Michael Hartmann: „Die Medien sind Teil des Problems geworden“

Ein Artikel von Marcus Klöckner

„Über drei Viertel der Herausgeber und Chefredakteure in den großen privaten Medien kommen aus den oberen vier Prozent der Bevölkerung“, sagt Michael Hartmann. Der Eliteforscher, der die These vertritt, dass die Eliten in Deutschland „abgehoben“ sind, also sich weit von der Lebenswirklichkeit der breiten Bevölkerung entfernt haben, verweist im NachDenkSeiten-Interview darauf, dass dieses Abgehoben-Sein genauso auf die journalistische Elite zutrifft. „Ihr Spitzenpersonal“, so der Soziologe weiter, „nimmt die gesellschaftliche Realität mindestens genauso verzerrt wahr, wie es bei der Politik-Elite der Fall ist“. Ein Interview über die Filterblase der Medien, die Spaltung in unserer Gesellschaft und die Möglichkeiten, wie sich die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse ändern lassen. Ein Interview von Marcus Klöckner.

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Herr Hartmann, über das Thema Eliten wird seit geraumer Zeit viel geredet. Aber eine echte Verknüpfung zwischen den Problemen, die es in Deutschland und Europa gibt, und dem Elitenthema findet nicht statt. Wie sehen Sie das?

Über Eliten wird tatsächlich viel geredet und dabei lassen sich zwei Hauptrichtungen erkennen. Von Anhängern der AfD, aber auch aus der Mitte der Bevölkerung ist häufig eine pauschale Elitenkritik zu hören. Man kritisiert „die da oben“ oder „die Reichen“. Auf der anderen Seite sagen diejenigen, die selbst zur Elite gehören bzw. irgendwie mit ihr sympathisieren, dass ein Eliten-Bashing betrieben wird.

Und?

An beiden Aussagen ist etwas richtig. Aber in dieser Ausschließlichkeit sind sie beide falsch.

Warum?

Beiden Stoßrichtungen fehlt in ihrer Argumentation die inhaltliche Substanz. Wer nicht bereit ist, in der Elitendiskussion über Inhalte zu reden, bleibt im luftleeren Raum. Ohne dass man auf einen genauen Inhalt zu sprechen kommt, gibt es keine vernünftige politische Diskussion und keine Aufklärung. Die, die die Eliten verteidigen, reden nicht über die Eliten als Problemverursacher und die, die die Eliten von rechts kritisieren, raunen, aber reden auch nicht über die wirklich entscheidenden politischen Inhalte.

Gut, lassen Sie uns Inhalt in die Diskussion über die Eliten bringen. Worauf sollte sich konzentriert werden?

Die Eliten sind aufgrund einer bestimmten Politik, die sie in den letzten Jahrzehnten betrieben und unterstützt haben, in die Kritik geraten.

Sie sprechen von der neoliberalen Politik?

Ja, einer Politik, die zu einer tiefen Spaltung der Gesellschaft geführt hat. Eine Politik, die enorme Einkommens- und Vermögensdifferenzen hat entstehen lassen, indem sie auf der einen Seite viele Bereiche dereguliert und die Wohlhabenden und Reichen steuerlich massiv entlastet hat. Auf der anderen Seite hat sie gleichzeitig durch die Agenda 2010 die Lage der Arbeitslosen enorm verschärft und einen großen Niedriglohnsektor geschaffen. Allein in den letzten 15 Jahren hat das obere Zehntel sein Einkommen real um 17 Prozent steigern können, während zeitgleich das untere Zehntel 14 Prozent verloren hat.

Beim Vermögen zählt Deutschland international sogar zu den Ländern mit der größten Konzentration. Ein Drittel des Gesamtvermögens gehört dem obersten Prozent. In Deutschland haben Eliten – wohlgemerkt nicht nur die politischen Eliten, sondern Spitzen aus allen wichtigen Gesellschaftsbereichen – die neoliberale Politik ab etwa der Jahrtausendwende betrieben. In Großbritannien und den USA seit den 80-er Jahren. Doch über diese Politik scheut sich gerade das rechte Lager bzw. die AfD zu reden.

