Demokratie wagen in Kurdistan
Die Bundesregierung rollt dem türkischen Präsidenten wieder den roten Teppich aus. Mit großem Pomp, militärischen Ehren und einem Staatsbankett wird Ende September Recep Tayyip Erdogan in Deutschland empfangen, gerade so, als sei mit der Türkei wieder alles in Ordnung. Es ist die ultimative Aufwertung ausgerechnet des Mannes, der weiterhin Deutsche als politische Geiseln einkerkert, der Oppositionelle zu zehntausenden einsperrt, kritische Medien schließt und Krieg gegen die Kurden in den Nachbarländern führt wie daheim. Zur Demonstration und Festigung seiner Macht möchte der Despot vom Bosporus auch zu seinen Anhängern in Deutschland sprechen, seinen Landsleuten, wie er sagt. Angefragt sind große Veranstaltungsorte in Köln, gesucht wird aber auch nach einer geeigneten Arena in Berlin. Von Rüdiger Göbel.
Warum der Erdogan-Besuch in Deutschland nicht ohne Widerspruch bleiben darf, davon legt das Buch „Die Kurden. Ein Volk zwischen Unterdrückung und Rebellion“ von Kerem Schamberger und Michael Meyen beredtes Zeugnis ab. Doch dazu weiter unten.
Recep Tayyip Erdogan ist eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit in Deutschland. Zu dem Schluss jedenfalls sind in der vergangenen Woche die Behörden im hessischen Wiesbaden gekommen, weshalb sie den türkischen Präsidenten unter großem Polizeiaufgebot mit einem Feuerwehrkran haben entfernen lassen. Der Sultan, vier Meter hoch, innen betonhart, außen golden glänzend, war im Rahmen der Biennale unter dem Motto „Bad News“ auf den Sockel gehoben worden und hatte erwartungsgemäß die Gemüter erregt. Bevor die Lage zwischen Erdogan-Fans und -Gegnern, vornehmlich kurdische Demonstranten, weiter hätte eskalieren können, hat man – sicher ist sicher – die überlebensgroße Statue kurzerhand aus der Stadt geschafft.
Allein, aus dem Auge, aus dem Sinn, das funktioniert nicht. Erdogans langer Arm reicht tief nach Deutschland. Gerade erst hat er von der Staatsanwaltschaft in Neubrandenburg einen Kurden vorladen und verhören lassen – wegen angeblicher Präsidentenbeleidigung. Der beschuldigte Mann war im Jahr 2000 nach Deutschland geflüchtet und ist dennoch nicht sicher.
Für die Kurden ist die Aufwertung und Unterstützung Erdogans durch die Bundesregierung der reine Hohn. Was hat sich denn in der Türkei seit der Bundestagswahl vor einem Jahr zum Besseren geändert, dass der CDU-Wirtschaftsminister Peter Altmaier mit einem Mal eine Vertiefung der Wirtschaftsbeziehungen avisiert? Was ist mit der Türkei passiert, dass die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles heute das Land mit Finanzhilfen stützen will? Zur Erinnerung: Ihr Amtsvorgänger Martin Schulz hat als Bundeskanzlerkandidat seiner Partei angesichts von Repression und Willkürherrschaft in der Hochphase des Wahlkampfes den Abbruch der EU-Beitrittsgespräche in Aussicht gestellt. Nichts ist gut in der Türkei, es ist nur nicht mehr so oft in den Medien. Nichts hat sich zum Besseren entwickelt. Im Gegenteil. Zu Massenverhaftungen und Mediengleichschaltung kommt noch eine Militäroffensive dazu: Die türkische Armee hat im Januar einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Kurden in Syrien gestartet und hält seit einem halben Jahr mit islamistischen Kampfgruppen Afrin besetzt. Erklärtes Ziel ist die Eroberung der Region Rojava und die Zerstörung der kurdischen Selbstverwaltung – auch mit deutschen Waffen.
