Brasilien – Die rechtsextreme Barbarei ist entfesselt, eine Militärdiktatur neuen Typs lauert auf den Wahlausgang
Kaum jemand meiner Generation, die wir als Kinder und Jugendliche unter der Militärdiktatur (1964-1985) aufwuchsen, wagte jemals anzunehmen, dass der aus der antiautoritären Verfassung von 1988 hervorgegangene Rechtsstaat knappe dreißig Jahre später den Frühtod der Luftschlösser sterben würde. In Brasilien lodert in diesen Tagen ein gefährliches Feuer mit dem Potenzial, in den kommenden Monaten zum Flächenbrand auszuufern. Ein von langer Hand inszenierter, krimineller Anschlag auf die letzten Überreste der Demokratie ist im Gang, er erzeugt Massenangst im Inland und erregt Alarmrufe im Ausland. Von Frederico Füllgraf.
Ich beginne diesen Text mit einer Entschuldigung für den thematischen Anflug in der ersten Person. Auch für die journalistische Standortbestimmung. Denn „um tolerant zu sein, muss man die Grenzen dessen, was nicht tolerierbar ist, festlegen”, sagte einst Umberto Eco.
Nicht einmal als Alptraum hätten wir uns die Fratze einer Orwellschen Diktatur in den Tropen vorstellen können, die ihren Einzug mit den infamsten Mitteln kybernetischer Kriegsführung, gleichzeitig mit der uns zwar unbekannten, doch durch Schrift, Bild und Film historisch dokumentierten Brutalität fanatisierter SA-Milizen ankündigt.
Seit der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen vom vergangenen 7. Oktober – die der rechtsradikale Kandidat Jair Bolsonaro mit 46,03 Prozent gegen 29,28 Prozent der Stimmen seines sozialdemokratischen Rivalen der Arbeiterpartei (PT), Fernando Haddad, gewann – verübten Aktivisten nahezu 100 Gewaltanschläge, darunter mindestens vier Mordanschläge, auf Wähler und Anhänger Haddads und des inhaftierten Altpräsidenten Luis Inácio Lula da Silva. Zu den Opfern gehören Brasilianerinnen und Brasilianer aller sozialen Schichten und Hautfarben, und es reichte in den meisten Fällen das bloße Tragen von roten Hemden, Plaketten, Mützen oder Aufklebern der Arbeiterpartei und der Frauenbewegung, um die Hysterie fanatisierter Schlägertrupps aus dem Umfeld des rechtsradikalen Ex-Heeresoffiziers herauszufordern.
Rechtsradikale Gewaltorgie
Eine Köchin in São Paulo, die ein Abzeichen der Frauenbewegung gegen Bolsonaro mit dem Hashtag #EleNão (ErNicht) trug, wurde festgenommen, zusammengeschlagen, nackt in eine Gefängniszelle geworfen und erst freigelassen, nachdem sie von den Polizisten (!) zu einem “Er-Ja!”-Schwur auf Bolsonaro genötigt wurde. Eine Journalistin im nordöstlichen Pernambuco wurde aus dem gleichen Grund mit Messern angegriffen und mit Vergewaltigung bedroht. Im südbrasilianischen Porto Alegre wurde eine aus einem Bus aussteigende 19-Jährige mit dem Er-Nicht-Hashtag auf ihrem Rucksack von drei Männern zusammengeschlagen und sie bekam auf ihrem Unterleib ein Hakenkreuz mit dem Taschenmesser ins Fleisch geritzt.
Im ebenfalls südbrasilianischen Curitiba wurden gleich drei Attentate auf Haddad-Wähler verübt. Einem Studenten, mit roter Mütze der Landlosen-Bewegung (MST) auf dem Kopf, wurden Bierflaschen auf dem Schädel zertrümmert. Wenige Häuserblöcke davon entfernt wurde ein Journalist auf dem Gehsteig vor einer Szenekneipe von einem Bolsonaro-Anhänger mit dem Wagen angefahren. Als empörte Kneipengäste dem vor einer Ampel wartenden Wagen nachliefen, wurden sie vom Fahrer mit einer Pistole bedroht. Im Stadtzentrum wurde schließlich ein homosexueller Bolsonaro-Gegner tot in seiner verwüsteten Wohnung aufgefunden.
