Jetzt steht uns der Durchmarsch der CDU und damit der Finanzwirtschaft ins Haus. Höchste Zeit und große Chance für eine breit angelegte Sammlungsbewegung. Notfalls als neue Partei.
Vor uns liegt ein öffentlich ausgefochtener und alle Aufmerksamkeit fesselnder Wettstreit um den Vorsitz der CDU. Nach einigem Grübeln darüber, was uns da ins Haus stehen könnte, erinnerte ich mich an eine Abbildung von massiven Veränderungen der Parteipräferenzen in den Jahren 1997 und 1998.
Sie ist meiner 1999 erschienenen Studie „Von der Parteiendemokratie zur Mediendemokratie“ entnommen und zeigt, wie durch den Wettbewerb zwischen Kandidaten um eine wichtige politische Funktion, damals das Rennen zwischen Lafontaine und Schröder um die Kanzlerkandidatur der SPD, die Stimmung für die Partei der Wettbewerber messbar gehoben werden kann. Das steht uns jetzt wahrscheinlich ins Haus und damit zugleich droht ein neuer Rechtsruck. Allerdings bietet diese Situation auch die Chance zur Profilierung gegenüber Merz & Co. und damit zu einem erfolgreichen Lagerwahlkampf. Albrecht Müller.
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Die erstaunlichen Vorgänge von 1997/1998
Auf dem Parteitag der SPD im Dezember 1997 in Hannover war vereinbart worden, dass offen bleiben soll, ob der Parteivorsitzende Lafontaine oder der niedersächsische Ministerpräsident Schröder Kanzlerkandidat der SPD werden und gegen Helmut Kohl antreten soll. Die Entscheidung solle auf einem Parteitag im April 1998 getroffen werden. Von da an – in der Abbildung markiert mit dem roten A – gab es ein heißes Rennen, vor allem angefeuert von Gerhard Schröder und seinen Unterstützern bis hin zu Carsten Maschmeyer. Dieser Wettbewerb erzeugte Aufmerksamkeit, die Medien stürzten sich darauf, nicht nur die beiden Kandidaten, sondern auch ihre Partei wurde immer populärer. Im Umfeld der dann angesetzten Landtagswahl in Niedersachsen Anfang März 1998 und der Entscheidung auf dem Parteitag der SPD im April – siehe B in der Abbildung – erreichte die SPD Stimmungshöchstwerte von über 50 %. Schröder erreichte dann bei der Wahl die absolute Mehrheit in Niedersachsen, die Stimmung wurde noch ein bisschen besser und er wurde im April zum Kanzlerkandidaten nominiert. Von da an ging‘s bergab, geziert von einer kleinen Erholung im September 1998 kurz vor der Bundestagswahl (C). Dieser Niedergang tut aber hier nichts zur Sache. Er folgte damals aus der Fixierung des Wahlkampfes alleine auf Schröder. Die stimmungsfördernde Pluralität des Wettbewerbs der beiden Kandidaten war aufgegeben worden. Dies nebenbei.
Von großer Bedeutung für die aktuelle Situation ist der damalige Aufwind für eine Partei, deren Kandidaten miteinander um ein wichtiges Amt ringen. Genau das wird die CDU voraussichtlich jetzt zu wiederholen versuchen. Das deutet sich schon an. Die Medien sind äußerst freundlich und werden zunehmend erbaut sein davon, dass es hier einen Konflikt und dass es interessant erscheinende Personen gibt. Ganz wichtig: es kann demonstriert werden, wie breit die CDU angeblich oder tatsächlich aufgestellt ist. Diese Pluralität und Farbigkeit des Auftritts ist eine wichtige Bedingung für Sympathiegewinne und und die Erhöhung der Wahlchancen. Es ist eben ganz anders, als die Propagandisten der Geschlossenheit einem tagein tagaus zu erzählen versuchen. Wir können gespannt sein, ob schon bei den nächsten Umfragen der Stimmungsumschwung zugunsten der CDU gemessen werden kann.