Für das Verhalten der AfD gibt es einen guten Grund, oder?

Natürlich. Dann würde rauskommen, dass erhebliche Teile der AfD im Wesentlichen dasselbe Konzept weiterführen wollen, wie es die von ihnen kritisierten Eliten in den letzten Jahrzehnten umgesetzt haben. Das sehen wir deutlich in Österreich, wo die neue Regierung einen 12-Stunden-Arbeitstag erlaubt. Das sehen wir deutlich bei Trump mit den enormen Steuersenkungen für die Reichen. Allerdings muss man auch erwähnen, dass es bei der AfD zwei Flügel gibt, nämlich: Einen Westflügel, der die neoliberale Politik fortsetzen will und es gibt einen Ostflügel, der das zwar nicht möchte, aber der dann eine Sozialpolitik nur für „echte“ Deutsche vorschlägt.

Reden wir weiter über Inhalte. Wie sieht denn ein tragbares Fundament für eine Elitenkritik aus?

Wir müssen das Verhalten der Eliten betrachten und uns fragen: Wie agieren die Eliten? Warum agieren sie so? Dann stellen wir zunächst fest: Wir haben es mit Eliten zu tun, die zum größten Teil abgehoben sind.

Damit wären wir beim Titel Ihres Buches: „Die Abgehobenen“. Sind die Eliten wirklich abgehoben?

Ja. Damit meine ich, dass viele Elitenmitglieder den Kontakt zu Masse der Bevölkerung verloren haben und zwar aufgrund ihrer Herkunft und aufgrund ihrer realen Lebenssituation. Sie stammen zu fast zwei Dritteln aus den oberen gut vier Prozent der Bevölkerung und gehören mit einem monatlichen Einkommen von mindestens 10.000 Euro zum obersten Prozent der Einkommensbezieher. Das heißt, sie nehmen die Wirklichkeit auf eine andere Weise wahr als ein großer Teil der Bürger. Sie nehmen sie gefiltert wahr, haben bei der Beurteilung der Verhältnisse in unserer Gesellschaft große Leerstellen.

Ein Beispiel: Wenn Sie nie wegen Eigenbedarf aus einer Wohnung mussten oder bei der Wohnungssuche nie in einer Schlange mit 100 Mitbewerbern gestanden haben, dann haben Sie keine wirkliche Vorstellung von der Wohnungssituation in den Ballungszentren. Und wenn Sie noch nie Probleme hatten, Ihre Miete zu zahlen, dann fehlt es Ihnen an dem Bewusstsein, wie dringend notwendig sozialer Wohnungsbau ist. Wenn Sie nie gesetzlich krankenversichert waren, dann nehmen Sie das Gesundheitssystem anders wahr als die meisten Bürger.

Wie stark die eigene Situation das Denken und Handeln prägt, zeigt auch ein aktuelles Beispiel: Gesundheitsminister Jens Spahn hat sich, kaum im Amt, für die Kostenübernahme der Aids-Prophylaxe durch die Krankenkassen eingesetzt. Was meinen Sie: Hätte ein konservativer Gesundheitsminister, der nicht homosexuell ist, sich dafür eingesetzt? Wohl kaum. Für Spahn ist die Aids-Prophylaxe ein wichtiges Thema, weil er selbst zu der Gruppe der am meisten Betroffenen gehört. Die eigene Betroffenheit prägt hier seine Problemwahrnehmung.

Bei Hartz IV spricht er dagegen davon, dass damit jeder das habe, was man zum Leben brauche. Als Sohn eines mittelständischen Unternehmers gibt er damit die Position wieder, die in diesen Kreisen vorherrscht. Die Beispiele könnte man weiterführen. Um es auf den Punkt zu bringen: Je abgehobener die Eliten sind, umso weniger berücksichtigen ihre Lösungskonzepte die Interessen der breiten Bevölkerung.

