgerechten Empörung“. Diesen Typus der Kritik haben Horkheimer und Adorno folgendermaßen charakterisiert: „Realitätsgerechte Empörung wird zur Warenmarke dessen, der dem Betrieb eine neue Idee zuzuführen hat.“ Die neuen Ideen, die die Grünen zum herrschenden Betrieb beisteuern, heißen Nachhaltigkeit und Vielfalt und laufen auf einen „grünen Kapitalismus“ hinaus, der weltoffen, tolerant, digital und flexibel ist. Ihr Höhenflug hat im Medienzeitalter sicher auch etwas von einem Hype, ist aber mehr als das. Die Grünen antizipieren den Kapitalismus von morgen und haben den Wind einer mächtigen objektiven Tendenz im Rücken. Ihr neues Führungspersonal ist jung, intelligent, charmant und geschmeidig und macht sich, befreit vom ideologischen Ballast alter Flügelkämpfe, zum Sprachrohr eines ökologisch erneuerten Kapitalismus. Der Zeitgeist ist grün. Rund um die Grünen könnte sich in der nächsten Zeit eine neue hegemoniale Formation herausbilden, die den Kapitalismus modernisiert und ihn vor sich selber schützt. In welcher parteiförmigen Konstellation das geschehen wird, wird sich noch zeigen. Die Grünen schrecken vor nichts zurück und sind allseits anschlussfähig. In Bayern hätten sie sich sogar mit der CSU eingelassen. Diese war aber zu deppert, die Gunst der Stunde zu nutzen, und hat auf diese Weise eine Riesenchance verpasst, ihren Niedergang zu stoppen und sich zu erneuern.

Wir leben in einem „Interregnum“: Eine bestimmte gesellschaftliche Formation geht aus den Fugen, ohne dass eine neue bereits Gestalt angenommen hat. In der Zwischenzeit ist alles in der Schwebe. Eine solche Situation bietet große Chancen, steckt aber auch voller Gefahren. Bei Antonio Gramsci heißt es: „Das Alte stirbt und das Neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster“. Sie stehen auch heute wieder in den Kulissen bereit und warten auf ihren Auftritt. Noch haben wir es in der Hand, ihn zu verhindern und ein anderes Stück aufzuführen. Man kann gar nicht oft genug an die Mahnung Erich Kästners erinnern, die er 1958 in Hamburg anlässlich des 25. Jahrestages der Bücherverbrennung formuliert hat: „Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Danach war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Drohende Diktaturen lassen sich nur bekämpfen, ehe sie die Macht übernommen haben.“


[«*] Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er war jahrzehntelang als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug tätig. Eisenberg arbeitet an einer „Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus“, deren dritter Band unter dem Titel „Zwischen Anarchismus und Populismus“ soeben im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist.

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