Szenenwechsel in eine bescheidene Kneipe der nordostbrasilianischen Landeshauptstadt Salvador da Bahia. Während einer Diskussion über den Ausgang der ersten Wahlrunde stößt ein fanatisierter Bolsonaro-Wähler dem landesweit bekannten, 63-jährigen Afro-Folklore-Meister, Musiker und Haddad-Anhänger Moa do Katendê 12 Mal ein Messer in den Rücken. Blutüberströmt bricht Katendê tödlich getroffen zusammen.
“Mythos” Jair Bolsonaro – wie das Codewort seiner Mitläufer heißt – predigt jedenfalls ungestraft seit nahezu zwei Jahrzehnten den Vernichtungsfeldzug. Folter sei unerlässlich! Falls er eines Tages zum Präsidenten gewählt würde, werde er am Tag darauf eine Diktatur errichten. Mit Demokratie seien die Probleme Brasiliens nicht in den Griff zu kriegen, nur mit einem Bürgerkrieg und der Ermordung von 30.000 Gegnern, einschließlich des Ex-Präsidenten Fernando Henrique Cardoso, erklärte einst der kreischende Ex-Hauptmann ins Mikrofon eines Reporters.
Die Androhung von 30.000 Morden stammt aus Bolsonaros Repertoire vom Ende der 1990-er Jahre. Doch am Vorabend des Karnevals 2018 in Rio de Janeiro war der gemeingefährliche Psychopath von neuen Massaker-Visionen beflügelt. Auf einer Veranstaltung der von seinem neoliberalen Wirtschaftsguru Paulo Guedes gegründeten Bank BTG Pactual schlug Bolsonaro vor, Brasiliens größtes Elendsviertel Rocinha mit mehr als 70.000 Einwohnern bei Zusammenstößen rivalisierender Drogendealer-Banden aus der Luft mit MG-Feuer niederzumähen.
Nach einem Bericht des Kolumnisten Lauro Jardim von O Globo (siehe Scan der Kolumne vom 11. Februar 2018) schlug Bolsonaro vor, einen Hubschrauber mit dem Abwurf tausender Flugblätter über dem Elendsviertel zu beauftragen. Nach dem darin angedrohten Ultimatum würde „den Banditen“ sechs Stunden Zeit dafür eingeräumt, sich zu ergeben. Sollte die Frist nicht eingehalten werden, würde er Rocinha unter MG-Beschuss nehmen. Jardim wusste zu berichten, dass das Auditorium dem „Vorschlag“ euphorischen Applaus zollte.
Die Fake-News-Zentrale und die infamste Wahl aller Zeiten
An diesem Punkt wäre der Satz zu erwarten, „ganz Brasilien reagierte mit Abscheu auf die Gräueltaten“. Falsche Annahme!
Legt man der Erwartung die jüngsten Wählerumfragen zugrunde, empörten sich höchstens 41 Prozent – die Summe der demokratisch gesinnten Haddad-Wähler – über die Entsetzlichkeiten, während sie von mehr als der Hälfte Brasiliens – genauer: von den 59 Prozent der Bolsonaro-Anhänger – wenn nicht nur ignoriert, sondern sogar mit Applaus bedacht wurden.
Unfassbar für Außenstehende, in Sachen Brasilien nicht Eingeweihte, sind daher die neuesten Umfragen zum Stand der politischen Antipathien gegen die Kandidaten. Anstatt auf dem Höhepunkt der Attentate zuzunehmen, sank Bolsonaros Ablehnung unter dem Wahlvolk von 43 Prozent auf 35 Prozent, während umgekehrt die Aversion gegen den demokratischen, ausgeglichenen und versöhnlichen Haddad schlagartig von 32 Prozent auf 41 Prozent anstieg. Somit entpuppte sich der landesweite Marsch von annähernd 1 Million Frauen, die am 29.September gegen Bolsonaro und für Demokratie demonstrierten, als regelrechter Schuss nach hinten oder ins eigene Bein: Bolsonaro gewann einen Tag später mindestens 6 Prozent neue Wähler, darunter eine Millionenschar von Frauen.