Welche Auswirkungen ergeben sich aus dieser Situation? Was bedeutet es, wenn die Eliten so funktionieren, wie Sie es beschreiben?

Für die Gesellschaft als Ganzes bedeutet es, dass in einem deutlich stärkeren Maße, als es vor 30, 40 Jahren der Fall war, die Eliten sich nur noch an den Interessen eines überschaubaren Teils der Bevölkerung orientieren – nämlich an den Interessen, die in ihrer eigenen Bevölkerungsschicht dominieren. Diese Entfernung der Eliten von den „normalen“ Bürgern ist in allen Bereichen zu beobachten, wo Eliten vertreten sind. Politik, Wirtschaft, Medien, Justiz etc. Und dieser Prozess setzt sich weiter fort, das heißt die Entfremdung zur Masse der Bevölkerung schreitet immer weiter voran. Das spiegelt sich, wie schon angesprochen, dann eben auch in einer Politik wider, die zu einer weiteren Vergrößerung der Kluft zwischen Arm und Reich führt.

Die politische Reaktion auf diese Politik ist, dass viele Bürger nicht mehr wählen gehen. Dieses klare Signal wurde über viele Jahre ausgesandt und es war deutlich zu sehen. Aber haben die Nichtwähler wirklich jemanden interessiert? Gab es eine aufgeregte Medienberichterstattung? Nein. Man muss feststellen: Im Prinzip waren die Nichtwähler den Eliten ziemlich egal. Und so haben sich viele Menschen gedanklich immer weiter von den Parteien entfernt.

Dann ist die AfD aufgetaucht und plötzlich hat sich ein erheblicher Teil der Nichtwähler, vor allem frühere SPD-Wähler, gesagt: Wir wählen! Und zwar: die AfD! Die Tatsache, dass eine Partei wie die AfD existiert und mittlerweile in manchen Umfragen zweitstärkste Partei ist, muss als ein letztes Signal dieser Menschen betrachtet werden. Sie haben die AfD erst wirklich stark gemacht. Dazu hätten die traditionell rechts eingestellten Wähler nicht ausgereicht. Anders als diese lassen sich die Protestwähler auch wieder für eine linke Politik zurückholen, wenn man auf ihre Interessen wirklich eingeht. Das hat sich im letzten Jahr gezeigt, als die SPD mit dem Kanzlerkandidaten Schulz kurzzeitig den Eindruck erweckte, den neoliberalen Pfad tatsächlich verlassen zu wollen.

Sie haben es gerade angesprochen: Die Abgehobenheit der Eliten trifft nicht nur auf die politische Elite zu. Sie haben auch die Medienelite angeführt.

Ja, natürlich. Die Medien sind mittlerweile zu einem Teil des Problems geworden. Ihr Spitzenpersonal nimmt die gesellschaftliche Realität mindestens genauso verzerrt wahr, wie es bei der Politik-Elite der Fall ist. Und dafür gibt es gute Gründe. Die Rekrutierung der Medienelite ist sozial noch weniger repräsentativ. Über drei Viertel der Herausgeber und Chefredakteure in den großen privaten Medien kommen aus den oberen vier Prozent der Bevölkerung. Nähme man die Eigentümer und Vorstandschefs noch hinzu, wären es über vier Fünftel. Dann wäre die private Medienelite sogar die exklusivste von allen Eliten. Im öffentlich-rechtlichen Sektor sieht es etwas besser aus. Dort besetzen Personen, die aus der breiten Bevölkerung stammen, wenigstens knapp die Hälfte der Spitzenpositionen. Aber repräsentativ ist das auch nicht einmal annähernd.

Nehmen wir doch als Beispiel mal die Journalistenschulen.

Eine ehemalige Doktorandin von mir, Klarissa Lueg, hat sich Anfang des Jahrzehnts mit der sozialen Herkunft der Journalistenschüler an den drei wichtigsten Journalistenschulen in Hamburg, Köln und München auseinandergesetzt. Ihr Ergebnis: Fast 70 Prozent von ihnen stammten aus Familien von Akademikern in leitenden Positionen, niemand dagegen aus der unteren Hälfte der Bevölkerung.

