„Bei diesem System bleiben die Kinder aus armen Familien auf der Strecke“
Wer aus armen Verhältnissen kommt und studieren möchte, hat in Deutschland einen schweren Stand. Das verdeutlicht Katja Urbatsch, Gründerin des Portals Arbeiterkind.de, im Interview mit den NachDenkSeiten. „Das gesamte System der Studienfinanzierung“, so Urbatsch, „geht davon aus, dass eine Familie da ist, die unterstützt.“ Die Realität aber zeige: Kinder aus armen Familien, die mit einem Studium anfangen, seien oft völlig auf sich allein gestellt. Urbatsch kritisiert, dass sowohl in der Gesellschaft als auch in der Politik zu oft die Einsicht fehle, mit welchen Hürden Studienanfänger aus armen Familien zu kämpfen haben. Von Marcus Klöckner.
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Frau Urbatsch, was bedeutet es, wenn ein Kind aus einer armen Familie studieren will?
Wer aus armen Verhältnissen kommt und ein Studium aufgreift, wird mit einer ganzen Reihe von Problemen konfrontiert. Es geht damit los, dass die Eltern nicht über die finanziellen Mittel verfügen, die man aufbringen muss, wenn ein Kind studiert. Oft können sie ihre Kinder auch nicht ideell unterstützen. Es fehlt an Wissen im Hinblick auf die Universität, die Studiengänge, die Finanzierung.
Die Kinder aus armen Familien haben also gleich mit Startschwierigkeiten zu kämpfen?
Auf jeden Fall.
Wie sehen die Probleme der Kinder aus armen Familien, die studieren wollen, konkret aus?
Für die armen Familien bedeutet das Studium, dass sie oft noch weniger Geld zur Verfügung haben. Fängt ein Kind an zu studieren, fällt es automatisch aus der Bedarfsgemeinschaft raus. Für das Kind gibt es keine Sozialleistungen mehr. Das heißt: Die armen Familien, die verständlicherweise auf jeden Cent angewiesen sind, wissen, dass ein Studium ihnen erst einmal finanzielle Nachteile bringt. Wir stellen also fest, dass der Weg zur Uni für diese Kinder bereits an dieser Stelle nicht einfach ist. Sie agieren aus einem Umfeld, das ihnen den Weg zum Studium regelrecht versperrt.
Wie sieht es aus, wenn sie sich dann aber doch für ein Studium entscheiden?
Dann gehen die Probleme weiter. Meine Tätigkeit für Arbeiterkind.de zeigt mir immer wieder, dass vielen in der Gesellschaft nicht bewusst ist, welche Hürden Kinder aus armen Familien bei einem Studium zu nehmen haben. In diesen Familien fehlt es an allem. Und das ist ein großes Problem, wenn bereits zu Beginn eines Studiums Geld in die Hand genommen werden muss.
Konkret: Wer studieren will, muss sich zunächst um einen Studienplatz bemühen. Das heißt oft: Ich muss in eine Stadt fahren, die möglicherweise mehrere hundert Kilometer entfernt ist und mich dort an der Uni einschreiben. Da entstehen Kosten. Dann muss ich mich um eine Wohnung kümmern. Wenn es schlecht läuft, muss ich vielleicht diese Strecke mehrere Male zurücklegen oder muss dort in der Stadt einige Tage übernachten. Auch das kostet Geld. Wenn ich eine Wohnung gefunden habe, werden eine Kaution und die erste Miete fällig. Schließlich muss ich den Umzug bezahlen. Gegebenenfalls stehen weitere Kosten wie etwa für einen Computer, Lehrmittel usw. an. Schließlich wird dann auch noch der Semesterbeitrag fällig, für den mittlerweile an vielen Unis auch bereits mehrere hundert Euro hingelegt werden müssen – innerhalb weniger Wochen zwischen Studienplatzzusage und Einschreibefrist.
Und, was man auch nicht unterschätzen darf: Das fehlende Geld führt dazu, dass die Kinder aus armen Familien bei diesem Gang ganz auf sich alleine gestellt sind. In Familien, wo Geld vorhanden ist, fährt oft der Vater und die Mutter gemeinsam mit dem Kind in die neue Stadt, hilft konkret vor Ort bei der Wohnungssuche, achtet auf Dinge, die bei der Wohnungswahl wichtig sind, an die ein 18-Jähriger vielleicht nicht denkt.
Sie sehen, da kommt einiges zusammen.
Wie sieht es denn mit dem BAföG aus?
Das ist ja das Problem: Das BAföG greift zu spät.
Wie meinen Sie das?
Zunächst muss ein Antrag auf BAföG gestellt werden. Dann wird dieser bearbeitet und Zeit vergeht. Es ist nicht so, dass direkt zum Studienbeginn die erste BAföG-Zahlung auf dem Konto ist. In der Regel muss derjenige, der ein Studium aufgreift, in Vorleistung treten. Und damit sind wir wieder bei dem, was ich gesagt habe: Eine arme Familie hat nicht die Möglichkeit, in Vorleistung zu treten. Hinzu kommt: Ich nehme ein Studium auf und weiß erst mal gar nicht, wie viel BAföG ich überhaupt bekomme. Das heißt: Ich habe null Planungssicherheit.
