Anne Will zur Hessenwahl: Politiktheater, Weißwaschung und die Sehnsucht nach einer neuen Partei
Die Verluste der „Volksparteien“ sind Ausdruck überfälligen Bürgerunmuts. Die Talkshow dagegen war eine neue Etappe der Selbstrechtfertigung jener Personen, die die Politik und die Propaganda der letzten Jahrzehnte geprägt haben. Nichts könnte falscher sein als das bei Anne Will einmal mehr verbreitete Mantra von den Bürgern, die genug vom politischen Streit hätten. Von Tobias Riegel.
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Der Rechtsruck in Deutschland und das nun auch bei der Hessenwahl beobachtete Abwenden von den Volksparteien sind Symptome einer jahrzehntelangen neoliberalen Politik. Die Verantwortlichen dieser Politik werden dieser Tage jedoch nicht müde, die selbst geschaffenen Symptome als Ursachen gesellschaftlicher Eruptionen darzustellen. Zu beobachten war das Phänomen wie unter einem Brennglas bei der Anne-Will-Sendung zur Hessenwahl: Ein neoliberales Quartett aus CDU, SPD, FDP und Grünen machte für die Verluste der „Volksparteien“ die inneren „Querelen“ der großen Koalition verantwortlich – und eben nicht die eigenen politischen Inhalte, den sozialen Kahlschlag und die daraus folgende Existenzangst.
Die Talkshow war darum ein Paradebeispiel des kanalisierenden Politiktheaters, mit der zentralen Botschaft: Angeblich würden die Bürger weniger „Streit“ verlangen – dabei ist es doch im Gegenteil die furchtbare Einigkeit unter den dominanten Parteien, die Verdruss und politische Heimatlosigkeit auslöst. Als Krönung wurde ein charmanter Show-Kampf zwischen FDP-Chef Lindner und seinem Pendant von den Grünen, Robert Habeck, als jener sehnsüchtig erwartete „Konflikt“ gefeiert, der der Demokratie neues Leben einhauchen könne. Politik als missratenes Boulevard-Stück.
Die Zuschauer wurden bei der Anne-Will-Sendung also Zeugen einer neuen Etappe der versuchten Weißwaschung jener Personen, die die Politik und die Propaganda der letzten Jahrzehnte geprägt und damit die gegenwärtigen Verhältnisse (sei es Rechtsruck, Syrienkrieg, Pflegenotstand oder Altersarmut) zu verantworten haben: Mit dem Verweis auf die „Fratze AfD“ soll von dieser Verantwortung jedoch abgelenkt werden, und die eigene Existenz soll als „letzter Schutz“ vor den selber verursachten gesellschaftlichen Erschütterungen erscheinen. Die Wählerwanderungen innerhalb des Parteien-Quartetts können als politisch folgenlose Demokratie-Kosmetik betrachtet werden. Zu einer echten inhaltlichen Umkehr ist keine der bei Anne Will vertretenen Parteien bereit – auch weil sie medial noch immer zu neoliberaler Politik getrieben werden.
Eine ganz große, parteien- und medien-übergreifende Koalition
Dazu passte, dass in der Runde nicht nur Politiker, sondern mit Christiane Hoffmann vom „Spiegel“ auch eine zentrale journalistische Verfechterin des Neoliberalismus vertreten war. Hoffman komplettierte also die ganz große, parteien- und medien-übergreifende Koalition, in der arbeitsteilig die Politiker von den Journalisten zu immer neuen Kürzungen und Schwächungen des Staates „angetrieben“ werden. Stimmig war nach dieser Lesart auch der Ausschluss der LINKEN von der Runde: Zum einen konnten so die möglicherweise entlarvenden Einlassungen der Partei vermieden werden, zum anderen konnte man sie einmal mehr in einen „extremistischen“ Topf mit der AfD stecken, die ebenfalls nicht in der Talkrunde vertreten war.
Nichts könnte falscher sein als das bei Anne Will einmal mehr verbreitete Mantra von den Bürgern, die genug vom politischen Streit hätten: Zwar könnten die meisten Menschen wohl auf eine Farce wie jene um Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen verzichten – geradezu sehnsüchtig warten sie aber auf Politiker, die einen echten inhaltlichen Konflikt beginnen würden, die sich trauen würden, endlich wieder die Systemfrage zu stellen. Das wird von CDU, SPD, FDP und Grünen standhaft und selbstzerstörerisch verweigert.
Die Verluste von CDU und SPD nun auch in Hessen sind darum ein wichtiges und überfälliges Signal des Bürgerprotestes. Dass dieser sich endlich im Wahlverhalten äußernde Unmut die Menschen allerdings ausgerechnet zu den Grünen und zur AfD treibt, ist tragisch. Dieses Phänomen ist jedoch auch zwingende Folge des weitgehenden Ausfalls der LINKEN als glaubwürdige und fortschrittliche Alternative.
Selten war darum das Bedürfnis nach einer neu zu gründenden progressiven Partei so deutlich zu spüren wie in der Anne-Will-Sendung zur Hessenwahl.