Danach fragten sich die kritischen Medien in Brasilien und in den Nachbarländern, was macht die Linke falsch, oder ist es zu fassen, dass Frauenrechte und die Absage an Gewalt von der Mehrheit der Bevölkerung militant abgelehnt werden?
Auf die Anschläge seiner Unterstützer angesprochen, versuchte Bolsonaro die politische Gewalt kleinzureden. Es täte ihm leid, er bitte seine Leute, von Gewalt abzusehen, „doch habe ich keine Kontrolle über Millionen von Menschen, die mich unterstützen”, erklärte er dem Nachrichtenportal UOL.
Doch in den sozialen Netzwerken, insbesondere auf dem Instant-Messaging-Dienst WhatsApp, tobt sich ein infernalischer Hate Speech aus. Aus der Hochburg der rechtsradikalen Wahlkampagne setzte der mit 1,8 Millionen Stimmen wiedergewählte, vom absoluten Rekord in der brasilianischen Wahlgeschichte angetriebene, dienstbefreite Polizist, der Sohn des rechtsradikalen Präsidentschaftskandidaten und Abgeordnete, Eduardo Bolsonaro, einen Tweet ab (siehe Screenshot des Tweets mit Stempel Fake News), in dem er den PT-Rivalen seines Vaters, Fernando Haddad, der „Schul-Indoktrinierung zum Inzest“ beschuldigte.
Haddad reichte Klage beim Obersten Wahlgericht (TSE) ein, die Meldung wurde offiziell zur groben Fälschung erklärt, ihre weitere Verbreitung gerichtlich untersagt, doch das juckte den freigestellten Polizisten rein gar nicht. Er dachte nicht daran, den Tweet zu löschen und seine Provokation der Justiz hatte auch keine Folgen.
Ganz im Gegenteil. Der turnusmäßigen, konservativen Vorsitzenden des TSE, Magistratin Rosa Weber, wurde aufs Frechste ein anonymer Anschlag angedroht. Im Text, der über ein soziales Netzwerk an das Gericht gesendet wurde, hieß es, Bolsonaro sei „mathematisch längst gewählt”, doch „falls die Umfragen manipuliert“ würden, werde die Bevölkerung die Straßen einnehmen – „Versuchen Sie doch mal, das zuzulassen”, drohte der Verfasser.
Die Bundespolizei (PF) wurde mit der Untersuchung der Hintergründe beauftragt, was jedem aufmerksamen Beobachter den Witz vom Fuchs, der den Hühnerstall bewachen soll, in Erinnerung ruft, ist doch die PF seit der politischen Hexenjagd auf den PT-Ehrenvorsitzenden Lula da Silva längst als von Rechtsextremisten unterwanderte Institution in der demokratischen Öffentlichkeit diskreditiert.
Mit Steve Bannon, via Kalifornien und Lissabon, der obszönste Wahlkampf aller Zeiten
Längst bevor er sich als Präsidentschaftskandidat aufstellen ließ, fiel Jair Bolsonaro als geübter, digitaler Aktivist auf, der nun wegen seiner spärlichen 8 Sekunden täglicher Werbezeit im brasilianischen Fernsehen auf die gleichsam mächtigen wie billigen sozialen Netzwerke – vor allem Facebook und Twitter – setzte, jedoch mit einem millionenfachen Anhängernetz auf dem Messaging-Schnellservice WhatsApp rechnet, in dem vor allem das ärmere Fußvolk ohne Internet-Anschluss per Handy agitiert wird.