Von all dem berichten der politische Aktivist Kerem Schamberger und der Medienforscher Professor Michael Meyen in ihrem gerade erschienenen politischen Lesebuch. Es handelt von Menschen, die die kurdische Frage in Deutschland stellen, weil sie selbst Kurden sind oder sich mit diesen politisch verbunden fühlen. Die Autoren sind zu ihnen gefahren, nach Kassel, nach Duisburg, München und Berlin. Und sie waren vor Ort in den kurdischen Gebieten der Türkei, im Irak, Iran und Syrien. Die vielen kleinen Geschichten tragen die Autoren zusammen zu einer großen Erzählung, packend und fundiert, über die Geschichte des größten staatenlosen Volkes der Welt mit „mehr als 30 Millionen Menschen, die bei uns als Türken, Syrer, Iraner oder Iraker gelten (um nur die vier wichtigsten Siedlungsgebiete zu nennen), weil sie einen entsprechenden Pass haben“.
Da geht es einmal weit zurück zu den „Gründungsmythen, die sich die Kurden erzählen“, etwa zum „Drachenkönig, Sohak, Herrscher im Land Schahrazur, der jeden Tag zwei Kinderhirne fordert“. Die Untertanen jubeln ihm schließlich Lammhirn unter, die Kinder werden gerettet und in die Berge geschickt. Dort wird das Volk der Kurden gegründet. Der Drachenkönig stirbt schließlich durch die Hand des Schmiedes „Kawa, der all seine Lieben an den Drachenkönig verloren hatte und mit dem Bergvolk ausgezogen war, das Monster zu töten“. Das soll – so die kurdische Weise – am 21. März im Jahr 612 vor unserer Zeit gewesen sein. Bis heute feiern die Kurden an diesem Tag „Newroz“, ihr Neujahrsfest.
Das Buch geht zurück zum 14-Punkte-Plan von Woodrow Wilson, zum Sykes-Picot-Abkommen, den Verträgen von Sèvres (1920) und Lausanne (1923), wie sich die Westmächte den Nahen und Mittleren Osten nach dem Ersten Weltkrieg aufgeteilt haben und die Kurden dabei trotz anderslautender Versprechungen leer ausgingen. Auch die neugegründeten Staaten in der Region hätten kein Interesse an einer kurdischen Nation gehabt, schreiben die Autoren. „Im Gegenteil. Sie haben alles getan, damit Sprache, Kultur und Identität verschwinden.“
„Sykes-Pikot, Sèvres, Lausanne: Für den Nahen Osten und für die Kurden ist das die Dreifaltigkeit des Teufels. Alles Übel beginnt hier. Bei willkürlich gezogenen Grenzen, bei Staaten wie Syrien und dem Irak, die nur zusammengehalten werden können, wenn man Woodrow Wilsons Grundprinzip der Selbstbestimmung ignoriert, bei der Gewöhnung an Bevölkerungsaustausch, Vertreibung, Zwangsumsiedlung. Christliche Türken nach Griechenland, muslimische Griechen in die Türkei. Ob sie wollen oder nicht. Manche werden nie die Sprache ihrer neuen Heimat sprechen. Die Kurden will Ankara nicht hinauswerfen. Die Kurden sollen Türken werden.“
Sykes-Pikot, Sèvres, Lausanne, das sei „Vergangenheit und Gegenwart zugleich. Es geht um wirtschaftliche Interessen, um Erdgas und Öl, immer noch.“ Eine Besonderheit Kurdistans mache schließlich auch dessen besondere Lage aus, flechten Kerem Schamberger und Michael Meyen in die politische Erzählung ein:
