Eine andere Sicht von der Digitalisierung und ein Musterbeispiel für Verlautbarungsjournalismus
Die NachDenkSeiten haben am 21. August einen Text veröffentlicht, dessen Autorin sich mit den möglichen Folgen der digitalen Revolution für Kinder und Jugendliche beschäftigt. Sie mahnt zur Vorsicht. Unsere Regierenden sehen das anders. Sie werden unterstützt von Medienvertretern, deren Verlautbarungen eine breite Schleimspur hinterlässt. Ich beziehe mich auf einen Beitrag der Süddeutschen Zeitung. Schon die Überschrift klingt wie eine Regierungsverlautbarung: „Die Kanzlerin betritt das Neuland“. Neuland? Die Digitalisierung ist doch kein Neuland. So betrachtet ist dieser Artikel nicht nur ein Hinweis auf eine ziemlich undifferenzierte Betrachtung der Digitalisierung durch die Bundesregierung, er ist auch ein Beleg für den Niedergang von Medien als kritischer Begleiter des politischen Geschehens. Albrecht Müller.
Zum Beleg dieser Feststellung folgen zunächst Auszüge aus dem Artikel der Süddeutschen Zeitung:
21. August 2018, 20:56 Digitalisierung
Die Kanzlerin betritt das Neuland
- Vor ihren Sommerferien ließ sich Kanzlerin Merkel an mehreren Sonntagen von einem Internetexperten die digitale Welt erklären.
- Deutschland droht bei der Digitalisierung im internationalen Vergleich den Anschluss zu verlieren.
- Merkels Schulstunden zeigen, wie ernst und eilig das Thema nun für sie ist.
- Ein Gremium, geleitet von der früheren Staatssekretärin im Verteidigungsministerium, Katrin Suder, soll das Kabinett beraten und “unbequem sein”.
Von Stefan Braun
Dass eine Kanzlerin viel reist, viele Leute trifft und dabei im besten Fall auch viele Informationen verarbeitet, gehört für Angela Merkel seit Langem zu ihrem Alltag. Dass sie darüber hinaus wie zuletzt die Schulbank drücken muss, hätte sie dagegen selbst kaum für möglich gehalten. Doch genau das ist vor den Sommerferien wochenlang geschehen. Immer wieder sonntags saß die Regierungschefin im Kanzleramt und ließ sich von einem Internetexperten die digitale Welt erklären. Tempo, Technik, Folgen für die Menschen, neue Mächte in der Welt – alles sollte der Mann ihr erläutern.
…
Wissenschaftler aber, die sich mit der Großbaustelle Digitalisierung auskennen, lächeln ganz und gar nicht. Sie sind froh, dass das Thema in der Regierungsspitze endlich die Aufmerksamkeit bekommt, die ihm schon lange gebührt hätte. Christoph Meinel, der Direktor des Potsdamer Hasso-Plattner-Instituts, bezeichnete die Attacken gegen Merkels Neuland-Aussage jüngst in der Süddeutschen Zeitung als “infantil” und betonte, die Digitalisierung sei mit dem Versuch gleichzusetzen, “einen neuen Kontinent zu entdecken”. Gleichzeitig warnte er, Deutschland sei drauf und dran, in dieser neuen Welt wirtschaftlich und technisch den Anschluss zu verlieren.
Anmerkung Albrecht Müller: Das ist die übliche Übertreibung, auf vielen Feldern der Politik von Lobbyisten gebraucht. Warum keine differenzierte Betrachtung?
(Fortsetzung SZ:)
Merkels Schulstunden zeigen deshalb vor allem, dass die Kanzlerin verstanden hat, wie sehr bei dem Thema die Zeit rast.
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Orwells “1984”? Für Merkel ein laues Lüftchen gegen das, was in China längst Realität ist
Als die Kanzlerin im Frühsommer China besuchte und dabei die chinesische Strategie beim Ausbau der Digitalisierung studierte, entfuhr ihr am Rande der Reise der Satz, George Orwells “1984”-Fantasien seien gegen die chinesische Realität ein laues Lüftchen gewesen. Das brachte im Kurzen zum Ausdruck, was die Kanzlerin im Großen umtreibt: dass Europa und Deutschland im Verhältnis zu China zu einem “schönen Museum” zu verkommen drohen, wie es einer aus Merkels Tross damals ausdrückte.
Und so haben sich Merkel und ihre jetzige Koalition entschieden, sich noch einmal ganz neu auf dieses Thema zu stürzen.
… Merkels Kanzleramtsminister Helge Braun betonte dazu vor wenigen Wochen, man sei dabei, den ganzen Bereich “von allen Richtungen einzukreisen”. Keine schlechte Beschreibung war das, weil sie deutlich machte, wie weit die Regierung davon entfernt ist, eine abschließende Strategie zu präsentieren.