Koordiniert von seinen drei Söhnen – die allesamt in parlamentarischen Ämtern zusammen mit zwei geschiedenen Ehefrauen des Präsidentschaftskandidaten den harten Kern des Bolsonaro-Clans in der Politik bilden – und von einer nebulösen Firma namens Raposo Fernandes Associados (RFA) umgesetzt, speist die rechtsradikale, virtuelle Propaganda-Maschine das Internet mit Informationen über den Fortgang der Wahlkampagne, jedoch mit scharfem Fokus auf die Bekämpfung und skrupellose Kriminalisierung der PT und Haddads gerichtet.
Von Aufsichtsbehörden völlig unkontrolliert und scheinbar bewusst ignoriert, enthalten die Netzwerke außer Propaganda Hinweise auf alles, was unter Demokraten als verlässliche Informationen und kritische Presseberichte anerkannt, hier jedoch umgebogen, verdreht und gefälscht wird, wozu u.a. der Reputationsmord an Haddad und die jeden Tag wiederholte Leier von den angeblich unzuverlässigen, elektronischen Wahlurnen gehört, von denen Eduardo Bolsonaro schon vor der ersten Wahlrunde per richterlichem Erlass einen Teil beschlagnahmen ließ, um somit die Aussetzung der Wahlen herbeizuführen. Doch das Wahlgericht durchschaute den schmutzigen Trick und – eine Seltenheit in der rechtsextremistisch unterwanderten Justiz – der Richter wurde immerhin gefeuert.
Eine Untersuchung der Zeitung O Estado de S. Paulo in Zusammenarbeit mit der NGO Avaaz belegte bisher unvorstellbare Zahlen über die Wirkung von Bolsonaros Propaganda-Maschine. So erreichten beispielsweise in den vergangenen 30 Tagen allein Pro-Bolsonaro-Facebook-Profile 12,6 Millionen sogenannter Interaktionen – also die Summe von Postings, Reaktionen, Kommentaren und Teilungen – sowie rund 16 Millionen sogenannte Follower; eine gigantische Zahl, die die Facebook-Seiten von weltbekannten Stars wie Neymar (1,1 Million) und Madonna (442.500) in lächerlichen Schatten stellten.
Andererseits erklärt sich der ebenso bedeutende Erfolg des WhatsApp-Einsatzes mit der Schwierigkeit seiner öffentlichen Überwachung. Das Erstellen eines gefälschten WhatsApp-Profils ist unkomplizierter als in anderen sozialen Netzwerken und schwieriger zu erkennen, womit der tsunami-artigen Verbreitung von FakeNews keine Grenzen gesetzt sind. Das Bolsonaro-Propaganda-Netz wird auf zigtausende Aktivisten geschätzt, aufgeteilt in geschlossenen WhatsApp-Gruppen, von denen ein Großteil aus dem Ausland, insbesondere den USA und Portugal, gesteuert wird; darunter eine erstaunlich hohe Anzahl von US-amerikanischen Mobiltelefonen.
Allein die Brasilianer Carlos Nacli und Newton Martins – Erstgenannter aus Lissabon, der Zweite aus Boston, USA – koordinieren mindestens 50 WhatsApp-Gruppen, die für die Wahlkampagne Bolsonaros gefälschte Nachrichten an 10.000 Multiplikatoren in Brasilien liefern, von denen sie per WhatsApp weiterverbreitet und viralisiert werden. Die Szene rekrutiert sich selbstverständlich aus den typischen, verblödeten und aggressiven Figuren aus Umberto Ecos Zitat über den leidlichen Zeitgeist: „Das Drama des Internets ist, dass es den Dorftrottel zum Träger der Wahrheit befördert hat.” Allerdings haben auch vom britischen Channel 4 heimlich gefilmte Cambridge-Analytica-Manager unvorsichtigerweise über ihre Infiltrierung in den brasilianischen Wahlkampf laut nachgedacht.
