Ein Bauherr beginnt auch nicht mit dem Dach. Die digitale Revolution verbaut unseren Kindern die Zukunft.

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Handyverbot in Deutschlands Schulen? – So könnten wir im Anschluss an Tobias Riegels Beitrag zum Handyverbot in Frankreich und die darauf folgenden Leser-Stimmen fragen. Einige Leserinnen und Leser der NachDenkSeiten waren wie auch wir überrascht, dass es so glasklare Befürworter der Nutzung aller möglichen elektronischen Medien in den Schulen gibt, wie das in einer der veröffentlichten Lesermails sichtbar wurde. Denn die Gefahren sind beschrieben. Einige Wissenschaftler/innen haben sich in den letzten Jahren erhellend zur Wirkung des intensiven Gebrauchs elektronischer Medien auf die kindliche Entwicklung geäußert. Wir machen heute auf einen Text der Bielefelder Neurobiologin Gertraud Teuchert-Noodt aufmerksam. Sie meint, die digitale Revolution verbaue unseren Kindern die Zukunft. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Frau Teuchert-Noodts Beitrag erschien unter dem Titel “Ein Bauherr beginnt auch nicht mit dem Dach. Die digitale Revolution verbaut unseren Kindern die Zukunft“.

Damit Sie einen schnellen Einblick und Überblick bekommen können, folgen ein paar Auszüge:

Gertraud Teuchert-Noodt (unter Mitwirkung von Ingo Leipner), veröffentlicht in: umwelt – medizin – gesellschaft 29 472016, S. 36-38

Auszüge:

Wer also kleinen Kindern die Bewegung vorenthält – warum auch immer – der sorgt für Chaos auf der Baustelle des kindlichen Hirngerüsts, denn die gesamte Kindheit ist gezeichnet von kritischen Phasen, in denen die Reifung von senso-motorischen und assoziativen Funktionssystemen extrem stark von der Umwelt beeinflusst wird. Bildschirm-Medien, ganz gleich ob Smartphones, Tablets oder das gute alte Fernsehgerät, schränken automatisch das Bewegungsverhalten der Kinder ein, weil sie vielfach Kinder vom Spielen in Wäldern, Parks oder auf Sportplätzen abhalten. Das beeinträchtigt in diesem Lebensabschnitt die nötige Hirnreifung, die eine sehr aktive und dynamische Phase der Entwicklung darstellt. Wischen und tippen Kinder dagegen auf Tablets, schadet das auch der Reifung ihrer kognitiven Fähigkeiten. Die flüchtigen Händchen führen keine differenzierten, feinmotorischen Bewegungen aus. Das unterminiert die Vernetzung im Gehirn – und untergräbt langfristig die Entwicklung geistiger Fähigkeiten.

An dieser Stelle wenden Befürworter des frühkindlichen digitalen Lernens gerne ein, es gehe doch beides, reale und virtuelle Welterfahrung zugleich. Das ist zwar richtig, doch funktioniert dies erst ab einem jugendlichen Alter, wenn sich die reale Welt in die Nervennetze eingeschrieben hat. Betrachtet man einmal die Zeiten, die schon kleine Kinder vor dem Bildschirm verbringen, so fressen sie zunehmend mehr Lebenszeit, also Zeit, die für die natürliche und evolutionär vorbestimmte Tätigkeit des Spielens und Tollens fehlt – denn anders als bei Erwachsenen hat der Tag der Kinder eben wirklich nur 24 Stunden. So ergänzen die Bildschirmzeiten die reale Erfahrung in der Natur nicht – sie ersetzen sie in einem wachsenden Umfang. …

Auf unvorbereitete Kleinkinder aber feuern Bildermedien unaufhaltsam pathologisch veränderte Frequenzen ab, die das Stirnhirn in dem Alter massiv überfordern. In jungen Jahren können so bestimmte Botenstoffe in den Modulen des Stirnhirns zu schnell und unzulänglich reifen. Wissenschaftler bezeichnen dies als Notreife. Das alles geschieht in einem Alter, in dem das Stirnhirn aufgrund sehr langsam einreifender Transmitter wie Dopamin nicht im Ansatz in der Lage ist, kognitive Konflikte ausreichend zu kontrollieren.

Ohne Computer ins digitale Zeitalter! „Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins digitale Zeitalter“ (Lembke, Leipner 2015). Diese These von Lembke und Leipner wirkt überhaupt nicht paradox, wenn wir eine Brücke zur Neurobiologie schlagen. Wer den Einfluss digitaler Medien auf Kinder reduziert, fördert ihre Gehirnentwicklung, denn die späteren Jugendlichen und Erwachsenen brauchen hohe kognitive Fähigkeiten, um digitale Herausforderungen zu bewältigen. Auch die Entwicklungspsychologie zeigt, dass Kinder erst ab etwa 12 bis 14 Jahren langsam in der Lage sind, ihre vollen kognitiven Potenziale zu entfalten. Davor ist eine gesunde senso-motorische Entwicklung nötig, die durch den Ruf nach einer „frühen Medienkompetenz“ gefährdet ist. Wir brauchen dringend digitalfreie Oasen in Kindergärten und Grundschulen. Erst dann haben die weiterführenden Schulen eine Chance, bei Jugendlichen eine echte mediale Kompetenz aufzubauen – auch im Umgang mit digitalen Medien.

Spielräume für Kinder Die Neurobiologie gibt zwei wichtige Antworten darauf, welche Spielräume Kinder zwischen der Geburt und etwa dem 12. bis 14. Lebensjahr haben: Antwort 1: Wer Kinder durch Bildschirm-Medien fesselt, schränkt erheblich ihre Spielräume ein. Und das ist wörtlich zu verstehen: In der Kindesentwicklung zählen besonders senso-motorische Erfahrungen. Kinder sollten „mit Händen und Füßen“ die Welt erobern und sie mit allen Sinnen be-greifen! Denn eine Vielzahl motorischer Aktivitäten ist elementar mit der Gehirnentwicklung verknüpft. In jedem Lehrbuch der Neurobiologie ist zu lesen: Spätere intellektuelle Spielräume brauchen reale Spielräume in früher Kindheit. Sobald Kinder stundenlang vor Bildschirmen erstarren, schadet das der Reifung von Nervennetzen für kognitive Funktionen. Das ist irreparabel, denn „die Karawane zieht weiter“. Antwort 2: Bildschirm-Medien traktieren Kinder mit einem Trommelfeuer an Reizen. Dieses mediale Bombardement überfordert den Hippokampus und das von ihm gesteuerte Belohnungssystem. So kann sich das Stirnhirn nicht gut entwickeln, denn es steht über dieser Reizkette. Die Folge: Eine frühkindliche Notreifung von Stirnhirn und Hippokampus kann zu schweren Störungen im kognitiven Bereich führen, etwa zu Lernstörungen, autistoiden Entwicklungsstörungen und/oder Sucht.

Autorin: Prof. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt

Neurobiologin, ehem. Universität Bielefeld

Zweimal P.S.:

  1. Frau Professorin Teuchert-Noodt wird voraussichtlich zum 30. Pleisweiler Gespräch kommen.
  2. Die Debatte um die Wirkung elektronischer Medien auf Kinder, Jugendliche und Familien wurde vor genau 40 Jahren vom damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt in seinem Plädoyer für einen Fernsehfreien Tag schon einmal angestoßen. Die Initiative ging damals von der Planungsabteilung des Bundeskanzleramtes aus.

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