Die große Gefahr des Stimmungsaufschwungs zugunsten eines Rechtskonservativen und eines Vertreters der internationalen, vor allem der angelsächsischen Finanzwirtschaft
Vom Stimmungsaufschwung, der aus dem Wettbewerb verschiedener Personen folgen kann und folgen wird, wird im konkreten Fall nicht nur jene Person, zum Beispiel Frau Kramp-Karrenbauer, profitieren, die ein bisschen fortschrittlicher zu verorten wäre als Friedhelm Merz. Von diesem Aufschwung wird auch Friedrich Merz oder der andere Erzkonservative, Jens Spahn, profitieren. Das bringt im Falle der wahrscheinlichen Nominierung von Merz eine große Gefahr für die weitere Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, für unsere Autonomie und den Frieden in Europa. Deutschland und Europa werden dann komplett zum Vasallen der USA und der Finanzwirtschaft gemacht.
Auf den NachDenkSeiten konnten Sie schon zwei erhellende Beiträge zur Personalie Merz lesen:
- einmal vom CDU-Veteranen Willy Wimmer: Willy Wimmer zur Kandidatur von Merz zum Parteivorsitz der CDU: Damit wird die CDU völlig zum Ableger US-amerikanischer Politik
- und einmal von Jens Berger: Alles, nur nicht Merz!
Ein NachDenkSeiten-Leser hat diese beiden Beiträge treffend ergänzt:
„Getreu dem Motto „wenn man mit dem Schlimmsten rechnet, liegt man meistens richtig“, gehe ich davon aus, daß er (Merz) nicht zu verhindern ist. Er wird ja bereits aufgebaut und die Manipulation läuft. Hier ein ganz aktuelles Beispiel.
Die „Deutschen“ haben bereits Ihren Favoriten für die Merkel Nachfolge steht hier groß zu lesen. Bei genauerer Lektüre wurden ganze 790 Menschen befragt und das Meinungsforschungsinstitut das die „Umfrage“ durchgeführt hat war „yougov“, deren Hauptaktionär „blackrock“ ist. Und wo ist Herr Merz Aufsichtsratsvorsitzender? Ihnen brauche ich das nicht zu sagen. – Da werden wir wohl bald einen Vertreter der US-amerikanischen Finanzlobby als Parteivorsitzenden der CDU haben und wohl auch als Bundeskanzler, der die Schleusen für die Finanzindustrie ganz öffnen wird.“
Die Stimmungsmache pro Merz wird inzwischen von weiteren Medien betrieben. So von Spiegel Online: „SPON-Umfrage – Mehrheit wünscht sich Friedrich Merz als neuen CDU-Chef“.
Und im Handelsblatt, siehe Morning Briefing von heute:
„Demokratie hieß bei der CDU bisher: Erst trat der Kandidat für den Parteichef breitlächelnd auf, dann folgte die Akklamation. Für den Parteitag im Dezember in Hamburg jedoch gibt es – nach dem Verzicht der 18-Jahre-Königin Angela Merkel – plötzlich eine regelrechte Bewerberschlange. Überraschungskandidat Friedrich Merz, zuletzt als Aufsichtsratschef von Blackrock Deutschland ein Heavyweight, startet mit dem Zuspruch der Umfragen und des Mittelstands. Mit den Aussagen „moderner Konservativer“ und „für Höheres bestimmt“, bohrt Martin Herrenknecht seinen „Tunnel of Love“ im Handelsblatt.“
Da ist vom Zuspruch des Mittelstands zu Merz, also zum Aufsichtsratschef von BlackRock Deutschland die Rede. Man sieht, es ist alles manipulierbar.
