100 Jahre „Stinnes-Legien-Abkommen“ – Eine traurige Veranstaltung von DGB und Arbeitgeberverbänden.
Dies ist ein wichtiger Beitrag. Es geht um die Zukunft der Gewerkschaften. Der Autor Hermann Zoller kennt sich aus und macht sich Sorgen. Damit ist er nicht allein. Zoller arbeitet seit Jahrzehnten für Arbeitnehmer und ihre Interessen. Er war bei der IG Medien lange Jahre für Öffentlichkeitsarbeit zuständig.
Die 100-Jahrfeier und die Erklärungen des DGB empören ihn zu Recht. Albrecht Müller.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Hermann Zoller:
Da ist eine große Feier angesetzt, mit Bundespräsident und pipapo: 100 Jahre Sozialpartnerschaft. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände klopfen sich im Historischen Museum zu Berlin gegenseitig auf die Schulter. So ist am 16. Oktober 2018 ein Dokument der Zeitgeschichte entstanden, das belegt, wie abgehoben, wie weltfremd, wie gefangen in neoliberalen Denkstrukturen zumindest auch große Teile der deutschen Gewerkschaften sind – nach 100 Jahren ein weiteres „historisches Ereignis“.
Der Anstoß für das „Stinnes-Legien-Abkommen“ kam damals aus dem Unternehmerlager. Dort hatte man Sorgen wegen der revolutionären Forderungen der Arbeiter. Dagegen wollte man eine Mauer bauen, dafür brauchte man „einsichtige“ Gewerkschafter. Die Unternehmer boten die „Sozialpartnerschaft“ an, um „Sozialisierung“ zu stoppen. So wollten sie verhindern, sich für ihre Mitverantwortung für den Krieg verantworten zu müssen.
Das hat man nun 2018 gefeiert, statt nüchtern die Entwicklung aufzuarbeiten und die aktuelle Situation zu betrachten. Dieses Abkommen von 1918 hat die Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik nicht gestärkt – und es hat 1933 und die Folgen nicht verhindert.
Die Feier am 16. Oktober 2018 löst Kopfschütteln aus.
Ist der DGB aus der Zeit gefallen, hat man den Schuss nicht gehört? Wollen die Gewerkschaften der SPD in die Bedeutungslosigkeit folgen? Vor 100 Jahren haben die Gewerkschaften ihren Verzicht auf eine tiefergehende Mitgestaltung unserer Gesellschaft unterschrieben. Soll das jetzt fortgeschrieben werden?
Die Gewerkschaftsführungen müssten doch wissen, wie Sozial-„Partnerschaft“ heute aussieht: ein Zerfall der Tarifverträge, Löhne, die der wirtschaftlichen Entwicklung hinterherhinken, versteckte Arbeitslosigkeit, zunehmende Teilzeitarbeit, Arbeit auf Abruf, Millionen unbezahlter Überstunden, immer mehr unsichere Arbeitsplätze, Rentenkürzung in großem Stil, Wohnungsnot, Lehrermangel, nicht zuletzt das menschenverachtende Hartz-IV-Regime. Wissen wir nicht, dass das Unternehmerlager das Streikrecht gern noch weiter einschränken würde? Wir wissen doch, dass die Unternehmen mit der bereits angelaufenen „technischen Revolution“ auch das Arbeitsleben „revolutionieren“ möchten, aber gewiss nicht in unserem Sinne; sondern hinter den angekündigten „neuen Freiheiten“ neue Abhängigkeiten entstehen. Erleben wir statt sozialem Ausgleich nicht eher eine Zeit der Diktatur der Renditeerwartungen des Kapitals?
Auf der Website des DGB ist über das Stinnes-Legien-Abkommen zu lesen, es sei „ein entscheidender Beitrag zur Zähmung des Kapitalismus und zur Demokratie in der Wirtschaft“ gewesen. In diesem unseren reichen Land sind 20 Prozent der Menschen von Armut bedroht. Mit unserem Lohndumping fördern wir den Export und setzen damit unsere Kolleginnen und Kollegen in den anderen Ländern unter Druck. Weltweit wächst wieder die Zahl der hungernden Menschen. Klimawandel. Aufrüstung statt Friedenspolitik. Ist da denn schon irgendetwas „gezähmt“? Wo finden die Diskussionen statt über den immer mächtiger werdenden Kapitalismus brutalster Prägung?
Beim DGB sollte man doch mal darüber nachdenken, warum die Gewerkschaften in der gesellschaftlichen Diskussion und auch mit ihren konkreten Forderungen für einen Großteil der Bevölkerung gar nicht mehr existieren.
Das war schon mal anders. Wir brauchen keine Gewerkschaften, die das kapitalistische System durch moderate Schmiermittel-Löhne am Laufen halten. Unsere Demokratie ist so stark gefährdet wie kaum je in den letzten 70 Jahren. Da müssen nicht zuletzt die Gewerkschaften ein Bollwerk für die Grund- und Menschenrechte sein. Die heute gelebte Form der „Sozialpartnerschaft“ erfüllt diesen Anspruch keineswegs.
Die „Geburtstagsfeier“ am 16. Oktober 2018 verdient deshalb eher das Etikett „Trauerfeier“.
Hermann Zoller