Argentinien-Brasilien 2018 – Spekulanten-Paradiese mit sozialem Trümmerhaufen
„Die Geduld ist bald zu Ende! Wenn es keine klare Antwort der Regierung gibt, werden wir unsere Forderungen erhärten, weil der Preis, den sie uns abverlangen, zu hoch ist”, warnte Daniel Menéndez – Sprecher der einflussreichen sozialen Bewegung “Barrios de Pie” (so viel wie “Wohnbezirke mit aufrechtem Gang”) – während des jüngsten Generalstreiks, der am vergangenen 25. Juni Argentinien landesweit lahmlegte, und forderte die Ausrufung des wirtschaftlichen Notstandes. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.
“Barrios de Pie” ist bekannt für den Betrieb von Volksküchen und Gemeinschafts-Bäckereien für die Armen-Speisung, ferner für die Anlage von gemeinschaftlichen Gärten für den Gemüseanbau und die Schaffung alternativer Arbeitsplätze. Im Bildungsbereich führt die Bewegung unter anderem Seminare zum Abbau der Gewalt in der Familie durch, bietet Alphabetisierungskurse, Lernunterstützung für Schüler sowie Gesundheitskampagnen an.
Zorn und Verachtung auch im Lager der Gewerkschaften. Juan Carlos Schmid – Vorsitzender der Argentinischen Konföderation der Transportarbeiter (CATT) und Generalsekretär des Allgemeinen Argentinischen Gewerkschaftsbundes (CGT) – erzählte von gescheiterten Verhandlungen, bei denen die Arbeitervertretungen die Regierung Macri wegen inakzeptabler Entlassungsbedingungen zur Rede stellten. Worauf Finanzminister Nicolás Dujovne mit selten gehörter Häme geantwortet hatte, die Regierung könne „nicht in das Spiel des Marktes eingreifen”, weil dies die Schaffung von Arbeitsplätzen beeinträchtigen würde (La CGT se decidió y convocó a un paro nacional – Pagina12, 13. Juni 2018).
„Sie sagen, der Markt habe kein Vertrauen und drücke alles platt, was ihm im Weg steht. Es ist nicht zu glauben! Wegen diesem Teufel ist die Hälfte des Landes wieder unter der Armutsgrenze. Wegen diesem Müll namens ´Markt´, der niemandem traut, grassiert Hunger und neu erhöhte Kindersterblichkeit, Entlassungen stehen auf der Tagesordnung, die Löhne haben ihren Wert verloren. Und wer ist der Markt?“, hinterfragte der einflussreiche argentinische Journalist Luis Bruschtein, Mitherausgeber von Pagina12, der zurzeit einzigen unabhängigen Tageszeitung in Buenos Aires.
„Die großen Konzerne sorgten dafür, dass ihre Vertreter in Staatssekretariaten, Ministerien, Vorständen, Aufsichtsbehörden und sogar in den Gerichten untergebracht wurden. Der Präsident selbst vertritt eines der mächtigsten Unternehmen“, beklagte Bruschtein in einer bitteren politischen Abrechnung mit der Regierung Mauricio Macri, die seit ihrem Machtantritt Elend verbreitet.
„In den ärmeren Vierteln … vor allem in den Hauptstadt-Vororten herrscht eine echte Ernährungsnotlage. Diese Regierung der Reichen hat kein Mitgefühl, sie ignoriert die Armen. Und sie hat einen undenkbaren Zusammenstoß im Karussell fertiggebracht. Die ´populistischen´ Esel – die (Anm.: Peronisten), die angeblich ‚alles geklaut haben‘ sollen – hatten einst das Land aus einer noch schlimmeren Lage heraus gerettet und es wieder funktionstüchtig gemacht. Im Gegenzug haben die Reichen, die ja alles besser wissen, das Land nun wieder in die Katastrophe gestürzt, in die sie es in den 1990-ern bis zum Aufstand von 2001-2002 heruntergewirtschaftet hatten” (Línea de pobreza, Pagina12, 30. Juni 2018).
Der soziale Preis des IWF-Eingriffs
Es war der dritte Generalstreik seit dem Amtsantritt Mauricio Macris im Dezember 2015. Diesmal als Warnstreik gegen den Notruf der Regierung beim Internationalen Währungsfonds (IWF). Ihm folgten am vergangenen 9. Juli – Feiertag der Nationalen Unabhängigkeit Argentiniens – erneute Massenkundgebungen gegen die zu erwartenden Folgen der IWF-Finanzspritze, die zunächst für 30 Milliarden Dollar zugesagt wurde, doch insgesamt 50 Milliarden Dollar erreichen kann.
Den Ausschlag für den Hilferuf gab die Spekulation mit dem US-Dollar. Nachdem die Regierung darüber die Kontrolle verloren hatte, stürzte Ende April der argentinische Peso in eine mehr als 10-prozentige Abwertung und trieb umgekehrt die Inflationsrate in die Höhe. Mit breitspuriger Ambition hatte Macri schon während seiner Wahlkampagne im Jahr 2015 versprochen, die Inflation auf „Null“ zu senken, doch die radikal-liberale Finanzpolitik zur Begünstigung von Bankern und Rentiers besorgte das Gegenteil. Nämlich mit 24,6 Prozent, nach Venezuela die zweithöchste Inflationsrate auf dem lateinamerikanischen Kontinent im Jahr 2017. Die erste Folge davon war, längst vor dem Anruf beim IWF, eine drakonische Kürzung der Haushaltsausgaben von umgerechnet 3,0 Milliarden Dollar.
