Haddad vs. Bolsonaro – Brasiliens dramatische Stichwahl zwischen Demokratie und autoritärem Unrechtsstaat
Am vergangenen 21. Oktober schienen die Millionenstädte Rio de Janeiro und São Paulo in Dystopien aus dem Reich der Literatur und des Science-Fiction-Kinos verwandelt. Zigtausende in Gelbgrün gekleidete Menschen lauschten kurzen, von langen Pausen unterbrochenen und aus der Ferne auf Leinwände unter offenem Himmel projizierten Sätzen eines Mannes, der aus einem Hausgarten seine Drohungen in ein Handy bellte. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.
Ja, er sprach nicht wie ein normaler Mensch, sein Körper schwankte hin und her, er schlug einen kläffenden Ton an. „Lasst uns die roten Kriminellen von der Landkarte Brasiliens fegen!”. „Dieses Gesockse, will es weiter hierbleiben, wird es sich dem Gesetz von uns allen unterordnen müssen! Entweder sie verlassen das Land oder sie landen im Gefängnis!”, lautete seine Drohung. Entlang São Paulos Nobelallee Paulista standen parkende Autos, die die Rede per Lautsprecher verstärkten. Vor der Leinwand geriet die Menge in Ekstase, erhob die Arme und jubelte dem “Big Brother” mit der Anbetung zu: „Der Mythos – unser Mythos!”.
Die Szene schien eine verblüffende Laien-Neuinszenierung jener „Two Minutes Hate“- („Zwei-Minuten-Hass”)-Passage in George Orwells Polit-Klassiker „1984” und seiner genialen Filmfassung Michael Radfords, mit John Hurt und Richard Burton in den Hauptrollen. In jenem täglichen Ritual mussten die Anhänger des Faschistenführers Ozeaniens sich einen Film über die Feinde der Partei ansehen und sich dabei zwei Minuten lang ihren tiefen Hass aus der verfinsterten Seele brüllen. Das schaffte der Zeremonienmeister mit dem Handy, der nicht Emmanuel Goldstein wie in Buch und Film, sondern Jair Bolsonaro heißt.
Wenige Tage vor der Stichwahl, aus der am 28. Oktober der brasilianische Präsident für die kommenden vier Jahre hervorgehen wird, steht das größte Land Lateinamerikas unter Strom und versetzt auch einen Großteil der Welt in Spannung. Wie bekannt führt bisher der Ex-Hauptmann des Heeres als Favorit die Umfragen an, weshalb selbst die Mehrheit der konservativen internationalen Leitmedien, die vor drei Jahren noch für eine illegale Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff Stimmung machten, Warnungen vor einem autoritären, gewalttätigen und umweltfeindlichen Regime aussenden.
Die Justizermittlungen gegen die schmutzige Wahlkampagne Bolsonaros und seine ungeheuerlichen Drohungen, als Wahlsieger und künftiger Staatschef die Kriminalisierung und erbarmungslose Verfolgung der linken Opposition einzuleiten, haben mittlerweile auch in Brasilien einen Großteil konservativer Meinungsbildner umgestimmt, darunter vor allem Journalisten und Politiker, jedoch auch eine beachtliche Anzahl einflussreicher Vertreter der evangelikalen Kirchenszene, die geschlossen hinter dem faschistischen Präsidentschaftsbewerber zu stehen schienen, doch nach geschickter Abwerbungstaktik vom Rivalen der Arbeiterpartei (PT), Fernando Haddad, von ihm abrückten.
Bolsonaros arrogante Weigerung – seine Kritiker sagen, es sei Angst – sich Fernsehdebatten mit Haddad zu stellen, könnte ihm zum Verhängnis werden; selbst wenn der angebliche Hauptgrund seiner Debatten-Abwesenheit der ihn seit der Messerattacke begleitende, unwohl riechende Kolostomiebeutel ist.
Genauer betrachtet scheint Brasilien nicht in zwei hoffnungslos unversöhnliche politisch-ideologische Lager, sondern vom weltweiten Zeitgeist gespalten: auf der einen Seite die Kräfte der demokratischen Toleranz, des sozialen Wohlstands und der Friedfertigkeit; auf der anderen der Block religiöser Vorbeter des neoliberalen Mantras vom schlanken Staat und der skrupellosen Vorherrschaft des Marktes, gefolgt von indoktriniertem, ideologisiertem und brutalisiertem Fußvolk. Doch im brasilianischen Fall mit einem entscheidenden Unterschied: Hinter den Kulissen ziehen gewaltbereite Militärs und eine in skandalösem Ausmaß rechtsradikal unterwanderte Justiz die Fäden; beide aufs Engste mit den USA liiert.
Gelingt die “Virada”?
