Der spanische Rechtsstaat oder Llarena ohne Ende.
Der Europarat hat immer wieder die nicht funktionierende Gewaltenteilung in Spanien kritisiert und insbesondere die fehlende Unabhängigkeit der spanischen Justiz. Er bezog sich dabei konkret auf die Arbeit der obersten spanischen Justizbehörde CGPJ (Consejo General del Poder Judicial). Seine Verbesserungsvorschläge sind aber bisher immer ohne Wirkung verhallt. Es gibt dafür ein hochaktuelles Beispiel, das massive Folgen für die Zukunft Spaniens haben kann, nämlich die Politisierung des CGPJ im Zusammenhang mit seiner Rolle beim Vorgehen gegen die katalanische Unabhängigkeitsbewegung und konkret der Vorbereitung der demnächst beginnenden Prozesse gegen die Angeklagten. Von Eckart Leiser[*].
Um das Agieren des CGPJ in diesem Kontext geht es in diesem Beitrag. Die fehlende Gewaltenteilung ist in der Causa Katalonien nicht nur als Einflussnahme der Politik auf die Justiz zu beobachten, sondern auch umgekehrt als der Versuch von Richtern, sich zu Protagonisten der spanischen Politik zu machen. Eine Hauptfigur in diesem Zusammenhang ist der Richter Pablo Llarena (siehe dazu meine Artikel in der Zeitung „Freitag“ vom 5.4. 2018 und 19.7.2018).
Nach neuesten Berichten, die allerdings von den spanischen Medien weitgehend ignoriert werden, hatte der CGPJ die Einsetzung von Pablo Llarena als Ermittlungsrichter gegen die katalanischen Unabhängigkeitspolitiker von langer Hand und ohne Rücksicht auf die geltenden Rechtsvorschriften vorbereitet, mit dem Ziel, die Betroffenen von Anfang an zu kriminalisieren, auf der Basis konstruierter Straftatbestände wie der Rebellion. Anstoß zu den folgenden Ausführungen gab ein ausführlicher Artikel von Carlos Enrique Bayo und Patricia López zum Aufstieg Llarenas ins Oberste Gericht, veröffentlicht in der digitalen Zeitung publico.es vom 13. September 2018. (Wie ich gerade einer Diskussion im katalanischen Fernsehkanal TV3 mit Carlos Enrique Bayo, einem der Autoren des besagten Artikels, entnommen habe, ließen sich den folgenden Ausführungen noch erheblich “krassere” Details zum Zustand der spanischen Justiz hinzufügen, etwa zum jüngsten Karrieresprung der Richterin Carmen Lamela, ebenfalls ins Oberste Gericht, die sich in der ersten Phase der Causa Katalonien durch ihre Inkompetenz international blamiert hatte.)
Den ersten Schritt auf diesem vorweg geplanten Weg zum Aufstieg ins Oberste Gericht tat Llarena, als er im November 2015 seine Funktion als Präsident der dem PP (Partido Popular) nahestehenden Richtervereinigung Asociación Profesional de Magistratura (APM) aufgab. Von diesem Zeitpunkt ab wurde mit allen Tricks sein Aufstieg zum Richter der 2. Kammer des Tribunal Supremo (TS), (Oberstes Gericht), betrieben. Diese Kammer ist für Verfahren gegen Personen zuständig, die Immunität genießen (in Spanien neben Abgeordneten viele andere politische und öffentliche Funktionsträger – der König ausgenommen, der nicht nur Immunität genießt, sondern mit einer vollständigen Unverletzlichkeit ausgestattet ist).