Die Gefahr ist groß; zugleich aber wächst die Chance für eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit den Atlantikern und dem Neoliberalismus
Mit Merz als CDU-Vorsitzendem, kommendem Kanzlerkandidaten und möglichem Bundeskanzler würden wir voll in die Hände der US-amerikanischen Finanzlobby und der NATO fallen. Innenpolitisch, gesellschaftspolitisch und wirtschaftspolitisch, weil wir dann fast nichts mehr selbst gestalten können und weil vor allem der Raubzug fortgesetzt wird, der mit den bisherigen Privatisierungen von öffentlichen Unternehmen und der sozialen Sicherungssysteme sowie mit dem Verkauf vieler deutscher Unternehmen an Hedgefonds und andere Kapitalgruppen begonnen worden ist. Da die Rüstungswirtschaft eng mit den Interessen der Finanzwirtschaft verbunden ist, wird auch deren Einfluss auf unsere Außen- und Sicherheitspolitik noch weiter wachsen und damit auch die Gefahr kriegerischer Auseinandersetzungen steigen. Das ist eine sehr ernste Situation.
Und das bringt eine große Chance, die Chance nämlich, endlich wieder eine grundsätzliche Auseinandersetzung um die gesellschaftliche Gestaltung unseres Landes und um die Sicherheitspolitik und damit um den Frieden in Europa zu führen.
Es wäre ein richtiger Lagerwahlkampf möglich. Die inhaltlichen Elemente einer solchen grundsätzlichen Auseinandersetzung liegen auf der Hand. Es würde auch um die Werte gehen, die unser Zusammenleben bestimmen sollen: „Egoismus oder Solidarität“, „Jeder ist seines Glückes Schmied“ oder „Wir sind aufeinander angewiesen“.
Ein ganz großes Thema wäre die Frage der europäischen bzw. der deutschen Autonomie: Wollen wir weiter Vasall von USA und NATO bleiben und damit auch deren Kriege all überall auf der Welt mitmachen. Oder befreien wir uns aus dieser Abhängigkeit. – Alleine bei diesem Thema würde man schnell feststellen können, dass die Atlantiker vom Schlage Friedrich Merz’ in Deutschland keine Mehrheit haben.
Die Rolle der Sammlungsbewegung Aufstehen und/oder anderer
Es wäre optimal, wenn sich die Parteien jenseits der CDU/CSU, also vor allem SPD, die Linkspartei und die Grünen endlich auf produktive Zusammenarbeit verständigen könnten und den mit Merz in den Ring geworfenen Handschuh aufgreifen würden.
Es wäre optimal, wenn es zu dieser Zusammenarbeit käme, aber ehrlicherweise muss man gestehen, dass die Chancen schlecht stehen. Die genannten Parteien sind leider infiziert, vom neoliberalen Denken und vom militärischen Denken. Wie wir auf den NachDenkSeiten schon öfter analysiert haben – sie sind zum größeren Teil unterwandert. Ein Dummkopf, der das für eine Verschwörungstheorie hält. Es ist leider Realität.
Die mangelnde Chance, die früher einmal fortschrittlichen Parteien für die große Sammlungsbewegung gegen eine CDU mit Merz zu gewinnen, wird leider auch in einem neuen Papier des Generalsekretärs der SPD sichtbar. Es hängt zu Ihrer Information unten als Anlage an.
Dennoch müsste Sahra Wagenknecht als Initiatorin von „Aufstehen“ noch einmal den Versuch machen, auf die vorhandenen Parteien und Parteiführungen zuzugehen. Die Lage ist zu ernst, um einen solchen letzten Versuch nicht zu unternehmen.
Wenn das nicht fruchtet, dann muss auf der Basis des Rückhalts, den die Sammlungsbewegung „Aufstehen“ bisher gefunden hat, eine neue fortschrittliche Partei gegründet werden.
Diese sollte dann auch Christdemokraten umfassen, zum Beispiel solche aus dem alten Arbeitnehmerlager und solche, die mit der militärisch und atlantisch orientierten Politik ihrer Partei nicht zufrieden sind. Auch um Freidemokraten, die noch Wurzeln in der linksliberalen Tradition der früheren FDP haben, zum Beispiel im Freiburger Programm dieser Partei, sollte geworben werden. Auch diese gehören nicht in das Lager von Merz.
