Brücke in Genua: Privatisierung tötet – doch die Medien warnen vor „Schuldzuweisung“
Das Unglück von Genua hätte eine Steilvorlage für kritischen Journalismus sein können. Stattdessen nehmen die großen europäischen Medien die private Betreiberfirma der Brücke in Schutz – denn auf das Prinzip der Privatisierung soll kein schlechtes Licht fallen. Von Tobias Riegel.
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Es gibt kein einziges Beispiel für eine positiv verlaufene Privatisierung öffentlicher Güter, seien dies Infrastruktur-Projekte wie Brücken, Autobahnen oder Bahntrassen oder seien dies Dienstleistungen in der Verwaltung oder in der Krankenversorgung. Im Gegenteil: Der allgemeine Begriff Privatisierung kann schnell und erbarmungslos auf den Alltag durchschlagen – der Zusammenbruch der privat betriebenen Brücke in Genua symbolisiert das auf schockierende Weise. Hier wird den Menschen die tödliche Folge eines Rückzugs des Staates schonungslos vor Augen geführt. Weil der Brücken-Einsturz neben dem individuellen Leid das prinzipielle Problem der Privatisierung beleuchtet, wettern viele Medien nun gegen eine „Schuldzuweisung“ in Richtung der privaten Betreibergesellschaft.
Naturgemäß fordern die großen europäischen Medien nun keine öffentliche Zurückeroberung von privatisierten Bereichen – die Berichterstattung hat das gegenteilige Ziel: Aus der Katastrophe sollen keine „falschen“ Schlussfolgerungen gezogen werden, also solche, die sich gegen Privatisierungen richten. Und so läuft eine Medien-Kampagne gegen „populistische“ Kritik an den Brücken-Betreibern und gegen ein „altes Spiel der Schuldzuweisungen“, wie etwa die belgische Zeitung „De Tijd“ kommentiert:
„Die Katastrophe von Genua gibt ihr (der italienischen Regierung) nun Gelegenheit, sich zu beweisen. Aber die Art und Weise, auf die sie die Schuld so weit wie möglich von sich weist und schnell Sündenböcke präsentiert, die in ihr ideologisches Schema passen, verheißt nichts Gutes. Das Land braucht eine neue Dynamik und nicht das alte Spiel der Schuldzuweisungen, um vor allem selbst nichts tun zu müssen.“
Dieser Tenor zieht sich durch zahlreiche europäische Medien, stellvertretend schreibt etwa die „Tagesschau“: „Die Schuldzuweisungen haben längst begonnen“ und: „Der Grund für den Brückeneinsturz in Genua ist noch unklar, doch die Regierung hat die Schuldigen bereits ausgemacht: den Autobahnbetreiber.“
„Populisten“ betreiben „Vorverurteilung“
Die „Hessische Allgemeine“ findet: “Es ist der Tag der Reflexe- und damit der viel zu schnellen, vorverurteilenden Festlegungen von Schuldigen.“ Und auch die Nachrichtenagentur dpa ist empört: „Mitglieder der neuen populistischen Regierung machten am Mittwoch den privaten Betreiber der Autobahn für das Unglück verantwortlich.“ Man fragt sich jedoch, wer sonst verantwortlich sein sollte. Die Verantwortung – auch die einer befriedigenden Aufklärung – liegt beim Betreiber. Vor einem Gerichtsurteil kann nicht von Schuld gesprochen werden. Doch dass die Betreiber der Brücke ein sehr begründeter Anfangsverdacht trifft, ist offensichtlich.
