„Keine Macht der Welt kann mich daran hindern … Lula … zu vertrauen und ihm zu glauben!”
Es war der trending topic in den sozialen Netzwerken Brasiliens am späten Nachmittag des 30. August 2018: der Gefängnis-Besuch von Martin Schulz bei Ex-Präsident Lula da Silva. Mit Ausnahme des liberalen Jornal do Brasil unterschlugen die konservativen brasilianischen Medien die Nachricht, wurden jedoch von europäischen Medien wie Radio France International RFI, dem Spiegel und selbst von der Deutschen Welle beflissentlich daran erinnert. Von Frederico Füllgraf.
Martin Schulz nach seinem Gefängnis-Besuch von Ex-Präsident Lula – Ein Bericht aus brasilianischer Sichtweise
Die Niederlassung der Bundespolizei in Curitiba, in deren 4. Stock Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva eine abgeschirmte 15qm-Zelle belegt, stand mal wieder unter Einsatz-Stress wegen angestauten und hoch respektierten Staatsbesuchen. Der Visite von Martin Schulz war nämlich wenige Stunden zuvor die des portugiesischen Professors an der Universität Coimbra und internationalen Aktivisten Dr. Boaventura de Souza Santos vorausgegangen.
Nie zuvor in ihrer 325-jährigen Geschichte wurde die zwar 2 Millionen Einwohner zählende, jedoch merklich provinziell wirkende südbrasilianische Metropole so massiv und in so kurzer Zeit von derart bunter einheimischer und internationaler Prominenz besucht. Obendrein zur Anteilnahme am Schicksal eines „Kriminellen“ empören sich Polizei, Staatsanwälte und das erzreaktionäre Fußvolk des hier beheimateten, urteilenden Lula-Scharfrichters Sérgio Moro, der mit Widmungen der amerikanischen Time und Preisen der landesgrößten Mediengruppe O Globo zum medial verhökerten Justizhelden seit 2014 Curitiba erstmals in die internationalen Schlagzeilen hievte.
Die Welt gibt sich vor Lulas Zelle die Klinke in die Hand – und die Justiz antwortet mit Schikanen
Es ist keine Mutmaßung, sondern ein offenes Geheimnis, dass Moro, der vom US- Departement of State ausgebildete Task-Force-Punisher, so manches Mal während der Verhöre Lulas – insbesondere wenn der Ex-Präsident Episoden seiner mehr als hundertfachen internationalen Staatsbesuche, z.B. das Dinner mit Queen Elisabeth schilderte – nervös auf seinem Richterstuhl hin und her rutschte und – von Neid besessen? – die Kontrolle über seine zuckenden Mundwinkel verlor. Ebenso hat sich millionenfach unter Lulas Anhängern herumgesprochen, dass jeder auch noch so geringe Erfolg der Petitionen seiner Anwälte gegenüber Moros Vorgesetzten im Obersten Gerichtshof (STF) oder ein bescheidenes 1 Prozent in der unaufhaltsam steigenden Wählergunst des Häftlings sofort zwischen Moro und der Staatsanwaltschaft abgekartete Vergeltungsmaßnahmen gegen seine Justizgesuche oder seine Parteifreunde zur Folge haben.
Vergeltung zum Beispiel gegenüber Martin Schulz‘ Begleiter, den ehemaligen Bürgermeister São Paulos und Lula-Vize Fernando Haddad, gegen den die konservativen Medien vor wenigen Tagen ein zweifelhaftes, verstaubtes und vor sich hin schmorendes Verfahren wegen angeblicher „Mittelveruntreuung“ beim Bau des Fahrradweges durch São Paulo wieder ausgegraben haben, in dem der zuständige Richter selbst kommentiert, es sei davon auszugehen, dass Haddad davon nichts wusste. Doch seien diese Machenschaften beim Namen genannt: Sie werden von der Staatsanwaltschaft der Presse zugespielt, als Hinterhalt gegen Haddads Popularität als Lulas potenzieller Stellvertreter oder gar als zukünftiger Präsident Brasiliens.