„Die Geografie erklärt, warum sich die großen Reiche genau dort in die Quere kamen, wo Kurdistan liegt, und warum diese Gegend immer wieder von Eindringlingen, Nomaden und plündernden Horden heimgesucht wurde. Die Geografie erklärt, warum die Araber die Kurden mit Gewalt zum Islam bekehren konnten und warum der Widerstand trotzdem nicht wirklich zu brechen war. Die Geografie: Das sind vor allem die Berge. Hunderte Gipfel, von denen die gewaltigsten über 5000 Meter hoch sind. Am Ararat soll die Arche von Noah gestrandet sein. Noch so eine Geschichte. Karl May jedenfalls hat nicht umsonst vom ‚wilden Kurdistan‘ gesprochen. Abgelegen, unwegsam, unzugänglich. Tiefe Schluchten, lange, lange Schnee und winzige Dörfer, die sich an Abhänge klammern. Schwer zu erreichen für jede Regierung, für jede Verwaltung, für jeden religiösen Führer.“
Es brauche keinen Mythos, um zu verstehen, warum die Kurden bis heute anders sind als ihre Nachbarn. Man müsse nur diese Berge sehen und sich vorstellen, dort zu leben. „Schon das Nachbartal unerhört fern, es sei denn, man steht auf tagelange Fußmärsche oder nimmt den elend langen Umweg über das Provinzzentrum. In den Bergen Kurdistans ist man für sich. In diesen Bergen braucht man keine Armee. Es dauert, bis eine neue Idee hierherkommt oder eine neue Technologie.“
Erklärte Schwerpunkte des Buches sind die jüngere Geschichte und die Gegenwart, der Anfang der Arbeiterpartei Kurdistans PKK in den 1980er Jahren, ihre Ausstrahlung in der Region und auch auf viele Linke hier in Deutschland. Es ist die Geschichte von Aufstand, Ausbruch und Rebellion, von Krieg, Terror und Repression, vom Vordenker und Vorsitzenden Abdullah Öcalan, der seit Februar 1999 auf der Gefängnisinsel İmralı im Marmarameer in Einzelhaft sitzt; und es ist die Geschichte seines heutigen Widersacher Recep Tayyip Erdogan, der nach einer Zwischenphase mit Friedensverhandlungen heute wieder wie seine Amtsvorgänger aus machttaktischen und geostrategischen Überlegungen Krieg gegen die Kurden führt – und die gegen den Staat.
Die Autoren schildern nicht unkritisch die neue Realität, als im Oktober 1986 die PKK zur Guerillapartei wird:
„Mitglied sein ist von nun an endgültig mehr als Beitrag zahlen und zur Versammlung gehen. PKK geht nur noch ganz oder gar nicht. 24/7 im Dienst der Partei und der kurdischen Sache, das ganze Jahr. Fort mit dem alten Leben, im Zweifel auch fort mit dem Leben überhaupt, wenn der Kampf es erfordert. Kader brechen den Kontakt zu ihren Familien ab und auch zu ihrem Partner, selbst wenn sie zu zweit zur Bewegung kommen. Niemand soll wählen müssen zwischen der Partei und der Geliebten, wenn er in eine Mündung schaut oder auf der Folterbank liegt. Niemand soll außerdem den Vorwurf hören, er gehe nur in die Berge, weil dort ein Gespiele wartet, vor allem die jungen Frauen nicht. Kurdistan ist eine traditionelle Gesellschaft, religiös, konservativ. Die PKK-Ideologen haben diese Herausforderung mit hevaltî beantwortet, eine Form von Liebe, die nicht körperlich ist, sprachlich verwandt mit heval, Genosse.“
Und weiter:
„In Kurdistan springt der Funke sehr schnell über, obwohl Unschuldige bei PKK-Aktionen sterben, obwohl die Rekruten nicht immer freiwillig mitgehen, obwohl die türkische Armee und der Geheimdienst Aktivisten ermorden, Dörfer zerstören, Bewohner vertreiben – immer verbunden mit der Botschaft: Ihr seid selbst schuld, wenn ihr den ‚Terroristen‘ unter euch nicht den Hahn abdreht.“
Doch der Hahn wird nicht abgedreht, allen Bomben des türkischen Militärs und williger kurdischer Helfer zum Trotz. Der Krieg dauert an, mit kurzen Unterbrechungen, bis heute. Der Krieg gebiert immer neuen Widerstand. Unterdrückung und Rebellion.
