Argentinien – Von der finanzkapitalistischen Ruine und Kriminalisierung der Opposition zum „kontrollierten Chaos im Hinterhof”

Frederico Füllgraf
Ein Artikel von Frederico Füllgraf

Seit Anfang April 2018 sitzt im südbrasilianischen Curitiba Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, der nicht einholbare Favorit der Präsidentschaftswahlkampagne, hinter Gittern. Am 31. August verbietet das Oberste Wahlgericht seine Kandidatur, die am 11. September von seinem Vize, dem ehemaligen Bildungsminister Fernando Haddad, als Stellvertreter fortgesetzt wird. Mit seinem meteorhaften Aufstieg in den jüngsten Umfragen ist damit zu rechnen, dass Haddad die Arbeiterpartei (PT) offenbar in eine Stichwahl mit dem rechtsextremen Ex-Militär Jair Bolsonaro führen wird. Von Frederico Füllgraf.

Szenenwechsel nach Buenos Aires, wenige Wochen zuvor. Richter Claudio Bonadio ordnet Hausdurchsuchungen der Polizei in den Hauptstadt- und südargentinischen Heimatwohnungen von Ex-Präsidentin Cristina Kirchner an. Der ehemaligen Staatschefin, die Ende 2015 ihre achtjährige Amtszeit mit immerhin knapp 50 Prozent der Wählerzustimmung beendete, wird von der Staatsanwaltschaft die „Bildung einer kriminellen Vereinigung und die Annahme von Bestechungsgeldern“ vorgeworfen. Grundlage der Beschuldigung bildet die Aussage Oscar Centenos – ehemaliger Fahrer der Kirchner-Vertrauensmänner Roberto Baratta und Julio De Vido – der auf eine Reihe von Notizheften als angebliche Beweisstücke verweist.

Doch dann die überraschende Meldung. „Nach einer Umfrage vom September ist die ehemalige Präsidentin Cristina Kirchner die politische Figur, die im Großraum Buenos Aires die meisten Wählerabsichten auf sich vereint”, berichtete das Magazin der einflussreichen Journalisten-Genossenschaft El Destape (En medio de la crisis del Gobierno, Cristina crece en las encuestas – 03. September 2018). Mindestens 52 Prozent der Bevölkerung haben eine positive Meinung von der gegenwärtigen Senatorin und 40,6 Prozent seien bereit, sie wieder zu wählen.

Allein zwischen Mai und September 2018, mitten im Hagel von sechs unterschiedlichen Justizanklagen, erlebte Cristina Kirchner einen Popularitätszuwachs von 8 Prozent. Zum Vergleich, der amtierende Präsident und politische Erzfeind Kirchners, Mauricio Macri, büßte seit Januar 2018 – insbesondere während der zugespitzten Wirtschaftskrise und der Megaentwertung der Landeswährung Peso – 20 Prozent seiner Popularität ein; „1 Prozent weniger bei jedem Dollar-Anstieg“, spotteten argentinische Medien (siehe dazu: “Argentinien-Brasilien 2018 – Spekulanten-Paradiese mit sozialem Trümmerhaufen”). Fazit: Sollte eine Stichwahl die für Ende 2019 anstehenden Präsidentschaftswahlen entscheiden, so El Destape, würde Kirchner Präsident Macri im Falle eines Wiederwahlauftritts mit mehr als 20 Prozent – genauer: mit 53:31 Prozent – schlagen.

Kaum war der Ex-Präsidentin medial Beliebtheit attestiert, beantragte Richter Bonadio Mitte September zum zweiten Mal die sofortige Verhaftung Kirchners, dessen erster Antrag im Dezember 2017 vom argentinischen Senat allerdings abgeschlagen wurde. Zu den weiteren Mitangeklagten gehören 17 Unternehmer, die nach Angaben der Justiz sich „reumütig” gezeigt und die ehemalige Staatspräsidentin schwer belastet hätten. Für nicht Eingeweihte eine unauffällige Meldung, für journalistische Insider des Modus Operandi in der sogenannten Anti-Korruptions-Szene in Brasilien ein Grund zum Aufhorchen.

“Justizkrieg”…

Sämtliche Anschuldigungen gegen Kirchner entstammen dem bewährten “Skript” der brasilianischen Einsatzgruppe “Lavajato“ (Unternehmen Waschanlage) unter Führung von Ermittlungsrichter Sérgio Moro. Dessen und das Vorgehen der mit ihm aktiven Staatsanwaltschaft ist für die höchst umstrittene Erpressung von Angeklagten bekannt, die mit Kronzeugenregelungen über Strafmaßmilderungen zur Anschuldigung Dritter angestiftet werden; eine seit Jahren praktizierte Justiz-Schikane, die nach Auskunft der investigativen brasilianischen Magazine GGN und Diario do Centro do Mundo eine “Industrie des Justizverrates” erzeugt hat, die die Taschen von Staatsanwälten und Richtern mit der Zahlung von millionenschweren Dollarbeträgen illegaler “Kommissionen” füllen sollte.