Der erste Sozialdemokrat, der brasilianischen Boden nicht aus Geschäftsinteressen betritt
Perverse Spielchen wie dieses müssen auch dem ehemaligen EU-Parlamentsvorsitzenden und Kanzlerkandidaten Schulz aufgefallen, wenn nicht gar erklärt worden sein, der vor den Kameras von dem Zellenbesuch sichtlich beeindruckt schien, als er eingestand, in der Person Lula „eine sehr mutige, sehr kämpferische und optimistische Person aufgefunden” zu haben, mit der er seit etlichen Jahrzehnten zusammengearbeitet habe. Besonnen und diplomatisch sprach Martin Schulz zunächst durch die Blume, es liege zwar nicht in seinem Ermessen, über die juristischen Feinheiten der Prozessführung gegen Lula zu urteilen, doch wie so zahlreiche Juristen und Politiker vor ihm erklärte nun auch der deutsche Sozialdemokrat, eines sei klar: dass nämlich die Umstände des Falles berechtigte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Prozesses zulassen.
Gefeiert wurden in den der Arbeiterpartei (PT) nahestehenden Medien zwei willkommene Aussagen von Schulz. Zum einen seine Bekräftigung, Brasilien spiele eine sehr wichtige Rolle in der internationalen Politik, und in diesem Sinne sollte die Justiz die Anweisung des UN-Ausschusses für Menschenrechte zugunsten Lulas Kandidatur akzeptieren (siehe „Die Rückkehr der Linken ist ein Albtraum!”). Zum anderen seine Überzeugung, die PT, Lula und die brasilianische Linke stünden als Symbol für die internationale Zusammenarbeit in Fragen der Menschen- und Grundrechte; schließlich sein Votum dafür, dass „Brasilien wieder zu einem weltweiten Motor der Demokratisierung“ zu machen sei. Das seien die Gründe, weshalb er sich im Namen seiner Parteifreundinnen und -freunde mit der Arbeiterpartei und ihrem Kandidaten solidarisiere. „Keine Macht der Welt kann mich daran hindern, einem Mann, mit dem ich viele Jahre eng und vertrauensvoll zusammengearbeitet habe, zu vertrauen und ihm zu glauben!”, erklärte Schulz energisch.
Obwohl so manch deutsche(r) Leserin und Leser, Aktivistin und Aktivist Schulz dieses Glaubensbekenntnis nicht abnimmt, will ich dieser begründeten Skepsis aus brasilianischer Perspektive widersprechen. Nach nahezu 45 Jahren ist der gegen Angela Merkel unterlegene Kanzlerkandidat der erste Sozialdemokrat seit Willy Brandt und Helmut Schmidt, der nicht als Lobbyist deutscher Konzerne, sondern als Überbringer der Solidarität zu einem politischen Gefangenen nach Brasilien reist. Nein, kein salbungsvoller Spruch, ich weiß, wovon ich rede.
Goldene Uhren und Atomverträge mit Diktatoren
„Vage erinnerte ich mich, dass Willy Brandt als Außenminister der Großen Koalition Kurt G. Kiesingers bereits 1968 die Unterzeichnung eines Abkommens zur wissenschaftlich-technischen Kooperation in Brasilien mit dem Ziel vorbereitet hatte, Nukleartechnologie dorthin zu liefern. Auf der Grundlage des „Lei de Segurança Nacional“ (Gesetz der Nationalen Sicherheit) regierte Junta-General Artur da Costa e Silva das Land im Ausnahmezustand auf Dauer. Willy Brandt, ehemaliger Widerstandskämpfer gegen Hitler, schenkte ihm eine goldene Uhr”, notierte ich in einem vor vier Jahren veröffentlichten Essay (Der Atomdeal und die Ungehorsamen – TAZ, 06. März 2014).
Waren Brandt und 1975 seinem Parteifreund und Nachfolger, Helmut Schmidt, die Ausschaltung des ihnen so teuren demokratischen Rechtsstaats, die drakonische Medienzensur, die Unterdrückung der Gewerkschaften, die geheimen paramilitärischen Todeskommandos, die Folterzentren, die Folter-Opfer, das Schicksal hunderter politischer Häftlinge etwa nicht bekannt? Oder nichts wert? Bei der Verteidigung seines atomaren „Jahrhundertgeschäfts“ schaute zumindest das offizielle Deutschland bei den Verbrechen seines Geschäftspartners weg.