Doch welche Rolle spielt nun US-Altright-Ideologe Steve Bannon in Jair Bolsonaros Kampagne, fragen sich brasilianische Medien, nachdem Eduardo Bolsonaro mit einem Tweet vom vergangenen 3. August eine entsprechende Anspielung auf Dienste des US-Amerikaners und ehemaligen Chefstrategen Donald Trumps machte. Vom Magazin Forum zitiert, erklärte der brasilianische Philosoph Rafael Azzi, die von Bolsonaro verwendeten Techniken und Tricks folgten sehr wohl dem von Bannon für Trump entwickelten Propaganda-Skript, das seit dem erfolgreichen Wahlsieg des US-Milliardärs zum Präsidenten von der weltweiten rechtsextremen Szene übernommen wurde.
Bannons Kommunikationsmodell zielt auf die Steuerung von Emotionen ab und lässt sich verkürzt folgendermaßen zusammenfassen: „Der Gebrauch primitiver Sprache zum Nullpreis, ständige Kritik an den traditionellen Medien, mit der gleichzeitigen, potenzierten und zielgerichteten Nutzung sozialer Netzwerke. In allen Fällen sind solche Kampagnen von nationalistischer Komponente und Personenkult geprägt, dass die seiner Rivalen in den Schatten stellt“.
Bannon hat mittlerweile erwähnt, dass Bolsonaro Mitglied in seiner rechtsextremistischen Internationalen The Movement ist, hält sich jedoch bedeckt mit der Auskunft über seine Rolle im Wahlkampf des brasilianischen Faschisten; eine dieser Komplizenschaften, die dann, wenn überhaupt, um das Jahr 2050 von declassified CIA-Akten bestätigt werden wird.
Mit Vergewaltigern, Generälen und Polizisten zur “gewählten Militärdiktatur”
Hatten vor zwei Monaten ausländische Diplomaten in Brasilien noch davor gewarnt, ein Wahlsieg des Ex-Hauptmanns könnte Anleger in die Flucht schlagen und Brasilien außenpolitisch isolieren, so überschlugen sich bereits in den ersten Stunden nach dem Wahl-Zwischenergebnis vom vergangenen 7. Oktober die sogenannten „Märkte“ vor Euphorie über die vorläufige Niederlage Haddads.
Nicht so der weltweite, mediale Mainstream, darunter eine Vielzahl konservativer Tageszeitungen und Magazine, die vor drei Jahren noch in den Chor der Verfechter einer illegalen Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff eingestimmt hatten. Hier überschlagen sich alarmierende Schlagzeilen. “Why could Brazil’s democracy be under threat?”, “Is democracy in Brazil in danger…?”, fragen aufgeregte Titel des Economist und der ABC News. Ja, Bolsonaro gefährdet die Demokratie, warnt die Süddeutsche Zeitung. “Can Brazil’s Democracy Be Saved?” – ist der Rechtsstaat dennoch zu retten, insistiert die New York Times.
Wenn die den Anschlägen vorausgegangenen Hasspredigten Bolsonaros nun gar von Madame Le Pen verabscheut werden – die mit Verweis auf Attacken Bolsonaros gegen Homosexuelle und Frauen im Interview mit Radio France International erklärte, „er hat extrem unangenehme Dinge gesagt, die nicht zu unserem Land passen …” – dann ist es fünf vor zwölf für eine warnende Stellungnahme der deutschen Bundesregierung und der Europäischen Union.
Warum Bolsonaro dennoch unaufhaltsam punktet und mit angeblichen 59:41 Prozent der Wählerintentionen Haddad scheinbar hoffnungslos abgehängt hat, ist zwar den meisten ausländischen Beobachtern ein Rätsel, lässt sich aber auf eine simple Formel bringen: Den konservativen Wählern, insbesondere der zahlreichen rechtsradikalen Aktivistenszene ist das Programm des Kandidaten nicht nur unbekannt, sondern schlicht und einfach „scheißegal“.