Im konkreten Fall handelt es sich denn auch weniger um „prompte Schuldzuweisungen“, wie es auch vom ZDF formuliert wird. Eher geht es um die Feststellung der Verantwortung einer die Brücke verwaltenden Betreiberfirma – einer Verantwortung, die kaum ernsthaft bestritten werden kann. Lehnt man diese Verantwortung dennoch ab, so führt man „höhere Gewalt“ ins Feld – eine Argumentation, die Staatsanwalt Francesco Cozzi bereits analysiert hat: “Aber von höherer Gewalt zu sprechen bei einem von Menschenhand geschaffenen Bauwerk, bei dem offenbar Instandhaltungsarbeiten im Gange waren und andere schon abgeschlossen waren – das scheint mir nicht angemessen.“
Die Berichterstattung und die Parteinahme für die private Baufirma ist auch wegen des heuchlerischen Anteils aufreizend. Es bracht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, wie über ein Unglück eines staatlichen russischen oder auch portugiesischen Bahnbetreibers berichtet würde: Es würde festgestellt, dass „der Staat eben doch nicht der bessere Unternehmer“ ist. Eventuelle Verweise auf durchgeführte Kontrollen würden als Schutzbehauptungen albklassifiziert. Es würden Listen mit durch staatliches Versagen verursachten Unglücken erstellt. In all diesen Punkten verhalten sich die großen europäischen Medien im Fall Genua gegenteilig.
Desaströse Privatisierungen? Kein Thema für die Medien
Dabei hätte das Unglück eine Steilvorlage für investigativen Journalismus sein können. Die Medien könnten auffächern, wie desaströs sämtliche Privatisierungs-Projekte gescheitert sind – sei es beim britischen Eisenbahn-System, beim Berliner Wasser oder in zahllosen weiteren europäischen Infrastruktur-Bereichen. Am Beispiel der deutschen Autobahnen hat Werner Rügemer gerade auf den NachDenkSeiten ein solches „lukratives Desaster“ beschrieben.
Zwei weitere Aspekte werden in der Berichterstattung über Genua verzerrt: Zum einen die „Regulierungswut“ in Deutschland, zum anderen der Anteil der EU an kaputt gesparter Infrastruktur. Laut Äußerungen des italienischen Innenministers Matteo Salvini untergraben die europäischen Vorgaben zum Haushaltsdefizit die Sicherheit des Landes. Geld, das für die Sicherheit ausgegeben werde, dürfe „nicht nach den strengen (…) Regeln berechnet werden, die Europa uns auferlegt“, sagte der Politiker am Mittwoch dem Sender Radio24. „Immer muss man um Erlaubnis fragen, um Geld auszugeben“, prangerte er an. Davon dürfe aber nicht die Sicherheit auf den Straßen, bei der Arbeit und in den Schulen abhängen.
„Regulierungswut“ und „German Angst“
Die „Badische Zeitung“ bezeichnet stellvertretend für viele Medien diese „Ausfälle des italienischen Innenministers gegen die EU” als „pietätlos und inhaltlich unhaltbar”. Die Zeitung fährt fort: „Aber das ist das Spiel von Populisten, Schuld und Verantwortung bei anderen abzuladen.“ Worin die Schuld der gerade erst angetretenen „Populisten“ am Einsturz der Brücke bestehen soll, bleibt das Geheimnis der Journalisten. Zu bestreiten, dass der brutale Sparkurs der EU zur Vernachlässigung der Infrastruktur in den südlichen Ländern Europas führt, ist grotesk.
Die „Mittelbayerische Zeitung“ bringt zu guter Letzt ein kleines Kunststück fertig: Sie macht die deutsche „Regulierungswut“ und die „German Angst“ lächerlich, bezeichnet dann aber beides als Voraussetzungen für einen sicheren Alltag: „In der Heimat der weltberühmten ‚German Angst‘ ist sie unausweichlich: Kaum stürzt in Italien eine Brücke ein, verfällt Deutschland in panische Sorge. Wie sicher sind unsere Brücken? Kann man noch ohne Angst um sein Leben Täler und Flüsse überqueren? Die gute Nachricht: Ja, man kann. Die so oft kritisierte Regelungswut der Behörden sorgt für regelmäßige Überprüfung und rechtzeitige Sperrung von gefährlichen Bauwerken.“