Im Umgang mit der PKK macht sich Deutschland Ankaras Sicht zu eigen. Die Arbeiterpartei Kurdistans gilt als „Terrororganisation“ und ist verboten, ihre Anhänger werden verfolgt und kriminalisiert – anders als etwa in Österreich, in der Schweiz oder in Belgien. Schon das Zeigen von kurdischen Fahnen auf deutschen Straßen reicht für martialische Polizeieinsätze. Ankara ist eben enger Partner Berlins, so war es schon zu Kaisers Zeiten und so ist es bis heute geblieben.
Die Autoren schildern die lange Unterstützung und Rückendeckung für die Türkei durch Deutschland und die anderen NATO-Staaten, die auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie pfeifen, Ankara ständig neu mit Waffenlieferungen versorgen und für den illegalen Einmarsch in Afrin ganz offensichtlich Carte Blanche gegeben haben. – Umso mehr verwundert, das sei kurz eingeworfen, dass kurdische Organisationen und ihre deutschen Unterstützer in Berlin vor der russischen Botschaft protestierten statt vor der nahegelegenen US-amerikanischen Vertretung oder dem Kanzleramt, wo Erdogans Waffenbrüder und -schwestern zu finden sind.
Für Kerem Schamberger und Michael Meyen ist Demokratie „der Schlüssel, um die Probleme des Landes zu lösen“ und damit auch die kurdische Frage. „Ein Staat, eine Sprache, eine Nation“, diese Formel könne nicht funktionieren.
„Die Kurden sind die größte Minderheit im Land. Dieses Volk lässt sich weder türkifizieren noch sonst irgendwie in die Knie zwingen – nicht mit Feldzügen im Osten Anatoliens, in Rojava oder im Irak und auch nicht mit der Hilfe von Verbündeten wie Deutschland, die rigoros gegen alles vorgehen, was nach kurdischer Freiheitsbewegung aussieht und dabei auch die eigenen Werte vergessen.“
Die Autoren versuchen, frei nach Abdullah Öcalan, Brücken zu bauen, für die türkische Regierung wie die deutsche:
„Demokratie ist etwas anderes als ein kurdischer Staat. Demokratie kann zunächst einfach nur ein bisschen weniger Zentralregierung und ein bisschen mehr Autonomie. Die Menschen vor Ort selbst entscheiden lassen, wie sie ihr Leben organisieren wollen. Und diesen Menschen vor allem das erlauben, was der Anfang von allem ist – schreiben und sagen dürfen, was man denkt, und dafür auch auf die Straße zu gehen, ohne Angst haben zu müssen vor der Polizei, vor den Geheimdiensten, vor Paramilitärs. Für die Türkei können wir das schlecht verfügen. Aber hier bei uns zu Hause: Da sollte das schon möglich sein.“
„Die Kurden. Ein Volk zwischen Unterdrückung und Rebellion“ kommt zur rechten Zeit. Wer verstehen will, warum eine kleine Kunstaktion in Wiesbaden für Aufruhr und internationale Schlagzeilen sorgt, warum Erdogan von der schwarz-roten Bundesregierung einen Staatsakt bekommt und warum es am Ende keine kleine Frage ist, ob der rot-rot-grüne Senat in Berlin am 28./29. September bei den Protesten dagegen kurdische Fahnen zulässt, für den liegt in der Buchhandlung ab sofort exzellente Handreichung parat.
Kerem Schamberger und Michael Meyen haben die deutsch-türkischen Beziehungen wie auch die lange Geschichte der Kurden kurzweilig und lesbar zu Papier gebracht. Bei aller bekundeten Sympathie für Abdullah Öcalan und die PKK haben die beiden keine Hagiographie über den großen Vorsitzenden und seine Partei geschrieben, sondern ein wertvolles Buch zum besseren Verständnis der Verfemten und zur Verständigung für ein friedliches Zusammenleben. Dafür kann ihnen und dem Westend-Verlag nicht genug gedankt werden.
Zum Buch: Kerem Schamberger und Michael Meyen: Die Kurden. Ein Volk zwischen Unterdrückung und Rebellion. Westend-Verlag, Frankfurt am Main 2018, 240 Seiten, 19 Euro.