Der mediale Feldzug des Internationalen Währungsfonds gegen demokratische Wahlen in Lateinamerika – Teil 1: „Die Märkte haben Mitspracherecht”
Dass der Internationale Währungsfonds (IWF) Nothilfen für krisengeschüttelte Länder weltweit mit unannehmbaren sozialen und entwicklungspolitischen Auflagen – nämlich skrupellosen Lohnkürzungen, Beschneidung von Pensionen und öffentlichen Gesundheitsdiensten und Privatisierungen nationalstaatlicher Vermögenswerte – verknüpft, ist selbst in Europa spätestens seit dem Austeritäts-Diktat der sogenannten Troika gegenüber Griechenland bekannt. Die Grenze des Vorstellbaren überbietet jedoch die Unverfrorenheit des IWF, in das politische Geschehen lateinamerikanischer Kernstaaten mit medialem Kesseltreiben zur Beeinflussung der jüngsten und bis Jahresende 2018 noch bevorstehenden Präsidentschaftswahlen einzugreifen, was als einmalige und bodenlose Intrige der Administration Christine Lagardes gegen demokratische Spielregeln angezeigt werden muss. Von Frederico Füllgraf.
Chronik einer kontinentalen Diskreditierungs-Kampagne
Das Ränkespiel begann im Januar 2018 mit einem Artikel im Wirtschafts- und Finanzblatt Valor Econômico, der führenden brasilianischen Mediengruppe Organizações Globo, unter dem wortwörtlich übersetzten Titel „Der IWF sieht in den Wahlen Risiken für die Verbesserung der brasilianischen Wirtschaft“. Diese Behauptung hatte Alejandro Werner, Direktor für den Bereich Westliche Hemisphäre des in den USA beheimateten Fonds, in einem Bericht von Ende Januar über die volkswirtschaftlichen Aussichten der Länder Lateinamerikas und der Karibik für 2018 aufgestellt, in dem er die an Zynismus grenzende Bilanz von einer „Konjunkturbelebung in Brasilien“ unter der De-facto-Regierung Michel Temer zog, die vom „unsicheren Ausgang der Parlamentswahlen 2018 beeinträchtigt werden könnte” (FMI vê riscos para melhora da economia brasileira com eleição – Valor Econômico, 25. Januar 2018).
Wenige Wochen später zog die in New York und Miami angesiedelte Agentur Latin Finance – die sich als „weltweit führende Informationsquelle über Finanzmärkte und Volkswirtschaften Lateinamerikas und der Karibik“ anbietet – mit einer „Szenarienbeschreibung“ nach, in der die von den anstehenden Präsidentschaftswahlen angeblich ausgelösten „Unsicherheiten“ nun auf den gesamten Kontinent übertragen wurden. Als schwergewichtige Quelle der Panikmache verwies Autor Mick Bowen allerdings auf eine Tagung des mächtigsten finanzpolitischen Lobbyisten-Verbandes um die America Society im Council of the Americas (AS-COA), im Übrigen auch Herausgeber der einflussreichen und höchst umstrittenen Zeitschrift Americas Quarterly.
„Marktfreundliche Führer“
Bowens Artikel (Elections spread uncertainty across Latin America – LatinFinance, 07. März 2018) erschien knapp drei, respektive fünf Monate vor den Präsidentschaftswahlen in Kolumbien und Mexiko, als die Umfragen ungeahnte Wählerpräferenzen für die fortschrittlichen Kandidaten Gustavo Petro, in Kolumbien, und Andrés Manuel López Obrador (AMLO), in Mexiko, signalisierten. Progressive Kandidaten sollten jedoch Acht geben, warnte Luisa Palacios, Leiterin des Marktforschungsunternehmens Medley Global Advisor, auf der Podiumsdiskussion der AS-COA.
„In Lateinamerika finanzierst Du Dich mit den Märkten … Man kann mit einer sehr linken Plattform nicht völlig aus dem Gleis springen wollen, wenn man internationale Finanzierung und lokale Finanzierung braucht …”
„Jetzt muss jeder Kandidat eine Marktplattform haben”, predigte Palacios mit Verweis auf Zahlen, die zeigen sollten, wer das Sagen hat. Ausländische Anleihegläubiger halten nämlich rund 60 Prozent der in Peso ausgeschriebenen mexikanischen Anleihen, 50 Prozent der Anleihen Perus, rund 25 Prozent der Anleihen Kolumbiens und rund 20 Prozent der Staatsanleihen Brasiliens.