Um zu verschleiern, dass hier eine politisch-ideologische Seilschaft am Werke war, die bis in die finstersten Ecken der katholischen Kirche reicht (etwa zum Richter Vicente-Manuel Rouco Rodríguez, Präsident des Obersten Gerichts von Castilla la Mancha und Neffe des als Inbegriff der Reaktion geltenden ehemaligen Kardinals Rouco Varela), kündigte deren Anführer, Carlos Lesmes, seinen Rücktritt vom Amt des Präsidenten des TS an. Die Idee, an seine Stelle als „Strohmann“ den seinerzeitigen Vizepräsidenten Ángel Juanes zu setzen, scheiterte am Protest von Diaz Abad, Rechtsvertreterin des Staates in der Ständigen Kommission des CGPJ. Trotzdem gelang es der Mehrheit dieser Kommission, ihren Dreiervorschlag für die Besetzung des freigewordenen Postens in der 2. Kammer durchzubringen, mit Pablo Llarena an der Spitze, nachdem mit Hilfe eines ad-hoc erfundenen Kriteriums 8 von 13 Mitbewerbern ausgeschlossen worden waren. Der Trick war so dreist und die ausgeschlossenen Mitbewerber derart qualifiziert, dass ein Ausschussmitglied beantragte, den Punkt von der Tagesordnung zu nehmen. Lesmes musste den Einspruch im Prinzip akzeptieren, nur um diese Bewerber dann doch mit neu erfundenen Argumenten auszuschalten. Anfang 2016 wurde Llarena mit einfacher Mehrheit zum Richter der 2. Kammer gewählt und er konnte seine Aufgabe, die Liquidierung der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung mit allen Mitteln, in Angriff nehmen. Die Dokumente dieser Auswahlfarce sind wie üblich im Internet zugänglich, allerdings unter Auslassung der Begründungen für zwei Enthaltungen.
Die kritische Richtervereinigung JxD (Richter für die Demokratie) focht diesen Aufstieg von Llarena zum Obersten Gerichtshof im März 2016 in einem Rechtsverfahren an. In einer ausführlichen Begründung von 31 Seiten gelangt sie zu der Einschätzung: „Die Ernennung von Llarena ist unter Missachtung der Prinzipien der Verdienste und der Befähigung erfolgt, die der Artikel 23 der Verfassung festlegt.“ Ihr Recht auf diese Anfechtung der Auswahl aufgrund einer Verletzung verfassungsmäßiger Rechte wurde von JxD anhand von Präzedenzfällen ausführlich begründet. Im Einzelnen wird dargelegt, dass der Vorgang des Aufstiegs von Llarena ins Oberste Gericht zwei Artikel des LOPJ (gesetzliche Grundlage des spanischen Rechtswesens), drei Artikel, die die Ernennung regeln und drei Artikel der spanischen Verfassung verletzt. Des Weiteren werden die Argumente zum Ausschluss von 8 Kandidaten aus dem Auswahlverfahren Punkt für Punkt widerlegt.
Erst fast ein Jahr später, Anfang 2017 und schon inmitten der „Kriegsvorbereitungen“ gegen die Führer des katalanischen „procès“, erklärte die 6. Kammer für Verwaltungsstreitverfahren des TS die Anfechtung der JxD für unzulässig, ohne auch nur auf deren Argumente einzugehen. Begründung: „Es kann nicht sein, dass Richtervereinigungen als abstrakte Wächter der Legalität agieren“. Sieben Monate später wurden dann Llarena endgültig und insgesamt die Ermittlungen gegen die Vertreter der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung übertragen.
Von neuem verletzte dabei der CGPJ seine eigenen Regeln. Entgegen der Behauptung, Llarena wäre als Dienstältester an der Reihe gewesen, war er zu diesem Zeitpunkt der letzte in der Liste, mit fünf Richtern vor ihm. Die im staatlichen Amtsblatt veröffentlichte Regelung lautet wörtlich: „Im Fall der Ernennung der Ermittlungsrichter folgt deren Auswahl der Reihenfolge des Dienstalters, unter Auslassung des Präsidenten und der Richter der Kammer für Zulassung und Einspruchsverfahren.“ (BOE 30.12.2016). Nach dieser Vorschrift blieben 6 Kandidaten für die Funktion des Ermittlungsrichters übrig, und Llarena war der „Dienstjüngste“ in dieser Reihenfolge. Der Präsident der 2. Kammer des Obersten Gerichts, Manuel Marchena, hat bei der Auswahl von Llarena die Rechtfertigung erlogen, die geltende Rechtsvorschrift also flagrant verletzt. Bei deren korrekter Anwendung hätte er den Richter José Ramón Soriano Soriano für die Ermittlungen gegen die katalanischen Politiker einsetzen müssen. Er hat also mit seiner Auswahl von Llarena eine klare Rechtsbeugung begangen. Und das alles vor den Augen der Medien und der Öffentlichkeit… Seitdem liefert Llarena offensichtlich genau das, was die Manipulatoren seiner Ernennung erwartet hatten. Der Fall mag eine Ahnung davon vermitteln, in welchem Zustand sich der spanische „Rechtsstaat“ befindet. Nun liegt es nahe, dass diese „Unregelmäßigkeiten“ – weniger euphemistisch: Gesetzesverstöße – beim bevorstehenden Makroprozess gegen die Unabhängigkeitsvertreter von der Verteidigung zur Sprache gebracht werden. Ginge es mit rechten Dingen zu – was allerdings nicht sicher ist – müsste nach Einschätzung von José Luis Muñoz in der digitalen Zeitung Elcotidiano.es vom 16.9.2018 das ganze Ermittlungsverfahren umgehend für nichtig erklärt werden und der Prozess wäre zum Platzen gebracht. Man darf jedenfalls gespannt sein, wie das Oberste Gericht vor den Augen der Weltöffentlichkeit hier seinen Kopf aus der Schlinge zieht.