Die Journalistenschulen sind, das ist bekannt, Karrierebeschleuniger. Viele der großen Medien rekrutieren ihren Nachwuchs aus den großen Journalistenschulen. Das heißt: Der Teil des journalistischen Nachwuchses, der aufgrund seiner Herkunft bereits privilegiert ist, bekommt dann eine Stelle bei jenen Medien, die maßgeblich den Ton im Land angeben. Damit wird noch deutlicher, warum wir auch Teile der Medien als „abgehoben“ bezeichnen müssen.

Peter Ziegler hat in seiner Studie „Journalistenschüler – Rollenselbstverständnis, Arbeitsbedingungen und soziale Herkunft einer medialen Elite“ auch erkannt, dass sich die von ihm befragten Journalistenschüler „wie erwartet als veritable Leistungselite erwiesen [haben]. Eine Leistungselite, die ganz überwiegend der Mittelschicht entstammt.“ Und auch die grundlegende Studie von Siegfried Weischenberg verweist darauf, dass das journalistische Feld in seiner sozialen Zusammensetzung alles andere als ein Spiegel der Gesellschaft ist. Können Sie uns noch etwas näher erläutern, was es bedeutet, wenn Medien von Akteuren dominiert werden, die eine sehr ähnliche Sozialisation aufweisen?

Das entscheidende Problem besteht darin, dass die Journalisten in den wichtigen Positionen die Wirklichkeit durch eine spezifische soziale Brille betrachten. Ähnlich wie bei den schon geschilderten Beispielen orientieren sich viele Journalisten unbewusst an der Sichtweise, die in ihren Kreisen vorherrscht und durch eine gemeinsame Herkunft und materielle Lage bestimmt wird. Arme Menschen zum Beispiel werden oft klischeehaft wahrgenommen, weil man überhaupt keinen Kontakt zu ihnen hat, niemand im eigenen Bekanntenkreis in dieser Lage ist.

In Ihren Studien über die Wirtschaftseliten haben Sie immer wieder auf den Habitus verwiesen. Also: Bei der Rekrutierung der Spitzenpositionen wird stark darauf geachtet, welche Haltung der Bewerber hat, wie er eingestellt ist. Sie sprechen vom richtigen „Stallgeruch“, der die Voraussetzung ist, um auf den oberen Ebenen der Wirtschaft weiterzukommen. Ist das in den Medien ähnlich? Wird dort auch Wert auf einen bestimmten Habitus gelegt?

Wenn Sie bei den großen Medien Karriere machen wollen, haben Sie ohne den „richtigen“ Habitus in der Regel kaum eine Chance. Wem beispielsweise der akademische Hintergrund fehlt, der fällt auf, hat einen anderen Habitus. Werfen wir einen Blick auf die prominenten Persönlichkeiten im Journalismus. Anne Will: Akademikertochter. Sandra Maischberger: Akademikertochter. Claus Kleber: Akademikersohn. Marietta Slomka: Akademikertochter. Der neue Chefredakteur vom Stern: Sein Vater war Chefredakteur, seine Mutter war stellvertretende Chefredakteurin. Diese soziale Prägung, die da vorhanden ist, macht sich natürlich auch in der Wahrnehmung der Welt und in der Konsequenz dann auch in der Berichterstattung bemerkbar. Früher war das noch etwas anders. Es war leichter, auch ohne den akademisch-bürgerlichen Habitus, der heute in den Medien dominiert, nach oben zu kommen.