Weil es wichtig ist, wiederhole ich: Eine solche Sammlungsbewegung und die darauf aufbauende Partei hätte große Chancen, wenn sie die Befreiung aus den Fängen der USA und der mit diesen verbundenen neoliberalen Ideologie und und Finanzinteressen zum Kern der Auseinandersetzung machen würde.
Anlage:
“Warum eine polarisierte Gesellschaft eine sozialdemokratische Volkspartei braucht und warum die SPD sich dafür deutlich ändern muss.
Von Lars Klingbeil, SPD-Generalsekretär
Es ist die Stunde der Untergangspropheten. Angetrieben von Umfragen und einzelnen Landtagswahlergebnissen prognostizieren Beobachter zum gefühlt 100. Mal das Ende der SPD, das Ende der Volksparteien insgesamt und nebenbei noch die fast sichere erste grüne Kanzlerschaft.
Es sind schillernde Überschriften, die dort produziert werden. Ob all das so eintritt oder nicht? Wer weiß das heute? Politik ist schnelllebiger geworden.
Trotzdem hat die Debatte einen wahren Kern. Wir erleben eine enorme Polarisierung der Gesellschaft und damit einhergehend auch des politischen Diskurses. Diese Polarisierung hat mehrere Ursachen und ist keine klassische Rechts-Links-Polarisierung. Sie ist komplexer.
Ich glaube, dass die Ursachen der Polarisierung in den Entwicklungen liegen, die unseren Alltag mit immer größerer Geschwindigkeit verändert haben. Europäisierung, Globalisierung. Immer mehr unterschiedliche Familienmodelle. Die tiefgreifenden Sozial- und Wirtschaftsreformen der 2000er. Der Klimawandel. Die Digitalisierung. Die weltweiten Migrationsbewegungen. Unsere Welt und unser Alltag sind in Bewegung.
Diese gewaltigen Umbrüche fanden über einen vergleichsweise kurzen Zeitraum statt, nicht über Generationen hinweg, sondern innerhalb von 20 Jahren. Viele Menschen haben 1989 darüber hinaus noch einen kompletten Systemwechsel erlebt. Die Bürgerinnen und Bürger in Ostdeutschland sind damit sogar seit 30 Jahren einem permanenten Veränderungs- und Anpassungsdruck ausgesetzt.
Zwischen Angst und Mut
Es gibt viele Menschen, denen die Anpassung daran sehr viel abverlangt hat. Viele von ihnen haben von ihren Anstrengungen und Mühen noch nicht einmal persönlich profitiert. Sie sind erschöpft und fürchten den Abstieg. Das ist der eine Pol unserer Gesellschaft.
Der andere Pol besteht aus denjenigen, die leichter mit Veränderungen umgehen konnten oder von ihnen sogar profitiert haben. Sie nehmen die gewaltigen Anpassungsleistungen, gar nicht als solche wahr. Sie blicken vor allem auf die Chancen der vor uns liegenden Entwicklung oder wollen noch größere Veränderungen. Zum Beispiel weitreichendere proeuropäische Reformen, eine stärkere Digitalisierung oder radikalere Maßnahmen gegen den Klimawandel. Auch ich persönlich zähle eher zu diesem Pol.
Viele in meiner Generation können im Großen und Ganzen sagen, dass es in den letzten 20 Jahren meistens besser wurde. Immer mehr Freiheit und Frieden, immer mehr Wohlstand und Chancen. Ich bin 1978 geboren. Ich war der Erste aus meiner Familie, der Abitur gemacht hat, der studieren konnte. Mit 25 Jahren hatte ich schon mehr von der Welt gesehen, als es sich meine Eltern jemals hätten träumen lassen. Ich habe Freunde in Europa und der ganzen Welt. Millionen anderen aus meiner Generation geht es genauso wie mir. Ich fühle mich als Europäer, der in der Lüneburger Heide verwurzelt ist und dort seine Heimat hat. Mir macht Veränderung keine Angst. Im Gegenteil: Auch mir geht heute vieles noch zu langsam.