Es kam aber noch dicker. Die Unterzeichnung des deutsch-brasilianischen Atomvertrags vom Juni 1975 – der mittels deutscher Technologie den Bau von acht Atomkraftwerken, einer Anreicherungs- und einer Wiederaufbereitungsanlage in Brasilien vorsah – habe ich in Erinnerung als publizistischen „Vergeltungsschlag“: Die „Bombe“ wurde synchron gezündet mit dem aus Wyhl auf die gesamte Bundesrepublik überschwappenden Protest gegen die Atomenergie. Umso vehementer stellte sich die Regierung hinter die Atomindustrie für die Ausbreitung der gefürchteten Technologie in den damaligen, zumeist autoritären und diktatorischen „Schwellenländern“ Südafrika, Iran, Argentinien und Brasilien.
Nach mehr als vierzig Jahren sah ich die Schlagzeilen und Pressemeldungen lebendig vor Augen, die wochenlang das Auftragsvolumen von zwölf Milliarden DM als „Jahrhundert-Geschäft“ feierten. Es feierte die Atomindustrie, angeführt vom Kernkraftbauer Siemens-KWU – doch die Medien feierten mit. Auch der Staat, damals regiert vom sozialdemokratischen Kanzler Helmut Schmidt, der sich an der Seite des nun herrschenden Generals Ernesto Geisel fotografieren ließ – der gleiche General, von dem der CIA Beweise hatte, dass er die Erschießung von Regimegegnern befehligte (Em memorando, diretor da CIA diz que Geisel autorizou execução de opositores durante ditadura – G1, 10, Mai 2018). Und Helmut Schmidts BND will davon nichts gewusst haben?
Was mir – als wenige Jahre zuvor aus Brasilien eingereister und nach Demokratie lechzender junger Mensch – nicht in den Schädel passen wollte, war: Wie konnte nur die deutsche SPD ein solches Geschäft mit der Diktatur in Brasília unterzeichnen? Das „Jahrhundertgeschäft“ war zur „Staatssache“ erklärt worden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, etwa der damaligen Frankfurter Rundschau, wurde der geheiligte Pluralismus-Begriff außer Kraft gesetzt, die Gleichschaltung der Presse verordnet und Westdeutschland zur Republik der atomaren Einhelligkeit reduziert; die IG-Metall mit im strahlenden Boot.
Lulas erste Verhaftung, oder: Es geht auch anders
Allerdings hätte Martin Schulz ruhig einige IG-Metall-Vertreter in seine Delegation laden sollen. Denen hätte Lula eine Sehnsüchte erweckende Episode erzählt, an der ich zusammen mit dem wackeren Edmund Möller, damals Herausgeber der IG-Metall-Funktionärszeitschrift „Der Gewerkschafter“, als „Strippenzieher“ agierte.
Es war der 19. April 1980, es dämmerte noch in São Bernardo do Campo, am Industriegürtel São Paulos, als eine Stimme vor Lulas Haustür bellte: „Herr Luiz Inácio, hier spricht die Polizei!”. Lulas Freund, der Dominikaner-Mönch Frei Betto, der auf der Couch schlief, bat die Offiziere, sie mögen warten und weckte den gesuchten Mann. Es waren acht Offiziere, zwei von ihnen mit Maschinengewehren bewaffnet. An diesem Tag wurden der Gewerkschaftsführer Lula als Vorsitzender der Metallarbeitergewerkschaft São Bernardo do Campos und 14 seiner Kameraden zur politischen Polizei (Dops) gebracht und nach dem Nationalen Sicherheitsgesetz angeklagt.
Die Arbeiterpartei (PT) war gerade vor wenigen Monaten gegründet worden, zu tausenden strömten Regimegegner verschiedenster ideologischer Couleur zur neuen Sammlung. Der Grund für die Verhaftungen, so die Regierung, sei der flächendeckende Streik gewesen, der u.a. die Montagewerke von VW und Daimler-Benz lahmlegte. Die Armee erklärte, sie habe „nichts damit zu tun”, doch eine Verschlusssache der Militärs enthüllte, dass gewalttätige Festnahmen geplant waren. „Die Auswirkungen, die auf bestimmte Verhaftungen folgten … bewirkten mehr Publizität als sonst üblich, was zu negativen Reflexen führte”, hieß es in dem Dokument. Dops-Chef Romeu Tuma war über Lulas Verhaftung beunruhigt und prophezeite, sie werde ihn zum Helden machen.