Vor einiger Zeit sagte (ab 14:50) Stefan Kornelius, Außenpolitik-Chef der Süddeutschen Zeitung, gegenüber ZAPP: “Wir haben es mit einer Generation zu tun, die jetzt in den Journalismus kommt, die so international ist wie keine zuvor. Jeder Volontär bei uns hat zwei, drei Jahre Auslandserfahrung in den noch so exotischsten Ländern hinter sich, spricht Sprachen, das ist wirklich toll und bemerkenswert. Es gibt die komplette Erasmus-Generation, die rumläuft, die ist offen und versteht, wie die Welt tickt. Also eigentlich müsste es ein leichtes Spiel sein, aber das darf man sich nicht durch die Verrückten verderben lassen.” Hier wird deutlich, worauf die Süddeutsche Zeitung, aber vermutlich auch andere große Medien bei ihrem Nachwuchs achten. Was sind Ihre Gedanken, wenn Sie diese Aussage hören? Diesen Lebensstil dürften sich die Kinder aus Hartz-IV-Familien kaum leisten können.

Nein, gewiss nicht. Und auch die meisten anderen können diese gewünschten Zugangsvoraussetzungen nicht erfüllen. Die Kinder der unteren zwei Drittel der Bevölkerung sind schon froh, wenn Sie es überhaupt bis an die Uni schaffen. Auslandserfahrungen in dem von Kornelius erwähnten Umfang machen fast nur die Kinder aus gutsituierten Akademikerfamilien.

Aber, wenn wir über die Medien reden, spielt nicht nur die Herkunft der Journalisten eine Rolle. Auch die Konzentration im Pressebereich ist in dieser Beziehung wichtig. Wir haben wenige große Verlage, die über riesige Verbreitungsgebiete verfügen. Der Mantel, also der überregionale Teil, der in diesen Medien zu findet ist, stammt dann von einer einzigen zentralen Redaktion, die zumeist in Berlin sitzt. Und viele Redaktionen, die von Berlin aus über Politik, Land und Gesellschaft berichten, sitzen dort in einem kleinen Areal zwischen Brandenburger Tor und Gendarmenmarkt in einer Blase und haben keinen wirklichen Zugang zur realen Situation der Bevölkerung. Das war früher noch anders. Da konnte ich, wenn ich ein Interview über allgemeine politische Themen führen wollte, zum Beispiel noch bei der WAZ in Essen anrufen. Heute verweisen mich die Journalisten dort immer an die Zentralredaktion Politik in Berlin. In Essen war man aber noch deutlich näher dran an der normalen Bevölkerung als in der Berliner Blase.

Ein weiterer Einfluss auf die Berichterstattung ergibt sich noch daraus, dass bei vielen Medien und Journalisten die Ressourcen knapp sind. Aus vielen Gesprächen mit Journalisten auf der mittleren und unteren Ebene weiß ich, dass es überall an Geld fehlt und auch deshalb oft keine Zeit für intensivere Recherchen vorhanden ist. Dann bleibt oft auch nichts anderes übrig, als sich auf die Informationen der Nachrichtenagenturen oder anderer Medien zu stützen, die schon vorhanden sind – das ist einfach, man spart Ressourcen. Überprüft wird das dann aber oft nicht mehr. Auch das trägt zu der häufig zu beobachtenden medialen Uniformität bei.

Verlassen wir das Medienthema und kommen wir auf die drei Grundthesen zu sprechen, die Sie im Hinblick auf die Eliten aufgestellt haben.

Meine erste These lautet: Das Aufkommen des Rechtspopulismus und die Politikverdrossenheit ist in erster Linie eine Folge der neoliberalen Politik der letzten zwei bis drei Jahrzehnte. Das gilt von Frankreich bis in die USA, von Deutschland bis Ungarn. Vor allem die Tatsache, dass die Parteien links der Mitte wie Labour, die französischen Sozialisten, die SPD oder die US-Demokraten im Kern dieselbe Politik gemacht haben wie die konservativen Parteien, hat die Rechtspopulisten erst stark gemacht, hat Teile ihrer Wählerschaft zu ihnen getrieben.

Die zweite These lautet: Die neoliberale Politik ließ sich nur durchsetzen mit politischen Eliten, die in ihrer sozialen Rekrutierung radikal verändert waren. Das heißt: Es hat eine massive Verbürgerlichung der Eliten stattgefunden. Am stärksten ist dies der Fall in den Ländern, wo der Bruch mit der zuvor bestimmenden Politik am stärksten war. Also in Großbritannien und den USA, wo die Regierungskabinette von Thatcher und Reagan zu 75 bis 80 Prozent von Politikern besetzt waren, die aus den oberen vier Prozent der Bevölkerung stammten. In den Vorgängerregierungen von Callaghan und Carter kamen dagegen gerade einmal 25 bis 30 Prozent aus diesem Milieu.