Politik der kleinen Schritte ist derzeit out
Der erste Pol fühlt sich vom Angebot der Rechtspopulisten angesprochen. Ein Zurück in die verklärt schöne, ruhigere und überschaubarere Vergangenheit der 70er oder 80er Jahre. Gleichzeitig, denn nur dann funktioniert die Geschichte, leugnen AfD, Donald Trump und ihre Kumpels die gesellschaftlichen Herausforderungen und wirtschaftlichen Umwälzungen. Oder sie geben die einfachsten Antworten: “Den Klimawandel gibt es nicht.“, „Menschen auf der Flucht sind lediglich Schmarotzer und Kriminelle”. Machte man die Grenzen dicht, sei das Problem erledigt.
Auf der anderen Seite bieten momentan vor allem die Grünen klare, häufig aber ebenfalls recht simple Wege in eine schönere Zukunft an. Sie haben zumindest beim Klimawandel eine Vision über den Tag hinaus.
Nur diese beiden Parteien profitieren derzeit von der zunehmenden Polarisierung.
Die FDP hat vor der Bundestagswahl mit ihrer Digital- und Zukunftsausrichtung durchaus erfolgreich versucht, sich als Partei der Verändungsfreudigen zu positionieren, bis Christian Lindner in den Jamaika-Verhandlungen wieder der Mut verließ. Die Linke scheint unentschieden: Sarah Wagenknecht will zurück in die Vergangenheit, andere Teile streben nach vorne. Deswegen profitiert auch die Linke von der Polarisierung nicht.
Und die SPD?
Die SPD hat gemeinsam mit den anderen Volksparteien CDU und CSU in der Geschichte der Bundesrepublik für eine Balance gesorgt. Hier die wirtschaftsfreundliche Union, die gesellschaftspolitisch eher am Bestehenden festhalten will. Dort die SPD, die den Fortschritt organisiert und gleichzeitig für soziale Sicherheit sorgt. Durch die Wechsel der Kanzlerschaften und den Föderalismus erlebten wir schrittweisen, aber relativ kontunierlichen Fortschritt durch Kompromisse. Veränderungen im Konsens. So wie in der großen Koalition aktuell auch.
Nur spricht diese Politik der kleinen Schritte die beiden beschriebenen Pole momentan überhaupt nicht an. Zumal die vielen Streitereien der vergangenen Monate, die ihren Ursprung meist in der Union hatten, für die meisten nicht nachvollziehbar waren und dem Image der Regierung geschadet haben.
Wer hält die auseinanderstrebenden Pole zusammen?
Was bedeutet diese gesellschaftliche Veränderung nun für die Sozialdemokratie? Es gibt in dieser Ausgangslage eine Notwendigkeit, die Daseinsberechtigung der SPD neu zu begründen. Sie muss sich radikal verändern. Es wäre aber völlig falsch, als Reaktion auf die beschriebene Polarisierung die Ausrichtung als Volkspartei aufzugeben. Denn Volksparteien definieren sich durch den Anspruch, Politik für die Mehrheit der Menschen zu machen, nicht durch Umfrage- oder Wahlergebnisse.
Ich bin überzeugt: Es braucht eine politische Kraft, die beide Pole unserer Gesellschaft wieder näher zusammenführt. Ich glaube, die SPD kann das, weil sie in ihren besten Momenten immer den Fortschrittsdrang einer Gesellschaft so organisiert hat, dass die große Mehrheit dabei mitgenommen wurde und profitiert hat.
Dafür braucht man nicht bis zu Willy Brandt zurückgehen. Das gelingt auch heute noch. Es ist der Grund, warum die SPD trotz der größten Umfrageklatschen immer noch überragende Ergebnisse bei Landtags- und Bürgermeisterwahlen erzielt hat: Malu Dreyer, Stephan Weil und zuletzt – genau am Tag der desaströsen Bayern-Wahl – Mike Schubert als neuer Oberbürgermeister in Potsdam.
