Brüssel vs. Italien – wenn die Ideologie die Demokratie entmachtet, hat Europa keine Zukunft
Wenn das Budgetrecht wirklich das „Königsrecht“ des Parlaments ist, dann zeigt uns der aktuelle Disput über den italienischen Staatshaushalt, wer in der EU tatsächlich „der König“ ist. Abseits der ökonomischen Fragen scheint die EU-Kommission an Italien ein Exempel statuieren zu wollen – Ihr könnt wählen, wen ihr wollt. Am Ende bestimmen wir ohnehin, wo es lang geht. Ein Signal, das vor allem in der aktuellen Phase des internationalen Rechtsrucks fataler nicht sein könnte. Vor allem, weil die EU-Kommission ihre Macht anscheinend gezielt gegen Regierungen einsetzt, die von sogenannten „Protestparteien“ gebildet werden. Doch so wird man den Protest nicht kleinkriegen – ganz im Gegenteil. Von Jens Berger.
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2017 war für Frankreich ein außergewöhnliches Jahr. Erstmals innerhalb eines Jahrzehnts schaffte es die französische Regierung, bei der Neuverschuldung innerhalb der Grenzen des EU-Fiskalpakts zu bleiben und sich „nur“ noch mit 2,7% des Bruttoinlandsprodukts zu verschulden. Das ist wohlgemerkt mehr, als die italienische Regierung in ihrem aktuellen Haushaltsentwurf vorsieht. Italien will sich mit 2,4% gemessen am BIP neu verschulden. Premier Conte begründet die Neuverschuldung damit, dass „Wirtschaftswachstum der beste Weg [sei], aus der Schuldenfalle herauszukommen“ und liegt damit auch goldrichtig. Die NachDenkSeiten hatten schon anlässlich der grotesken Debatte während der italienischen Parlamentswahlen festgestellt, dass Italien kein Schulden-, sondern ein Wachstumsproblem hat und eine Investitionspolitik der beste Ausweg aus Italiens Stagnationskrise ist, die zwangsläufig die Schuldenquote nach oben treibt.
Die EU-Kommission hält jedoch wenig von aktiver Wirtschaftspolitik und verlangt von Italien einen Haushalt mit nicht mehr als 0,8% Neuverschuldung. Wie soll die italienische Regierung eigentlich ihren Wählern diese Diskrepanz erklären? Warum ist Italien nicht erlaubt, was Frankreich, aber auch Portugal und Spanien selbstverständlich erlaubt ist? Und warum lehnt die EU-Kommission überhaupt einen Haushaltsplan ab, der eine Neuverschuldung vorsieht, die eindeutig unter der 3-Prozent-Grenze des EU-Fiskalvertrags liegt?
Die Antwort ist oberflächlich erschreckend simpel. Die neue italienische Regierung ist erst seit dem 1. Juni im Amt und die EU-Kommission will Italien nun auf Basis einer Versprechung sanktionieren, die von der Vorgängerregierung stammt. Die damals regierenden Sozialdemokraten hatten Brüssel nämlich vor den Wahlen eine maximale Neuverschuldung von 0,8% versprochen. Und spätestens hier wird es vollkommen abstrus. Welchen Sinn machen demokratische Wahlen, wenn das gewählte Parlament noch nicht einmal das Budgetrecht innerhalb der geltenden Verträge ausüben darf? Eine nicht gewählte EU-Regierung in Gestalt der Kommission zwingt also eine vom Volk gewählte Regierung, sich an Vorgaben zu halten, die die abgewählte Regierung gegeben hatten und die bei deren Abwahl eine nicht eben geringe Rolle spielten. So wird de facto das Wahlergebnis annulliert. Und wenn EU-Wirtschafts- und Währungskommissar Pierre Moscovici dies auch noch mit dem zynischen Ausspruch, Brüssel handele „im besten Interesse des italienischen Volkes“, kommentiert, zeigt dies, wie weit Anspruch und Wirklichkeit in der real existierenden EU auseinanderliegen.
Der rechtliche Rahmen für das Exempel, das nun an Italien statuiert werden soll, ist der Europäische Fiskalpakt – ein politisches Kind Angela Merkels, das erst seit 2013 in Kraft ist. Dieser Vertrag sieht vor, dass die EU-Kommission ein Defizitverfahren einleiten kann, an dessem Ende eine Geldstrafe in Höhe von bis neun Milliarden Euro stehen könnte. Bemerkenswert ist, dass dieser Regulierungsrahmen trotz zahlreicher Verstöße verschiedener Länder in der Vergangenheit noch nie von der EU-Kommission ausgereizt wurde. Es ist auch schwer vorstellbar, dass die EU-Kommission an einer traditionellen Mitte-Rechts-Regierung in Rom ein Exempel statuieren würde. Der „Fehler“ der Italiener war es vielmehr, eine Koalition aus der rechten Lega und der Anti-Establishment-Partei der fünf Sterne zu wählen.
Die EU-Kommission nutzt also den Fiskalpakt, um parteipolitisch und ideologisch in die Politik der EU-Mitgliedsstaaten einzugreifen. Etwas Ähnliches konnte man – wenn auch unter einem anderen rechtlichen Rahmen – bei der sogenannten „Griechenland-Rettung“ beobachten, als EU-Kommission, EZB und IWF gnadenlos die von den Griechen gewählte Linksregierung abstraften. Derartige „Disziplinarmaßnahmen“ hat es gegen Regierungen der wirtschaftsliberalen oder großen Mitte-Rechts-Parteien noch nie gegeben.
Folgende Diskrepanz könnte hilfreich sein, um die Einseitigkeit der EU-Kommission zu erklären: Dreizehn EU-Kommissare gehören der EVP an, dem europäischen Bündnis konservativer Parteien, dem auch CDU und CSU angehören. Acht Kommissare gehören den „Reform-Sozialdemokraten“ an, die in Deutschland von der SPD vertreten werden. Und weitere fünf Kommissare stellt die ALDE, das Sammelbecken der Wirtschaftsliberalen rund um die deutsche FDP. Linke, rechte, aber auch grüne Parteien stellen hingegen keinen einzigen EU-Kommissar. Da liegt natürlich der Verdacht nahe, dass die EU-Kommission Italiens gewählte Regierung stürzen und das Land zu Neuwahlen treiben will, um wieder eine Mitte-Rechts-Regierung zu inthronisieren. Man könnte dies auch einen Putschversuch nennen.
Die EU-Kommission will also nach ihrem Verständnis das, was sie unter Demokratie versteht, retten, indem sie die Demokratie suspendiert und den Wählerwillen der Italiener mit Füßen tritt. Es ist schon sehr naiv zu denken, dass man damit Erfolg haben könnte. Italiens starker Mann Matteo Salvini plant bereits bei den Europawahlen im nächsten Jahr Medienberichten zufolge eine Kandidatur auf das Amt des EU-Kommissionspräsidenten und wird dabei unter anderem von der AfD und Marine Le Pens rechter Sammlungsbewegung unterstützt. Salvini will den Wahlkampf offenbar auch zu einem Plebiszit gegen die EU und deren Demokratiedefizite machen. So gesehen könnte die Kommission ihm eigentlich keine bessere Wahlkampfhilfe geben. Die etablierte Politik macht einmal wieder alles falsch, was man falsch machen kann und liefert den Rechten eine Steilvorlage nach der anderen.