Immerhin hat sie unmittelbar vor den Sommerferien ein Eckpunkte-Papier vorgestellt. Darin macht sie auf zwölf Seiten deutlich, dass sie Deutschland und Europa “auf ein weltweit führendes Niveau” bringen und halten möchte. …
Um dies zu erreichen, will sich nicht nur die Kanzlerin mit eigenen Schulstunden wappnen. Das gesamte Kabinett soll durch eine Beratung von außen gestärkt werden. Ein zehnköpfiges Gremium, das an diesem Mittwoch (gemeint ist der gestrige Mittwoch, A. M.) vom Kabinett als sogenannter Digitalrat der Bundesregierung offiziell berufen wird, soll die Kanzlerin und ihre Minister mit unterschiedlichsten Erfahrungen “beraten, antreiben und unterstützen”, wie Regierungssprecher Steffen Seibert am Dienstag erklärte. …
Geleitet wird das Gremium von der früheren Staatssekretärin im Verteidigungsministerium, Katrin Suder. Sie sagte bei ihrer Vorstellung, Ziel sei es, trotz der großen Änderungen, die eine umfassende Digitalisierung aller Lebensbereiche mit sich bringen werde, die westeuropäische und deutsche Gesellschaftsform zu erhalten. …
Anmerkung Albrecht Müller: Frau Suder hat noch nicht einmal wahrgenommen, dass es verschiedene „westeuropäische und deutsche Gesellschaftsformen“ gibt. Vor dem Siegeszug der neoliberalen Bewegung waren unsere Gesellschaft und die skandinavischen sowieso anders als heute. Weil die ehemalige Mitarbeiterin von Frau von der Leyen das nicht sieht, versteht sie vermutlich auch nicht, dass das Gerede von der Digitalisierung mit Beiträgen wie jenem von Frau Professor Teuchert-Noodt, den die Nachdenkseiten am 21. August wiedergegeben haben, konfrontiert werden müsste.
(Fortsetzung SZ):
Ob bewusst oder eher nicht legte die ehemals engste Mitstreiterin von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen mit dieser Zielsetzung offen, um wie viel es bei all dem gehen wird: um die Erhaltung einer Welt, wie sie die Bundesrepublik seit ihrer Gründung geprägt hat. (A.M.: siehe oben)
Seibert sagte, der Rat solle die Regierung “antreiben, unterstützen und, wenn nötig, auch mal unbequem sein”. Und das Bemerkenswerte an diesen Worten war, dass er das “unbequem sein” besonders betonte.
Anmerkung Albrecht Müller: Arme Süddeutsche Zeitung, wo ist ihr Renommee als kritisches Blatt geblieben?
(Fortsetzung SZ):
Ein eigenes Budget hat der Rat nicht; mindestens zweimal im Jahr soll er mit dem gesamten Kabinett zusammenkommen. Darüber hinaus aber, so sagte es Seibert, stehe es jedem Ressort und jedem Minister frei, das Gremium auch sonst in Anspruch zu nehmen. Was wie ein Angebot klingt, ist eher als Aufforderung an alle gemeint, auch persönlich so schnell wie möglich loszulegen.
Für Merkel schließt sich hier der Kreis, auch wenn nicht jeder wie sie eine Schulung durchlaufen wird. Gleichwohl will die Kanzlerin ihre Gesamtstrategie Anfang Dezember auf einer Kabinettsklausur beschließen lassen. Gut möglich also, dass der eine oder die andere noch auf ein bisschen Nachhilfe zurückgreift.
Copyright: Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle: SZ vom 22.08.2018/mane
Zusammenfassende Würdigung des Vorgangs:
- Es ist nichts dagegen einzuwenden, dass die Bundesregierung sich darum kümmert, was die weitere Digitalisierung für die Betriebe, für die Arbeitsplätze, für das Zusammenleben in unseren Familien und Gemeinden usw. bedeutet. Auch dass die Bundesregierung sich um einheitliche Lebensverhältnisse in der ganzen Republik und deshalb auch um flächendeckende Nutzung der guten Möglichkeiten, die mit der Digitalisierung verbunden sind, kümmert, ist einzusehen.
- Aber statt euphorischen Aufbruchgehabes wäre eine differenzierte Betrachtung angebracht. Dazu gehört die Einsicht, dass es Digitalisierung nicht erst jetzt, sondern schon seit längerem gibt. Dazu gehört weiter die Einsicht, dass der fortschreitende Prozess auch negative Folgen hat. Auf die Folgen der digitalen Revolution für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen weisen Hirnforscher schon seit längerem hin. Ob ihre Gesichtspunkte in dem neu installierten Beratungsgremium der Bundesregierung zur Sprache kommen, ist offen, eher sogar fraglich.
Mich erinnert die Euphorie der in Berlin Regierenden und vor allem der CDU- und CSU-Seite daran, was wir bei der Debatte um die Vermehrung und Kommerzialisierung der Fernseh- und Hörfunkprogramme 1978-1984 erlebt haben: Totale Begeisterung und dann zehn Jahre später der Katzenjammer, als sichtbar wurde, was dieser angebliche Fortschritt für unsere Gesellschaft bedeutet. - Es ist durchaus möglich, dass das Thema Digitalisierung als neu hochgespielt wird, um bei dieser Gelegenheit weitere sogenannte Reformen durchzusetzen oder auch nur die alten zu stabilisieren. Das Modell dafür wurde vor 15 Jahren erprobt, als Einstieg und Katalysator zur Durchsetzung der Agenda 2010. Ich zitiere Angela Merkel, damals noch nicht Bundeskanzlerin. Das Zitat stammt vom 1.10.2003:
„Wir leben in einer anderen Zeit als die Gründerväter unseres Landes … Ein Leben in unserer Zeit ist ein Leben in den zweiten Gründerjahren unserer Republik, und die zweiten Gründerjahre sind nicht die ersten.“
Und weiter:
„Leben im Zeichen der Globalisierung ist nicht Leben ohne Globalisierung.“
Die Äußerungen sind erkennbar komisch. Sie hatten aber aus der Sicht von Angela Merkel durchaus signalartige Bedeutung und Wirkung. Der Hinweis auf die Globalisierung als einem angeblich völlig neuen Phänomen (genauso falsch wie das Reden über die neue Digitalisierung) diente der Vorbereitung und der Absicherung der Agenda 2010.
P.S.: In meinem 2004 erschienenen Buch „Die Reformlüge“ ist der immer wieder angewandte Mythos „Alles ist neu“ als erster von 40 Denkfehlern, Mythen und Legenden beschrieben und analysiert. Der zweite analysierte Mythos lautete: „Die Globalisierung ist ein neues Phänomen“.