Brasilien – Mit Wahlsieger Jair Bolsonaro ergreift US-freundliches Militär die Macht und befeuert die rechtsradikale Weltszene – Teil 1: die Wahlnacht
Die Chronik des angekündigten Desasters schrieb an diesem 28. Oktober ihren Epilog: Mit 55:45 Prozent der gültigen Stimmen wurde Fernando Haddad von Jair Bolsonaro besiegt und zum neuen Präsidenten Brasiliens gewählt. Der zahlenmäßige Vorsprung Bolsonaros überstieg 10 Millionen Stimmen. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.
Grob zusammengefasst: Gegen den Willen von 46,13 Millionen Wählern für Demokratie, Grundfreiheiten und Sozialstaat besiegelten 57 Millionen Brasilianer umgekehrt eine Entscheidung für die Einschränkung der Demokratie, die grenzenlose Volksbewaffnung, die Rückkehr der Militärs an die Staatsmacht und die Unterwerfung des Staates unter einen makabren und verlogenen religiösen Fundamentalismus.
Die parteipolitische Aufspaltung des Landes schreitet voran. Die 27 neu gewählten Landesgouverneure gehören mindestens 12 unterschiedlichen Parteien an, von denen die Arbeiterpartei (PT) mit 4 Gouverneuren im Nordosten, der Hauptbastion der PT, ebenso wie in der Abgeordnetenkammer die Mehrheit stellen wird. Mindestens 12 der neuen Gouverneure dürfen jedoch als künftige enge Verbündete Bolsonaros bezeichnet werden.
Allerdings ging für die Stichwahl weder die Rechnung der Strategen Bolsonaros noch der Haddads in einer besonders empfindlichen Wählernische auf. Trotz aller Anwerbungsversuche enthielten sich nach Angaben des Obersten Wahlgerichts (TSE) mehr als 21,2 Prozent – in Zahlen: gewaltige 30,1 Millionen – Wähler der Stimme. Unausgefüllte (2,16 Prozent) und ungültige Stimmzettel (7,44 Prozent) summierten sich auf weitere 8,3 Millionen verlorene Stimmen.
Unter dem Strich war 38,3 Millionen von insgesamt 147 Millionen Wahlberechtigten eine Entscheidung zwischen Demokratie und “Demokratur” – ein durch Wahlen eingeschleustes Regime mit Konturen einer Diktatur – einerlei, was über mangelnde politische Bildung und Diskreditierung der politischen Institutionen Bände spricht.
Fernando Haddad, der Titan auf tönernen Füßen
Jair Bolsonaro, der bereits 2016 seine Kandidatur angekündigt hatte, gewann zwar die Wahl, doch der Gigant dieser schmutzigsten und betrügerischsten Wahl aller Zeiten – deren kybernetischer Krieg der rechtsradikalen Szene um den Ex-Hauptmann des Heeres längst nicht aufgeklärt ist und bisher von der Justiz hintertrieben wird – heißt Fernando Haddad. Der Ex-Bildungsminister Lulas, vielfacher Buchautor und Hochschulprofessor brachte es fertig, in kaum sechs Wochen seine Wählerpräferenz von 5 Prozent auf 45 Prozent in nahezu geometrischer Progression um das Achtfache zu katapultieren.
Dass es ihm nicht gelang, den faschistischen Kandidaten einzuholen und zu besiegen, lag vor allem an der zu knapp bemessenen Zeit zwischen seiner Ersatz-Nominierung am 11. September und der ersten Wahlrunde vom 7. Oktober, bei der er bereits 29 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen und innerhalb von drei Wochen um weitere 16 Prozent auf insgesamt 45 Prozent ausbauen konnte.
Haddad wurden gleichzeitig mehrere Knüppel zwischen die Beine geschleudert. Mit einer nie dagewesenen und von Bolsonaro gesteuerten Fake-News-Welle wurde er ohne eigenes Dazutun zum Opfer eines Wähler-Ablehnungstrends um die 41 Prozent, der seine Ursprünge in der Hasswelle gegen den eingekerkerten Altpräsidenten Lula hatte.
Zum anderen wurde er zwischen dem ersten Wahlgang und der Stichwahl von seinem Mitte-Links-Rivalen und ehemaligen Lula-Minister Ciro Gomes aufs Gröbste betrogen. Der anstelle seiner selbst wegen der Haddad-Nominierung durch Lula ohnehin beleidigte und für rüden Umgang bekannte Politiker hatte im ersten Wahlgang 12 Prozent der Stimmen erzielt, versuchte mit Hilfe konservativer Parteien dennoch Haddad die Führung streitig zu machen, versprach ihm schließlich zähneknirschend die Unterstützung für die Stichwahl, verließ jedoch kommentarlos seine Wähler und verschwand für drei Wochen „Urlaub” nach Europa.