Kernstück der von Richter Moro bereits gegen Lula verwendeten Rechtsdoktrin ist die Verurteilung wegen „unbestimmten Handlungen“, das heißt, wahrhaft kafkaesken, nichtexistierenden Vergehen, für die kein einziger Beweis vorgelegt wird. So auch nicht in der “Causa Cristina Kirchner”. Der Feldzug der Tribunale beruft sich vielmehr auf die vom nationalsozialistischen Strafrechtler Hans Welzel 1939 aufgestellte und vom Nachkriegs-Juristen Claus Roxin 1963 unter dem Begriff „Täterschaft und Tatherrschaft“ weiterentwickelte Rechtslehre. Grob umrissen als Judizialisierung der Politik und weltweit als Lawfare – “Justizkrieg” – bekannt, hat ihr Roxin wegen zunehmender Anwendung in Lateinamerika bereits groben Missbrauch vorgeworfen und die spanische Partei Podemos vor der Infizierung und gefährlichen Politisierung auch der spanischen Justiz gewarnt.

Allerdings ist die grenzüberschreitende Ausuferung der Justiz-Politisierung auch als außenpolitischer Hebel der USA erkennbar, die mit der Ausweitung ihres “War on Terror” und der Unterzeichnung der Transatlantischen (TTIP) und Transpazifischen (TPP) Freihandelsabkommen die Globalisierung ihres Strafrechts durchzupeitschen versuchten. Was Politik-Wissenschaftler und Podemos-Theoretiker Juan Carlos Monedero zu folgendem Fazit veranlasste:

„Militärputsche sind hässlich, Foltern ist hässlich – also bilden die USA seit zehn Jahren Juristen für die politische Destabilisierung aus”.

Neoliberaler Kollaps, Militarisierung, Bedrohung der Demokratie

Wie bereits in Brasilien erprobt, gehört zur Justizverfolgung Cristina Kirchners die spektakuläre Medieninszenierung von Polizeieinsätzen und eine seitenfüllende, an Reputationsmord grenzende, tägliche Berichterstattung im argentinischen Mainstream, die allen Anzeichen nach auch eine Nebenfunktion ausüben soll: vom ebenso spektakulären Scheitern der neoliberalen Heilslehren, der katastrophalen Politik und der Promiskuität zwischen Justiz und Exekutive in der Macri-Regierung abzulenken, zumal Richter Bonadio als „geschworener Feind” der Kirchners und Ankläger Carlos Stornelli als langjähriger, persönlicher Freund Macris aus dem Umkreis des Fußballklubs Boca Juniors bekannt sind.

Macri, der 2016 die Regierungsgeschäfte mit dem Versprechen antrat, die bereits damalige zweistellige Inflationsrate in wenigen Monaten „auf Null zu drücken”, doch nach ganzen drei Regierungsjahren die Geldentwertung auf gegenwärtig 40 Prozent mehr als verdoppelte, bescherte mit der Abschaffung der Ministerien für Gesundheit und Bildung den Argentiniern im letzten Halbjahr den sozialen Zusammenbruch und Verzweiflung.

Militär-Stützpunkte und neue Geopolitik

Einher ging die soziale Demontage jedoch mit einer beschleunigten Anlehnung an die USA, die insbesondere nach dem Besuch des Pentagon-Chefs, General James Mattis, im vergangenen August mit der Installierung von zwei US-Militärstützpunkten in den Provinzen Jujui und Neuquén konkrete Umrisse angenommen hat und in den vergangenen Wochen zu massiven Protesten führten. Die Argentinier fühlen sich nicht nur von den als Stützpunkte “zur Drogenbekämpfung” (Jujui) und “Katastrophenschutz” (Neuquén) kaschierten Basen und umher schwadronierenden US-GIs bedroht, sondern von der damit und längst vor Mattis‘ Besuch von der Trump-Administration empfohlenen Militarisierung der Inneren Sicherheit, die nun Polizei durch Militär zur angeblichen “Verbrechensbekämpfung” ersetzt.

Aus der Vogelperspektive betrachtet, erhalten die Turbulenzen in Argentinien wiederum eine noch brisantere Dimension, schwingen sie doch auch unter dem Einfluss der Ereignisse im Nachbarland Brasilien. Die Besetzung des Verteidigungsministeriums und des Geheimdienstes mit zwei rechtsradikalen Generälen, die wiederholten Androhungen einer „Nichtannahme des Wahlergebnisses, falls die PT gewinnt” (General Eduardo Villas-Bôas) bzw. einer „Intervention” (Bolsonaro-Vize, General Hamilton Mourão) müssen als bedrohliche Signale für das Wiedererwachen der Militärkaste und deren Machtgelüste – vor allem als Anschlag auf den Rechtsstaat – gedeutet werden. Signale, selbstverständlich in Absprache mit den USA, die mit den Worten des argentinischen Sozialwissenschaftlers Juan Guahán vom Lateinamerikanischen Zentrum für strategische Analyse (CLAE) eine Geopolitik des „kontrollierten Chaos in ihrem Hinterhof” betreiben.

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!