Da die Rohstoffpreise gegenwärtig weit unter den Höchstständen von 2011 liegen, seien die Regierungen Lateinamerikas wieder stark auf Dollar-Milliarden der internationalen Finanzmärkte angewiesen. Dieses Vertrauen „könnte der Wall Street in den Präsidentschaftswahlen in Lateinamerika eine unverhältnismäßig mächtige Stimme verleihen”, erklärte ungeniert die Medley-Managerin.
Die „Populismus“-Keule
Mitte April 2018 nahm der IWF bereits Mexiko ins Visier. Die Nachrichtenagentur Cadena Digital de Notícias schrieb: „Die politische Unsicherheit erzeugt Risiken für Mexiko, warnt der IWF“ (La incertidumbre politica genera riesgos para México, advierte el FMI – CDN, 17. April 2018). Unter einem vielsagenwollenden Bild von einer Hand, die einen Wahlzettel in eine Urne steckt, zitierte CDN die IWF-Ermahnung: „Die bevorstehenden Wahlen in Mexiko, in Brasilien und Kolumbien werden wirtschaftliche Auswirkungen haben”.
Der Artikel war eine kaschierte Anspielung auf AMLO, den sozialdemokratischen Präsidentschaftskandidaten der Partei MoReNa (Bewegung für die Nationale Regenerierung), der bereits drei Monate vor seiner erfolgreichen Wahl vom vergangenen 1. Juli mit ca. 40 Prozent der Wählerintentionen seine Hauptrivalen Ricardo Anaya, José Antonio Meade und Jaime Rodríguez Calderón hoffnungslos abgehängt hatte. Als die Schwarzmalerei kaum mehr als gleichgültiges Schulterzucken unter den Wählern erzeugte, injizierte der IWF nun knappe vier Wochen später einen Kampfbegriff in die Wahldebatte: den „Populismus“; selbstverständlich den progressiven Kandidaten zugeordnet.
„IWF sieht Wahlen als Unsicherheitsfaktor und Populismus als ‚Risiko‘ “, mahnte die Internet-Plattform La Otra Opinión (FMI ve elecciones como factor de incertidumbre y populismo como “riesgo” – 11. Mai 2018). Mit einem Verweis auf die Hochkonjunktur des Rechts-Populismus in Europa wagten es die IWF-Bürokraten, extravagante Assoziationen zu mutmaßlichen „Links-Populisten“ in Lateinamerika herzustellen. Namen wurden nicht genannt, doch gemeint waren selbstverständlich renommierte Verfechter des sozialen Wohlfahrts- und des Rechtsstaats wie López Obrador, Gustavo Petro und Luiz Inácio Lula da Silva; allesamt als potenzielle Gefährder der „Konjunkturbelebung“ dämonisiert.
La Otra Opinión, sollte man wissen, gehört dem Rechtsaußen und AMLO-Erzfeind Ricardo Alemán, ein in der mexikanischen Medienszene äußerst kontroverser Name. Mit „Populismus“ bediente sich Alemán am Mode-Schlagwort der liberalen Attacken gegen Verfechter sozialstaatlicher Politik. Verkürzt behaupten die Liberalen, die Populisten versprächen das Unerreichbare oder ein vorübergehendes Placebo – also ein sozialstaatliches „Arzneimittel”, das eigentlich gar keines ist – ohne die Kosten oder das Defizit zu berücksichtigen, die ihre Vorschläge erzeugten. „Populisten sagen, was Menschen hören wollen, auch wenn es sich um unheilbare Probleme handelt“, lautet der Diskurs. In einem Wort: „Populisten sind Demagogen und gefährden die freie Marktwirtschaft“.
Nach Meinung Oliver Marcharts, österreichischer politischer Philosoph und Soziologe, eine inhaltslose Polemik des „liberalen Antipopulismus”, der systematisch versucht, jede Form einer populären Politik zu delegitimieren. Und somit jegliche Form, die Interessen breiterer Bevölkerungsschichten gegen eine Politik zu mobilisieren, die an diesen Interessen vorbeigeht. Somit eine Form von Abwehrkampf gegen Alternativen – ohne auf die Inhalte dieser Alternativen einzugehen.