Wie Recht behielt doch Tuma! „Als Lula verhaftet wurde, rangierte er laut Datafolha bei 30 Prozent in Wählerumfragen. Nun ist er auf Tuchfühlung mit 40 Prozent. Die Anwendung von Ausnahmebestimmungen gegen die Rechtsordnung hat nur dazu beigetragen, die PT zu stärken“, zieht Star-Journalist und nicht nur Lula-, sondern Sérgio-Moro-Gegner Reinaldo Azevedo 39 Jahre später wieder die gleiche Bilanz (Na pauta do TSE nesta 6a., a presença ou não de Lula no horário eleitoral. Há lei. O que ela diz? E o risco de se optar por ainda mais heterododoxia – Redetvuol, 30. August 2018).
Aber zurück und zur eigentlichen Pointe. Lula und Kameraden verblieben 1979 kaum 31 Tage in Haft, derart lautstark und massiv regte sich in- und ausländischer Protest gegen die Willkür der Verhaftung und die weiterhin andauernde Besetzung der Gewerkschaftszentrale von São Bernardo do Campo. Zu dieser Zeit weilte zufällig Bundeskanzler Helmut Schmidt in São Paulo und bat offenbar um ein Treffen mit Lula, von dem bis heutigen Datums nicht klar ist, ob Lula noch hinter Gittern saß. “… Schmidt besuchte auch den Gewerkschafter und späteren Präsidenten Lula da Silva im Gefängnis“, schrieb Grünen-Politiker Jürgen Trittin in einem Schmidt-Nachruf in DIE ZEIT und trug somit zur medialen Mythenbildung bei. Vielmehr soll Schmidt Lula in sein 5-Sterne-Hotel beordert haben, eine Begegnung, die Lula 30 Jahre später dem 91-jährigen Altkanzler erwiderte – diesmal als Präsident Brasiliens.
Währenddessen hatten Edmund Möller und ich eine Idee: eine Kampagne der Zeitschrift „Der Gewerkschafter“ für die Befreiung der Gewerkschafter mit einer Geldsammlung zur Betriebswiederaufnahme der Gewerkschaftszentrale. Eine Artikelreihe wurde vereinbart, jedoch auch „logistische Schritte“, mit denen ich beauftragt wurde. Also reiste ich, erstens, quer durch die damalige Bundesrepublik, berichtete in von der IG Metall einberufenen Betriebsversammlungen bei VW in Wolfsburg und Daimler-Benz in Stuttgart über die Lage im fernen Brasilien. Und bat vereinbarungsgemäß die Kollegen „zur Kasse“.
Zweitens lag jedoch vor mir die mulmig stimmende „Fernmission“: die Ablieferung und Quittierung der ca. 8.000 DM des eingesammelten Solidaritätsfonds. Mein Problem: Zwar hatte inzwischen Geisels Nachfolger, General João Barista Figueiredo, eine Generalamnestie – unter Einschluss der Folterer – erlassen, doch als jahrelang auf der schwarzen Liste der Sicherheitsapparate der Diktatur stehender „internationaler Nestbeschmutzer“ hegte ich berechtigte Zweifel an meiner Unversehrtheit bei der Landung in São Paulo.
Es ging gerade nochmal gut, ein halbes Jahr später saßen Lula und ich während einer Folgeverhandlung zu seiner Anklage nebeneinander. Ich glaubte, es gäbe keinen sichereren Ort als das Militärgericht und steckte ihm die 8.000 DM in seine Jackentasche. Am Tag darauf – es war unangenehm kühl – interviewte ich Luiz Inácio Lula da Silva in seiner Wohnung, angewärmt von mehreren Dosen Cachaça, einem Zuckerrohrschnaps, den ein Sohn des Gewerkschaftsführers eiligst in einer 5-Liter-Flasche beim Krämerladen an der Ecke zu besorgen hatte.
Die Kampagne des „Gewerkschafter“ wurde ein glatter Erfolg. Die Spender gingen nicht leer aus. Edmund Möller entschädigte sie mit eingekauften, politischen Originalgemälden eines in Berlin lebenden brasilianischen Kunstmalers. Ich hatte weniger Glück. Trotz eines politischen und eines fachlichen Gutachtens jeweils aus der Feder Möllers und Erhard Epplers – damaliger Minister für Internationale Entwicklungszusammenarbeit – wurde ich von der Doktoranden-Stipendienauswahl der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgeschlossen. Hinter vorgehaltener Hand durfte ich Monate später erfahren, dass die damaligen „Kanalarbeiter“ in der SPD, Möllers und meine „Lula-Frei“-Kampagne als „linke Unterwanderung“ abgestempelt und verflucht hatten.