Dort, wo glaubwürdige, vor Ort verankerte Persönlichkeiten mit einem nachvollziehbaren Programm Menschen mit unterschiedlichen Interessen und Wünschen zusammenführen und dabei behutsam, aber entschlossen in die Zukunft streben, haben sie eine Chance zu gewinnen. Das sollte Vorbild für die zukünftige Ausrichtung der SPD sein.
Vision und Haltung als Ausgangspunkt – Kompromiss als demokratische Notwendigkeit
Dazu gehört allerdings, dass die SPD klarmacht, wo sie hinwill. Dazu gehört auch die Ehrlichkeit, es nicht allen Recht machen zu können. Dazu gehört es, nicht jede Debatte der Regierungslogik unterzuordnen. So schwer das vielen in meiner Partei nach fast 20 Jahren Regierungsbeteiligung im Bund fällt. Sagen, was man will. Gestalten, was man kann – ohne die eigene Vision und die Haltung zu verraten.
Deshalb war es richtig, dass wir unsere Haltung zum Thema Rente vor dem Rentenkompromiss in der Bundesregierung deutlich gemacht haben. Unser Ziel ist eine stabile Rente über das Jahr 2040 hinaus. Weil es ein Versprechen des Staates sein muss, dass jeder, der jahrzehntelang gearbeitet hat, sich auf seinen Ruhestand freuen kann. Das ist unsere Überzeugung und die machen wir deutlich – auch wenn es viel Geld kosten wird und mit der Union aktuell nicht mehr drin ist als eine Garantie bis 2025.
Wir brauchen diese Klarheit bei allen Themen, damit deutlich wird, dass der Kompromiss nicht unser Ziel ist. Er ist höchstens ein politisches Mittel auf dem Weg in eine bessere Zukunft. Am Anfang muss die Vision stehen.
Ich will ein Sozialsystem, das nicht von Misstrauen und Bürokratie geprägt ist, sondern Sicherheit und Unterstützung bietet. Dazu gehört, dass wir Anstrengungen zur Qualifizierung und Jobsuche erwarten und belohnen. Vor allem aber will ich dafür sorgen, dass kein einziges Kind in Deutschland in Armut aufwächst. Deshalb möchte ich, dass jedem Kind in Deutschland eine bedingungslose Grundversorgung zusteht, die weit über das heutige Kindergeld hinausgeht und allen Kindern die Chancen eröffnet, die ihnen viele Eltern heute aus unterschiedlichen Gründen nicht bieten können. Das ist mein Ziel und dafür brauchen wir Reformen auf dem Weg zu einem neuen Sozialstaat 2025, der sich den Bürgerinnen und Bürgern zuwendet, statt sie zu gängeln. Die SPD muss dafür Kapitel der Vergangenheit abschließen.
Ich will, dass Deutschland Vorreiter bei der Digitalisierung wird, auch wenn ich weiß, dass dadurch Jobs wegfallen oder sich verändern werden. Künstliche Intelligenz bietet enorme Chancen auf Wachstum und Arbeitsplätze. Dafür müssen wir Skepsis und Ablehnung ablegen. Ich will, dass die riesigen Unternehmensgewinne, die durch Automatisierung und Roboterisierung entstehen werden, der Gesellschaft zu Gute kommen. Zum Beispiel durch eine Besteuerung von Wertschöpfung durch Maschinen, eine andere Verteilung von Arbeitszeit und sogar Grundeinkommensmodelle, die für mehr Sicherheit und eine echte, partnerschaftliche Vereinbarkeit von Familie und Beruf sorgen. Ich will, dass der Staat und die Unternehmen verpflichtet werden, einen wesentlichen Teil der Digitalisierungsgewinne in die Qualifizierung der Arbeitenden zu finanzieren, um sie fit zu machen für neue Jobs im IT-Sektor oder in sozialen Berufen, die hier in Deutschland gebraucht werden.
Ich will eine emissionsfreie Energieerzeugung. Ohne Kohle. Ich will diesen Wandel gemeinsam mit den betroffenen Menschen und Regionen organisieren. Durch viele neue Jobs im Bereich der erneuerbaren Energien und gezielte Förderung der vom Wandel betroffenen Regionen und ihren Arbeiterinnen und Arbeitern.