Die Medienkampagne mit dem „Populismus“-Gespenst hatte allerdings AS-COA und America´s Quarterly-Hausautor Brian Winter frühzeitig Ende 2017 befeuert. „Die große Frage für Lateinamerika im Jahr 2018 ist, ob die Wähler auch diese konstruktivere Sichtweise [„moderater Regierungen“ wie Mauricio Macris – sic!] verfolgen. Oder werden sie die populistische Wut und den nationalistischen Stolz wählen, der einen großen Teil der Welt zu erobern scheint? Es ist unmöglich, es zu diesem Zeitpunkt genau zu wissen, aber die Wetten sind gewaltig. Politiker und Investoren in Washington und anderswo würden gut daran tun, dem viel mehr Aufmerksamkeit zu schenken“, ereiferte sich Winter (Is Populism Making a Comeback in Latin America? Foreign Policy, 23. Oktober 2017).
Täuschungsmanöver und Fälschungen des IWF
Beseelt von diesem Geist der Schattenwelten und liiert mit der Mediengruppe O Globo als Marktschreier nahm sich der IWF im vergangenen Juni nun Brasilien vor. Mit dem unseriösen Titel „IWF: Wahlen in Brasilien können dem Wirtschaftswachstum schaden” (FMI: Eleições no Brasil podem prejudicar o crescimento da economia – Valor Econômico 23.Juli 2018) wurden wirtschaftsstatistische Unwahrheiten und Vorbehalte gegen Wahlrecht und Demokratie verbreitet.
Desmond Lachman, ehemaliger IWF-Abteilungsleiter für Entwicklungspolitik, fuhr schwere rhetorische Geschütze auf. „Man muss hoffen, dass die brasilianischen Präsidentschaftskandidaten für die Wahlen im kommenden Oktober die deutlichen Signale ernst nehmen, die von den Märkten und jetzt vom Internationalen Währungsfonds über die beunruhigenden wirtschaftlichen Aussichten Brasiliens ausgesendet werden. Wenn nicht, sollten wir uns auf eine große Wirtschaftskrise in der achtgrößten Volkswirtschaft der Welt gefasst machen, die die Weltwirtschaft in Aufruhr versetzen könnte“, mahnte der Spezialist für globale Makroökonomie auf der Internetseite des Think Tanks American Enterprise Institute (Markets, IMF send Brazil clear message: Reform your economy – American Enterprise, 23. Juli 2018). Vom „Mangel an politischem Willen“ abgesehen, hatte der ehemalige IWF-Funktionär in diesem Text auch im Handumdrehen die potenziellen Verantwortlichen für „weitere beunruhigende Anzeichen“ ausgemacht: nämlich „das starke Auftreten populistischer Kandidaten in den Umfragen“.
Doch was meinen „die Märkte“ und der IWF mit „Sanierung“ der öffentlichen Finanzen? Sie meinen in Brasilien die Durchsetzung, notfalls das skrupellose Durchpeitschen zweier für das spekulative, unproduktive Kapital relevanter „Reformen“. Nach monatelangen Konfrontationen zwischen der De-facto-Regierung Michel Temer und der linksdemokratischen Opposition gelang dem Präsidenten 2017 mithilfe des überwiegend stockkonservativen Parlaments die Verabschiedung einer sogenannten „Arbeitsgesetz-Reform“, die mit flächendeckender Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse Brasilien mittlerweile 13 Prozent – in harten Zahlen: 13,4 Millionen – Arbeitslose beschert (Desempregados no Brasil somam 13,4 milhões, nota IBGE – Valor Econômico, 29. Mai 2018). Weltbank und IWF forderten jedoch auch eine „Rentenreform”, über die seit über einem Jahr im Parlament ebenso zäh verhandelt wird. Temer antwortete mit einem Gesetz, das die Sozialausgaben für die kommenden 20 Jahre einfriert.
Dennoch, trotz der erwiesenen, korrupten Handlung Temers, sogenannte „Haushalts-Novellierungsanträge“ – genannt „Emendas Parlamentares“ – in Höhe von umgerechnet 6,7 Milliarden Euro an regierungstreue Parlamentarier im Austausch für ihr Votum gegen die Beibehaltung des öffentlichen Rentensystems zu bewilligen, gelang dem De-facto-Regime bisher nicht dessen Verabschiedung; vor allem nicht wegen dem Aufbegehren der Wählerbasis der bestochenen Parlamentarier, die sich u.a. aus Kleinunternehmern und kleinen bis mittelgroßen Bauern und Beamten zusammensetzt, die ihre ohnehin spärlichen Renten und Pensionen gefährdet sehen. Die durch den parlamentarischen Putsch vom April 2016 an die Macht gelangte Temer-Administration hat keinen einzigen Grund zum Feiern. Sie wird von 82 Prozent der Befragten abgelehnt und verzeichnet, zwischen 1 und 10, eine Qualitätsnote von 1,9.