„Die Extremisten denken nicht, sie überlassen es ihrem Führer“, bemerkte zu Jahresbeginn selbst der konservative Radio-Kommentator Marco Antonio Villa. „Jair Bolsonaros Modell ist nicht Berlusconi. Es ist Goebbels”, warnte vor wenigen Tagen der argentinische Historiker Federico Finchelstein. Der rechtsextreme brasilianische Präsidentschaftskandidat sei nicht ein weiterer Rechts-Populist, wie fälschlicherweise behauptet werde. Vielmehr habe seine Wahlkampagne sich eine Seite direkt aus dem Drehbuch der Nazis angeeignet. Bolsonaros Sprache und Wortschatz – „Ausmerzung“, „unterjochen“, „zertrümmern“ – sind jedenfalls denen des Nationalsozialismus auf verblüffende Weise verwandt, ebenso wie die Feindbildkonstituierung in Hitlers “Mein Kampf”. Die Bedrohlichkeit der Zustände in Brasilien findet selbst in der einundzwanzigjährigen Militärdiktatur keine Präzedenz.
Mit der ersten Wahlrunde, in der für Gouverneursämter sowie für das Bundes- und die Landesparlamente gewählt wurde, hat sich die Zahl der Polizisten und Militärs alarmierend von 18 auf 73 Sitze vervierfacht, darunter die meisten aus Bolsonaros christlich-sozialer Leihpartei PSL, die von weniger als 10 sprunghaft auf 52 Sitze in der Abgeordnetenkammer anschwoll.
Auf der PSL-Liste gelangten auch namhafte rechtsradikale Agitatoren in Zivil ins Parlament, wie der “zum Christentum konvertierte”, ehemalige Pornodarsteller Alexandre Frota, die geistesgestörte Anwältin und Autorin der Anklageschrift gegen Präsidentin Dilma Rousseff, Janaina Pascoal, und der von den Koch-Foundations finanzierte Rädelsführer Kim Kataguiri. Die Wahl Frotas gilt als eine der schamlosesten Heucheleien der evangelikalen und militärischen Szene, die seit Jahren gegen Frauenrechte und gegen die “Gefahr homosexueller Überfremdung” Moral predigen, hat doch der straffällige Pornodarsteller vor wenigen Jahren in einer TV-Sendung amüsiert zugegeben, eine Frau mit obszönster Erniedrigung vergewaltigt zu haben.
Allerdings gingen der Aufstellung der Militärs Ermunterungen durch die Oberkommandos und die Abhaltung von Foren in brasilianischen Kasernen voraus. Meinungsforschungsinstitute ermittelten im September 2017, dass 43 Prozent der Brasilianer eine seit 2014 von extremistischen Minderheiten lauthals auf den Straßen eingeforderte militärische Intervention befürworten; eine Zahl, die sich auf verblüffende Weise mit Bolsonaros Gelegenheitswählern deckt, jedoch auch deutlich macht, dass der Bolsonarismus doppelt so groß ist wie seine auf 20 Prozent geschätzte Stammwählerschaft.
Mit zwei amtierenden Generälen in der Regierung Michel Temer, einem weiteren im Obersten Gerichtshof und Bolsonaros Plan, falls er die Stichwahl am kommenden 28. Oktober gewinnt, mindestens 5 weitere Generäle – einen davon als Außenminister, einen zweiten als Bildungsminister – in sein Kabinett aufzunehmen, nimmt der Schatten einer neuen Militärdiktatur beängstigende Konturen an.
„Die Geschichte des Militärregimes wurde nur von einer Seite erzählt, und so unglaublich es klingen mag, ausgerechnet von den Besiegten“, sinnierte vor einigen Wochen der Bolsonaro-Berater und pensionierte General Augusto Heleno über die Regierungsjahre der Arbeiterpartei und die Forderung nach strafrechtlicher Verfolgung von uniformierten Verbrechern gegen die Menschenrechte. „Normalerweise erzählen die Gewinner die Geschichte. Es gibt also eine andere Version, die zur Wiederherstellung des Gleichgewichts eines Tages erzählt werden wird”, drohte Heleno durch die Blume. Die Militärs fordern ihr eigenes Narrativ, nämlich die Wiederinszenierung ihrer Rolle der Vaterlandshelden und der politischen Vormundschaft.
Finstere Zeiten stehen Brasilien bevor. Es sei denn, Fernando Haddad gelingt ein Wunder.