In den letzten 72 Stunden vor dem nervenaufreibenden Urnengang von rund 147 Millionen stimmberechtigter Brasilianer ist allerdings im demokratischen Lager die Rede von der “Virada”, einer “Wende” in den Umfragen. Nach jüngsten Erhebungen des Datafolha-Instituts brach Bolsonaros Führung von 59 Prozent auf 56 Prozent ein und stieg umgekehrt Fernando Haddads Stimmenpotenzial von 41 Prozent auf 44 Prozent. Bolsonaro büßte also insgesamt 6 Prozent ein. In der ebenfalls am 25. Oktober veröffentlichten Erhebung des Konkurrenzinstituts Vox Populi im Auftrag des gewerkschaftlichen Dachverbandes CUT läge Haddad nur noch 5 Prozent hinter dem Militär, was im Lager der Arbeiterpartei und ihrer Verbündeten wohl etwas überstürzt als „technisches Patt” ausgelegt wird. Am 24. Oktober zelebrierten immerhin 70.000 Haddad-Wähler in Rio de Janeiro den Umschwung.
Wahlexperten schätzen jedenfalls, dass 15 Prozent der Wähler nach wie vor unentschlossen sind und dass insgesamt 25 Prozent sich erst auf dem letzten Drücker, nämlich zwischen Donnerstag und Samstag, für einen der beiden Kandidaten entscheiden werden. So richtet die PT ihr besonderes Augenmerk auf das gewaltige Potenzial jener 29 Millionen, die im ersten Wahlgang zu Hause blieben. „Wir dürfen uns keine einzige Minute Pause erlauben! Jetzt heißt es, Ärmel hochkrempeln und nix wie auf die Straßen!”, ermutigte und ermahnte zugleich Pedro Stédile, legendärer Sprecher der Bewegung der Landlosen (MST), Lula- und Haddad-Verbündeter, seine Landsleute per Twitter.
Die Reaktion der Bolsonaro-Wahlleitung ließ nicht lange auf sich warten. Ein Reserve-General und potenzieller Verteidigungsminister in einer virtuellen Regierung des Faschisten lud nach wenigen Stunden ein Video ins Netz, in dem er hämische Kritik an Datafolha übte und die rechtsradikale Szene dazu aufrief, die neuesten Umfragen zu ignorieren. Sie seien nichts anderes als eine „weitere Farce der Arbeiterpartei, die im Übrigen …” – und bei dem Satz durfte man Heleno ohne schlechtes Gewissen das Wort abschneiden. Denn der ebenfalls rechtsradikale hohe Offizier betete zum zigsten Male die Litanei haarsträubender und verlogener Behauptungen herunter – wie zum Beispiel, die PT habe „das Land ruiniert”, die seit Jahren das Grundmuster des Anti-Petismo bildet, also des fast missionarisch anmutenden Kreuzzugs gegen Altpräsident Lula und die größte Volkspartei Brasiliens aller Zeiten, und vor allem ihren Ursprung in den Kasernen hat.
Des Saubermanns Bolsonaro und seiner Verbündeten schmutzige Weste
Jair Bolsonaro wird in der Tat von verlogenen Mythen umrankt, ist genau genommen jedoch ein Bluff. Seit 28 Jahren mit der Wanderung durch 9 unterschiedliche Parteizugehörigkeiten als Abgeordneter in Brasília aktiv, ist seine legislative Leistung gleich Null. Der wortradikale, doch des gepflegten Portugiesischen kaum mächtige Ex-Heereshauptmann war stets immer Mitglied des „niederen Klerus”, wie eine Abgeordnetengruppe mit wenig Eigenlicht bekannt ist. Allerdings führt Bolsonaro die Statistik parlamentarischer Strafverfahren mit vielfachen Anklagen an, darunter wegen zahlloser Verleumdungen und angedrohter Vergewaltigung.
Einer der von ihm selbst angedichteten Mythen ist seine angebliche Unbestechlichkeit, die ihn an der Seite des von der rechtsradikalen Szene ebenfalls angebeteten Richters Sergio Moro als Vorreiter “gegen die Korruption” ausweise und legitimiere. Doch schon 2015 wackelte das Image, als sein Name in der berüchtigten Liste des privatisierten Energieversorgungsunternehmens Furnas auftauchte, das im Jahr 2000 illegale Wahlspenden an 156 Kandidaten leistete, darunter an den seit Ende 2016 wegen schwerer Korruption inhaftierten Ex-Präsidenten der Abgeordnetenkammer und Busenfreund Bolsonaros, Eduardo Cunha. Wie die Liste attestierte (siehe Fotokopie Furnas), erhielt der Militär 50.000 Reais, etwa den gleichen Wert in Euro nach damaligem Umrechnungskurs (O que Jair Bolsonaro está fazendo na Lista de Furnas” – Diaro do Centro do Mundo, 17. Dezember 2017).