Von den kleineren Parteien, namentlich der kommunistischen PCdoB und der sozialistischen PSOL abgesehen, kam es nicht zur angekündigten Bildung der “Breiten Demokratischen Wählerfront”, womit Haddad notgedrungen allein die von feindlicher Propaganda verseuchte Wahlszenerie durchkämpfen musste.
Übergeordneter und entscheidender Grund für die Niederlage Haddads war jedoch eine fatale und unverzeihbare Fehleinschätzung Lula da Silvas. Die manchenorts gehörte Ausrede, weder Lula noch der Vorstand der Arbeiterpartei hätten ahnen können, dass der mit der Amtsenthebung Dilma Rousseffs 2016 eingeleitete Putsch in seiner eigenen Verhaftung gipfeln würde, ist unredlich. Selbstverständlich hätten die PT und Lula mit einer Eskalierung – im Klartext: mit seiner Kandidatur-Verhinderung durch die rechtsradikal unterwanderte Justiz – rechnen und für einen Ersatz sorgen müssen. Das stand nicht etwa in den Sternen, sondern war tausendfach angekündigt und hunderte Male selbst von Dilma Rousseff vorgewarnt worden.
Hätte also Lula die eigene Kriminalisierung von der erforderlichen Wahlstrategie der Partei zu trennen gewusst oder gewagt, und wäre Haddad spätestens im April, nach Lulas Verhaftung, zum Stellvertreter ernannt worden, hieße mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit heute der neue brasilianische Präsident nicht etwa Jair Messias Bolsonaro, sondern Fernando Haddad.
Facebook-Rede an die Nation und verfassungswidrige Militärparade
In seiner ersten Rede als gewählter Präsident griff Bolsonaro in scharfem Ton sowohl Medien als auch die Opposition, insbesondere die PT, an. Anstelle einer offenen und publikumsfreundlichen Pressekonferenz stotterte der Rechtsradikale in Begleitung eines fundamentalistisch-evangelikalen Pastors mit einer Facebook-Live-Übertragung seine Rede von Papier, versprach mit vagen Worten, die Verfassung einzuhalten, sich auf die Wiederankurbelung der Wirtschaft zu konzentrieren und – ja! – auch die individuellen Freiheiten zu respektieren.
Doch dann zog er gegen die vormals als „rote Banditen“ bezeichneten Gegner vom Leder und stimmte ein Hohelied auf die Befreiung Brasiliens an; ein Land, so erfuhr man erstaunt, „dessem Flirt mit dem Sozialismus, Kommunismus, Populismus und Extremismus nun ein Ende…” gesetzt sei.
Sodann trat Gott in Szene. „Was ich am meisten neben der Verfassung wünsche, ist die Lehre Gottes. Mit seiner Hilfe und guter technischer Beratung erheben wir uns bald in die Gruppe der Weltführer…”. Jaja, „die Gesetze (seien) für alle da”, unsere Regierung und Verfassung bleibt demokratisch”, dichte er dazu.
An dieser Stelle schaltete sich der faschistoide Pastor Magno Malta ein. „Die Fühler der Linken sind endgültig von der Hand Gottes amputiert worden”, warnte der irre Fundamentalist und schwor: „Bolsonaro ist in göttlicher Mission gekommen!”.
Milton Hatoum, auch ins Deutsche vielübersetzter Romanautor, kommentierte:
„Die erste Rede des neugewählten Präsidenten war beschämend. Vorgetragen unter Auserwählten und Helfern, mit geschlossenen Augen betend, schien Bolsonaro als Führer einer religiös-fundamentalistischen Sekte und nicht als politischer Führer eines säkularen Staates aufzutreten.“
Die von selten gehörter, vulgärer Sprache und Betonung gespickte Rede nahm den zu erwartenden Regierungsstil vorweg. Nicht weniger vulgär waren die Berater und Schmeichler, die den Hauptmann umgaben. Als ich die pathetische Szene des Gebets und der Rede sah und hörte, erinnerte ich mich an die Sätze einer Kurzgeschichte von Tschechow:
„Ich bin auf allen Seiten von Rohheit, stumpfen, leeren Menschen umgeben … Es gibt nichts Schrecklicheres, Unheimlicheres, Deprimierenderes als das Vulgäre. Nichts wie von hier und heute fliehen, sonst werde ich verrückt!”.
Als Bolsonaro seine wie aus verdunkeltem Untergrund gesendete Rede an die Nation beendet hatte, rollten als Akt frechen Verfassungsbruchs Panzer und Militärfahrzeuge auf den Straßen Rio de Janeiros und tollwütig anmutende, faschistische Möchtegern-Milizionäre schossen sich an einem Schießstand ihre Siegesfreude und Wut gegen alles Demokratische von der hassbeladenen Seele.
Die Masse jubelte. Finstere Tage, schlimmes Brasilien.