Es trifft in abgeschwächter Form aber auch auf Deutschland zu, wo die politische Elite seit Ende der 1990-er sozial auch erheblich exklusiver geworden ist. Der Wechsel vom Bäckersohn Lafontaine zum Architektensohn Eichel im für die neoliberale Politik zentralen Finanzministerium ist da charakteristisch. Interessant ist, dass in allen drei genannten Fällen die Regierungschefs, Thatcher, Reagan und Schröder, soziale Aufsteiger waren. In der Öffentlichkeit wurde dadurch die veränderte soziale Rekrutierung der gesamten politischen Elite übertüncht.

Die dritte These ist: Durch diese Politik hat sich die materielle Lebenswirklichkeit der Elite und der mit ihr verbundenen Kreise der Bevölkerung verändert. Diese Personen gehören zu den Gewinnern der neoliberalen Politik. Das heißt: Sie nehmen die reale Situation daher nicht nur aufgrund ihrer Herkunft, sondern auch aufgrund ihrer eigenen Lage anders, sprich erheblich positiver, wahr als die Masse der Bevölkerung.

Welche Lösungsmöglichkeiten sehen Sie denn? Gibt es die überhaupt?

Ja, die gibt es. Und zwar über die Politik. Über die Politik können die „normalen“ Menschen noch am meisten Einfluss nehmen. Denken wir daran, wie die Umfragewerte der SPD nach oben gegangen sind, als Martin Schulz Kanzlerkandidat wurde. Viele frühere SPD-Wähler haben plötzlich Hoffnung geschöpft. Die SPD ging in den Umfragen von 20 auf 33 Prozent nach oben. Jetzt sind die Sozialdemokraten je nach Umfrage nur noch bei 16 bis 18 Prozent. Denn der Hype ist schnell verflogen, weil die Menschen erkannt haben, dass Schulz nicht das halten wird, was er versprochen hat. Mit Scholz und Nahles stehen jetzt wieder Politiker an der Spitze, die die alte Schröder-Politik repräsentieren.

Wir sehen aber, wenn wir nach Großbritannien blicken, dass eine Partei, die ernsthaft bereit ist, sich neu zu orientieren, bereit ist, das neoliberale Konzept wirklich über Bord zu werfen, relativ schnell Erfolge erzielen kann. Es bedarf zunächst eines klaren Signals einer grundlegenden Veränderung, einer politischen Kehrtwende weg vom neoliberalen Kurs der Vergangenheit, und gleichzeitig auch einer massiv veränderten sozialen Rekrutierung der Spitzenpolitiker. Im Schattenkabinett von Corbyn kommt jeder Zweite aus der Arbeiterklasse und nur noch ein Fünftel aus den oberen vier Prozent der Bevölkerung. Auf einer Privatschule war nur ein einziger von 22. Alle anderen sind auf öffentliche Schulen gegangen. Das ist ein radikaler Bruch mit der Tradition der letzten vier Jahrzehnte. So lassen sich die Menschen gewinnen und begeistern, vor allem die jüngeren unter ihnen. Wenn man diese Politik über einen längeren Zeitraum fortführt, gewinnt der Prozess seine eigene Dynamik und die Chance auf reale Veränderungen steigt.

Nur hat die SPD die Luftblase schnell zum Zerplatzen gebracht und die Menschen sind sich veräppelt vorgekommen. So wird das natürlich nichts. Kurzum: Auf dem linken Flügel müssen sich die Dinge radikal verändern, damit sich auch gesellschaftlich etwas zum Besseren wendet.

Lesetipp: Hartmann, Michael. Die Abgehobenen. Wie die Eliten die Demokratie gefährden. Campus. 276 Seiten. 19,95 Euro.