Drei Jahre später hatten brasilianische Medien Zugang zu einer beachtlichen Liste von 13 Immobilien – zumeist in Rio de Janeiros gehobenen Wohnvierteln Copacabana, Barra da Tijuca und Urca gelegen – zum umgerechneten Marktpreis von mindestens 3,5 Millionen Euro, die der Präsidentschaftskandidat und seine drei Söhne Flávio, Carlos und Eduardo – allesamt in politischen Ämtern – in den vergangenen Jahren angeblich mit ihren Parlamentarierdiäten erworben haben wollen. Die Tageszeitung erhob Verdacht auf Geldwäsche, die Ermittlungen wurden niemals von der Justiz ernstgenommen.
Als Skandal ersten Ranges platzte obendrein im Januar 2018 die Parasitierung des Staates durch die Familie Bolsonaro. Wie die Tageszeitung Folha de S. Paulo ermittelte, haben sich Jair Bolsonaro und sein Sohn Eduardo seit Ende der 1990-er Jahre eine zwar legale, jedoch ausschließlich für in der Hauptstadt wohnungslose Abgeordnete vom Parlament zugedachte Zahlung einer “Mietzulage” in monatlicher Höhe von 6.167 Reais (umgerechnet 1.540 Euro) in die Tasche gesteckt. Bis Ende 2017 summierte sich die Zulagen-Aneignung auf 730.000 Reais, immerhin die stolze Summe von umgerechnet 182.500 Euro, die dem Gegenwert von 765 Arbeiter-Mindestlöhnen unter der Regierung Temer entsprechen.
Was aber war nicht legal an der Einkassierung? Illegal war die Inanspruchnahme, denn längst hatten die Bolsonaros Ende der 1990-er Jahre in Brasília eine rund 70 Quadratmeter große 2-Zimmer-Wohnung erworben, deren Besitz sie vom rechtlichen Anspruch auf die Mietzulage ausschloss. Auf die unsaubere Mittelaneignung angesprochen, redete sich der Präsidentschaftskandidat wiederholt mit nicht nachweisbaren Behauptungen heraus und unterstellte der Bekanntmachung des Missstands „Verleumdungsabsichten” durch Medien und die Arbeiterpartei.
Der Mythos von der „unbestechlichen Rechten”, die seit Jahren mit dem Mund voller Anklagen gegen „die Korruption der PT” zu Felde zieht, wurde endgültig in zwei Fällen – der erste im vergangenen August, der zweite Mitte Oktober – begraben. Im ersten Fall wurde Bolsonaros Vizekandidat, Reserve-General Hamilton Mourão, der Begünstigung des spanischen Rüstungskonzerns Tecnobit beim Ankauf des Fire-Support-Simulator-Waffensystems beschuldigt, auf dessen Kosten auch dieser Feldherr „gegen die Korruption” mehrfache, familiär begleitete Europareisen mit Aufenthalt in Luxushotels und Restaurants genoss.
Im Mittelpunkt des wohl beeindruckendsten, jedoch vom Wahlkomitee Bolsonaros rasch versteckten Skandals steht des Kandidaten vorgemerkter Finanzminister, der ehemals für die Pinochet-Diktatur in Chile als Professor tätige “Chicago Boy” und Bankier Paulo Guedes. Die Staatsanwälte ermitteln gegen Guedes wegen des Verdachts von schwerem Betrug im Geschäft mit staatlichen Pensionsfonds. Demnach nahm der Banker im Verlauf von sechs Jahren umgerechnet mindestens 250 Millionen Euro der halbstaatlichen Fonds Previ (Banco do Brazil), Petros (Petrobras), FUNCEF (Cash), Postalis (Post) und BNDESPar (Staatliche Bank für wirtschaftliche und soziale Entwicklung) auf, die er jedoch nicht gewinnbringend anlegte, sondern, so die Hinweise, den Löwenanteil davon in sein eigenes Unternehmen HSM Educacional SA investierte. Die Staatsanwaltschaft untersucht, ob das Geschäft ohne angemessene Analyse und mit überzogenen Gewinnen jemals genehmigt wurde.
Die Ermittlungen laufen ohne bisherige Verurteilung weiter. Also läuft auch Guedes unbekümmert durch die Gegend und kündigt für den Fall eines Wahlsiegs Bolsonaros die radikale Privatisierung sämtlicher Staatsunternehmen an, die mit ca. 150 Milliarden Dollar die Staatsverschuldung entlasten sollen. Doch die demokratische Öffentlichkeit staunt. Bisher verschwendete Guedes kein Sterbenswort über die Hauptursachen der Verschuldung: die schwindelerregenden Zinszahlungen an Schuldtiteleigner, aber vor allem die skandalöse Steuerhinterziehung – allem voran die der großen Landbesitzer – die 2017 die obszöne Summe von 1,3 Billionen Reais (umgerechnet ca. 250 Milliarden Euro) erreichte.