Geht das BAföG-System also an der sozialen Realität vorbei?
Absolut. Das gesamte System der Studienfinanzierung geht davon aus, dass eine Familie da ist, die unterstützt. Bei diesem System bleiben die Kinder aus armen Familien auf der Strecke. Schlimm ist, dass auch immer wieder in der Gesellschaft ein Unverständnis zu beobachten ist, wenn es um die Studienfinanzierung geht. Wenn wir von Arbeiterkind.de auf Facebook und anderen Plattformen auf die Probleme aufmerksam machen, dann dauert es nicht lange, bis Nutzer meinen, die Probleme seien ganz schnell gelöst. Dann heißt es beispielsweise, die Kinder könnten doch arbeiten und sich so bereits vor dem Studium ein finanzielles Polster ansparen. Nur: Lebt das Kind in einer Familie, die Sozialleistungen bezieht, dann darf es 100 Euro monatlich dazuverdienen. Sie dürfen auch in den Schulferien arbeiten, maximal für 4 Wochen. Da kommt nicht viel Geld zusammen. Und wenn es überhaupt gelingt, ein paar hundert Euro anzusparen, dann ist es oft so, dass die Armutssituationen in diesen Familien dazu führen, dass auf das Ersparte zugegriffen werden muss.
Kann es sein, dass wir hier von einer großen Unwissenheit sprechen müssen?
Eindeutig: ja!
Von welchen Summen reden wir denn, wenn es um die Aufnahme eines Studiums geht?
Das hängt sicherlich von der jeweiligen Situation ab. Das können einige hundert Euro, aber auch schnell über tausend Euro sein.
Sie haben gesagt, dass es einfach am Verständnis mangelt, mit welchen Problemen die Kinder aus armen Familien, die studieren wollen, zu kämpfen haben. Wird hier ein politisches Versagen sichtbar? Mit etwas Empathie und Verstand sollten doch auch Politiker in der Lage sein, sich vorzustellen, was es heißt, wenn keinerlei Geld in einer Familie vorhanden ist.
Politiker sind auch ein Spiegel der Gesellschaft, es gibt einige, die sich mit diesen Verhältnissen sehr gut auskennen und andere weniger. Allerdings sind die meisten Politiker gut verdienende Akademiker, deren Kinder selbstverständlich keinen BAföG-Anspruch haben. Das ist auch richtig so, aber führt eben auch dazu, dass viele gar nicht wissen, wie das mit dem BAföG eigentlich genau funktioniert und wo die Probleme liegen. Dies gilt aber nicht nur für Politiker, sondern für einen Großteil akademischer Familien, beispielsweise auch für Professorinnen und Professoren an Hochschulen und Universitäten. Wir hören sehr oft in Gesprächen, dass es doch bestimmt bereits Möglichkeiten gebe, um diesen Kindern zu helfen. Sie verweisen dann auf das Studierendenwerk oder meinen, die angehenden Studenten könnten sich einen kleinen Kredit bei einer Bank nehmen. Aber wer Hartz IV bezieht, bekommt keinen Kredit bei einer Bank.
Basiert dieses Verhalten wirklich nur auf Unwissenheit?
Ich denke, das ist kein böser Vorsatz. Die kennen sich einfach nicht aus. Es fehlt ihnen an Einblicken in die armen Milieus. Ich habe festgestellt, dass man bei solchen Diskussionen am besten sofort konkrete Fälle auf den Tisch legt und daran anschaulich zeigt, woran es hakt. Einerseits freuen wir uns sehr, dass Politiker und Beratungsstellen Hilfesuchende an uns weiterleiten, wenn es um die Studienfinanzierung geht, aber andererseits sind es viele Fälle, wo wir unter den aktuellen Gegebenheiten auch keine Möglichkeiten mehr sehen.
Was Sie beschreiben erinnert, an eine Erzählung des „Armen-Arztes“ Gerhard Trabert. In einem NachDenkSeiten-Interview hat er davon erzählt, dass Jobcenter, obwohl sie helfen müssten, zu den „Kunden“ sagen: Gehen Sie zu Herrn Trabert. Der hilft Ihnen.
Wir benötigen auf jeden Fall eine politische Lösung für die überaus realen Probleme.
Wie kann diese Lösung denn aussehen? Wäre eine Art finanzielles Starterpaket sinnvoll?
Das wäre eine Möglichkeit. Auf jeden Fall müssen sich Politiker, Studierendenwerke und Hochschulen zusammensetzen und anhand von Fallbeispielen lernen zu verstehen, wie Hürden abgebaut werden können. Man könnte zum Beispiel dazu übergehen, armen Studierenden den ersten Semesterbeitrag zu erlassen oder dafür sorgen, dass sie ihn in Raten bezahlen können. Oder man könnte ein Stipendium für das erste Jahr vergeben. Des Weiteren sollten generell die Verwaltungshürden niedriger gesetzt werden.
Derzeit müssen sich 17-, 18-Jährige, deren Familien ihnen nicht beratend zur Seite stehen können, durch das deutsche Verwaltungssystem kämpfen und rausfinden, ob und welche finanziellen Mittel es für sie gibt. Wenn man sich an der Uni einschreibt, müsste es direkt daneben einen BAföG-Stand geben.