Gegen den Strom der allgemeinen Erkenntnis wagte der IWF im April dennoch die Prognose, das brasilianische Bruttosozialprodukt werde 2018 mindestens um 2,3 Prozent und 2019 um weitere 2,5 Prozent zunehmen. Doch schon drei Monate danach zog der Fonds seine Zukunftsdeutung zurück und drückte die Erwartungen auf maximal 1,8 Prozent herunter. Dass es dabei bleiben wird, scheint jedoch jetzt schon zweifelhaft.
Die Demontage der Sozialpolitik der vorangegangenen Regierungen der Arbeiterpartei zeigt ihr Gesicht. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) hat Mitte August eine Umfrage zum Thema “Armut im Kindes- und Jugendalter” gestartet und auf Alarmstufe geschaltet: 61 Prozent der brasilianischen Kinder und Jugendlichen sind von Armut in vielfältiger Ausprägung betroffen (6 em cada 10 crianças e adolescentes brasileiros vivem na pobreza – Unicef Brasil, 14. August 2018).
Kein Wunder, dass zum ersten Mal nach 26 Jahren auch die Kindersterblichkeit im Lande zunimmt. Allein wegen banalen Durchfallerkrankungen erlebte zwischen 2015 und 2016 die Sterblichkeit von Kindern unter fünf Jahren einen landesdurchschnittlichen Anstieg von 12 Prozent; im brasilianischen Nordosten jedoch alarmierende 48 Prozent. Die explosionsartige Kindersterblichkeit „könnte in Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise stehen“. Der Abbau der Beschäftigung und die Einkommensverringerung könnten zur Zunahme von Krankheitsfällen beigetragen haben, war in brasilianischen Medien zu lesen (Depois de 26 anos, taxa de mortalidade infantil volta a aumentar no Brasil – IG, 26. Juli 2018).
Nach Einschätzung der Kinderschutz-Stiftung Abrinq könnten Temers Haushaltskürzungen sowie die finanzielle Dosierung, wenn nicht gar Kürzung, von Sozialprogrammen wie dem Familien-Bonus und dem Storch-Netzwerk – die Mütter in der Schwangerschaft und im Wochenbett unterstützen – ebenfalls zur Verschlechterung der Säuglingsindikatoren beigetragen haben. Die Zugangsbehinderung zu Gesundheitsdiensten habe folglich die Verschlechterung anderer Indikatoren wie der Impf-Rate bewirkt. Der IWF verschweigt schlichtweg die Massen-Verelendung, die umgekehrt vom UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte (UNHCHR) in einem Kommuniqué von Anfang August schwer gerügt wurde.
Das UNHCHR forderte Brasilien dazu auf, sein Wirtschaftsprogramm zu überdenken. „Kürzungen von Haushaltsausgaben, insbesondere von Sozialprogrammen, bewirken eine Verschärfung der Ungleichheiten und eine Benachteiligung der Ärmsten … In Armut lebende Menschen und andere marginalisierte Gruppen leiden unverhältnismäßig stark unter strengen wirtschaftlichen Regulierungen in einem Land, das bereits als Beispiel für fortschrittliche Maßnahmen zur Armutsbekämpfung und zur Förderung der sozialen Eingliederung galt”, mahnt der Bericht (Corte de gastos no Brasil está agravando desigualdades, dizem especialistas da ONU – BBC Brasil, 03. August 2018).
Es sei unannehmbar, dass wirtschaftliche Entscheidungen der Regierung in den letzten Jahren „das Recht auf Wohnen, Essen, Wasser, sanitäre Einrichtungen, Bildung, Vorsorge und Gesundheit behindern und bestehende Ungleichheiten verschärfen”. „Die Erreichung von makroökonomischen und Wachstumszielen kann nicht auf Kosten der Menschenrechte geschehen: Die Wirtschaft ist der Diener der Gesellschaft, nicht ihre Herrin”, warnten die Vereinten Nationen.