Mit dem Abschluss seiner Ermittlungen gegen die katalanischen Unabhängigkeitsvertreter und deren Verbringen in Gefängnisse oder deren Vertreibung ins Exil sieht Llarena seine Mission aber keineswegs als erschöpft an. Die Schamlosigkeit seines Agierens ist inzwischen auf weiteren Feldern zu besichtigen. Als letztes war er für die Ermittlungen gegen den „shooting star“ des PP, Pablo Casado, zuständig, der vor kurzem Mariano Rajoy als Vorsitzender dieser Rechtspartei abgelöst hatte. Casado hatte auf betrügerische Weise einen Master-Titel von der Madrider Universität Rey Juan Carlos geschenkt bekommen. Eine Madrider Richterin sah den Tatbestand des Betrugs als erfüllt an, musste das Verfahren aber aus „Immunitätsgründen“ an das Oberste Gericht abgeben. Unter Mitwirkung von Llarena wurde das Verfahren dann in Rekordzeit eingestellt. Das hindert den PP nicht daran, zurzeit eine Hexenjagd gegen Pedro Sánchez, Präsident der gegenwärtigen Minderheitsregierung, zu veranstalten. Vorwurf: Teile seiner Doktorarbeit (die immerhin als Buch erschienen ist) seien plagiiert.
Aber auch jenseits seiner Ermittlungstätigkeit hat Llarena die spanische Öffentlichkeit fest im Griff und setzt immer wieder bisherige Maßstäbe außer Kraft: Am 4. September war er von einem Brüsseler Gericht vorgeladen worden, weil Carles Puigdemont und andere katalanische Politiker im Exil ihn wegen politischer Befangenheit und der Verletzung des Rechts auf ein faires Gerichtsverfahren verklagt hatten. Nachdem Llarena zunächst diese Vorladung als eine Art „Majestätsbeleidigung“ abgetan hatte, bekam er dann doch „kalte Füße“. Die Klage ging auf ein Interview von Llarena nach einem privaten und gut bezahlten Auftritt auf einer von der Firma BMW finanzierten Veranstaltung zurück. In diesem Interview ging er auf seine Ermittlungen ein, ein Tabu für einen Ermittlungsrichter, und er bestand darauf, dass die Anklagen gegen die Katalanen nichts mit Politik zu tun hätten, vielmehr auf Straftatbeständen gründeten. Unversehens forderte der CGPJ dann in seinem Namen, dass die Regierung die Rechtsvertretung von Llarena in Brüssel organisiere und bezahle, da die Souveränität der spanischen Justiz auf dem Spiel stehe. Zunächst lehnte das die Regierung ab, mit dem Hinweis, dass solche Interviews außerhalb seiner Richtertätigkeit seine Privatangelegenheit seien. Ende der Geschichte: unter dem Druck des CGPJ und der Medien hat die Regierung inzwischen klein beigegeben und beschlossen, die Kosten der Rechtsvertretung von Llarena in Brüssel von über einer halben Million Euro zu übernehmen. Ein „Rechtsstaat“ muss halt mit einem Richter vom Format Llarenas notfalls durch dick und dünn gehen, koste es, was es wolle, und sei der Preis der Rechtsstaat selbst…
[«*] Eckart Leiser, Prof. Dr., ist Privatdozent an der Freien Universität Berlin und arbeitet als Psychotherapeut in eigener Praxis in Saragossa (Spanien). Seine Arbeitsschwerpunkte sind die epistemologischen Grundlagen der Psychologie sowie strukturale Anthropologie und Psychoanalyse. Lehrtätigkeit in Frankfurt, Berlin, Mexiko-Stadt, Wien, Madrid, Saragossa und Buenos Aires.