Ich will, dass die Chefs in den Autokonzernen endlich verstehen, dass Arbeitsplätze nicht vor allem durch CO2-Auflagen gefährdet sind, sondern weil diese Unternehmen die Zukunft der Mobilität verschlafen. Mein Ziel ist eine emissionsfreie Mobilität. Gleichzeitig sehe ich aber die Notwendigkeit, in der Zwischenzeit dafür zu sorgen, dass kein Dieselfahrer dafür bestraft wird, dass ihm jahrelang von den Konzernen etwas vorgemacht wurde.
Ich will, dass Deutschland Geflüchteten, die vor Krieg oder politischer Verfolgung fliehen einen Zufluchtsort bietet. Ich will, dass wir Menschen, die nach Deutschland kommen, um hier zu arbeiten, zu forschen oder zu studieren, greifbare Perspektiven bieten und sie mit offenen Armen empfangen. Mein Ziel ist eine vielfältige und offene Gesellschaft. Und ich will gleichzeitig, dass der Staat das vernünftig organisiert und in Integration und Gemeinschaft investiert. Dazu gehört, schnell zu entscheiden, wer nicht hierbleiben kann, und das dann auch durchzusetzen.
Und ja, die SPD muss Verteilungsfragen endlich wieder viel entschlossener angehen. Wenn die Unterschiede zwischen Arm und Reich immer größer werden, müssen wir die Superreichen viel stärker in die Verantwortung nehmen, als das bisher der Fall ist und über Investitionen aber auch Entlastungen bei den Einkommensschwachen für neue Spielräume sorgen. Die neue SPD muss mit ihrem Programm dafür sorgen, dass Aufstieg wieder zum Motor unserer Gesellschaft wird.
Das sind einige Beispiele dafür, was die SPD tun muss, um die unterschiedlichen Pole dieser Gesellschaft wieder zusammenzuführen. Wenn gesellschaftliche Konflikte so aufgelöst werden, dass am Ende immer Gewinner und Verlierer übrigbleiben, sorgt das am Ende dafür, dass unsere Gesellschaft auseinanderfällt. Mit dramatischen Folgen für alle. Keiner Partei wird es gelingen wird, 100% ihrer Politik durchzusetzen. Es darf in einer Demokratie nie darum gehen, andere Positionen komplett zu vernichten. Im Gegenteil: Die Kompromiss- und Konsensfähigkeit hat unser Land über Jahrzehnte stark gemacht.
Es bringt in dieser polarisierten Zeit wenig, Recht zu haben oder sich im Recht zu fühlen. Es geht darum, in dieser Gesellschaft gemeinsam Fortschritt und Zusammenhalt zu organisieren. Das geht nur mit Vision und klarer Haltung.
Und dahin möchte ich die Sozialdemokratie verändern. Mit vielen, die das genauso sehen. ”
Kommentar eines SPD Mitglieds und NachDenkSeiten Lesers:
„In panischer Reaktion auf die Wahlergebnisse, die deutlich machen, dass sich viele Wähler von der regierenden Koalition nicht mehr mit neoliberalem Schaum abspeisen lassen wollen, hat der SPD-Generalsekretär Klingbeil diesen Text verfasst. Ich habe den Text 3 mal gelesen. Die Worte Arbeitnehmer, Löhne, Beteiligung am Unternehmergewinn, Arbeitsbedingungen, Frieden und Völkerverständigung kommen überhaupt nicht vor. Beim Thema Rente wird die “Stabilisierung” des derzeitigen Niveaus, die damit verbunden sei “viel Geld in die Hand zu nehmen”, als Errungenschaft und Zukunftsverheißung proklamiert. Das ist der letzte Rohrkrepierer, der bei mir das Fass zur Explosion bringt. Ich schäme mich dafür, dass ich mit meinen Beiträgen Leute wie Klngbeil bezahle …“
Die NachDenkSeiten werden auf das Klingbeil-Papier noch einmal zurückkommen.