Doch ist die Dollar-Spekulation nicht die Ursache, sondern umgekehrt die Folge einer neuen Schuldenspirale, nachdem Ex-Präsident Néstor Kirchner im Jahr 2006 durch einen mit Argentiniens Gläubigern ausgehandelten Schuldenschnitt sämtliche Obligationen gegenüber dem IWF tilgte und die Landesfinanzen wieder auf gesunde Füße stellte. Besonders renitente, sogenannte „Geierfonds“, bildeten eine Ausnahme und verklagten Argentinien vor internationalen Gerichten.
Mit massiver Emission von Schuldtiteln versuchte Macri, die von ihm nicht gebremste, sondern angeregte Neuverschuldung zu überwinden. Beim Versuch, die Flucht der Investoren vor dem Absturz des Pesos zu stoppen, reagierte die argentinische Zentralbank zwischen Ende April und Anfang Mai 2018 mit einem Verzweiflungsakt. In einer einzigen Woche erhöhte sie dreimal die Zinssätze von 27,25 Prozent auf 40,0 Prozent und notierte damit den Zinssatz-Weltrekord an den internationalen Börsen.
Doch es waren Staatsanleihen, vor deren fortgesetzter Emission amerikanische Privatbanker und die US-Regierung bereits eine im Januar 2018 eilends angereiste argentinische Delegation mit Finanzminister Luis Caputo an der Spitze diskret warnten. Offenbar hatte der „Markt“ signalisiert, die Titel könnten angesichts der Zahlungsengpässe bald nur noch Ramschwert besitzen. Selbstverständlich hat der Rückgriff auf den IWF einen hohen politischen und sozialen Preis; der Fond verschenkt nichts. Die Entscheidung weckte in der Bevölkerung dramatische Erinnerungen an die Unruhen vom Dezember 2001, als die argentinischen Finanzen kollabierten und Präsident Fernando de la Rua zum Rücktritt zwangen, dem die Noternennung und der unmittelbare Sturz von drei weiteren Präsidenten folgte.
Die ausschlaggebenden Parteien der argentinischen Opposition, wie die peronistische Frente por la Victoria / Bündnis für den Sieg (FPV), meldeten scharfe Kritik an der IWF-Vereinbarung, insbesondere an den damit verknüpften „brutalen” sozialpolitischen Anpassungen an. Agustín Rossi, Fraktionsvorsitzender des FPV im argentinischen Kongress, erklärte, „das wirtschaftspolitische Handbuch des IWF verordnet stets Beschneidungen von Gehältern und Renten, Entlassung von öffentlichen Bediensteten, usw. …“.
„Wir wissen doch, wie diese Geschichte endet. Es geschah so im Jahr 2001, aber auch schon unter der Diktatur, und danach mit der Hyperinflation von 1989, den Privatisierungen von Präsident Carlos Menem und so weiter … es ist immer das Gleiche. Nicht die Arbeiter sollen nochmal für diese Krise zahlen, sondern die großen Wirtschaftsverbände!”, protestierte Nicolás del Caño, Abgeordneter der Frente de Izquierda (Linke Front). Für die Beanspruchung der IWF-Überbrückungs-Anleihe musste die Regierung ein entsprechendes Memorandum über die vom IWF erwarteten Anpassungsmaßnahmen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik unterzeichnen.
Insgesamt erhält die Administration Mauricio Macri – die im Fall eines Wahlverlustes im Dezember 2019 aus dem Amt scheidet – bis zu 29,6 Milliarden Dollar. Die Zahlung des Restpostens erstreckt sich auf Macris eventuelle(n) Nachfolger(in) und endet im Jahr 2021. Die IWF-Anleihe ist in ein Austeritäts-Korsett gepresst. Zu den einzelnen vertraglichen Verpflichtungen gehört die Senkung des Haushaltsdefizits und der Inflation, eine restriktive Geldpolitik und ein mit dem Dollar als Leitwährung gekoppelter, variabler Wechselkurs. Als „Gegenleistung“ akzeptierte die Regierung Macri ferner die Kürzung staatlicher Subventionen und Sozialausgaben, die Kündigung öffentlicher Bediensteter und die Abschaffung einzelner Steuern.
Argentinischer Experte: „Die Verschuldung ist ein Betrug”
Alejandro Olmos Gaona, Historiker und Fachmann für Internationales Recht, hat nachgewiesen, dass es sich bei der argentinischen Auslandsverschuldung in der Hauptsache um odious debt – zu Deutsch: “verhasste” oder illegitime Schulden – handelt. Olmos Gaonas Vater, Alejandro Olmos, war Autor einer 1982 eingeleiteten, 18 Jahre andauernden Rechtsklage gegen den mutmaßlich illegalen Ursprung der argentinischen Staatsschulden. Zwei Monate vor seinem Tod erließ Richter Jorge Ballestero ein weltweit beispielloses Urteil, das die Illegalität der Auslandsschulden, die Verantwortung der Beamten der Militärdiktatur (1976-1983) und die Mitverantwortung internationaler Institutionen wie des IWF, der illegale und betrügerische Kredite genehmigte, bestätigt.
Da das entsprechende Kriminalurteil jedoch verjährt war, adressierte Ballestero mit Berufung auf Artikel 75 der argentinischen Verfassung – der die Überwachung der Auslandsschulden regelt – sein Urteil an das argentinische Parlament mit einer Anordnung zur Ergreifung entsprechender Rechtsmittel. Unverständlicherweise hat sich die parlamentarische Mehrheit im argentinischen Kongress niemals für die akute Staatssache engagiert. Angesichts der Apathie des Kongresses und der Befürchtung, dass die Ermittlungen seines Vaters im Sande verlaufen würden, trat Olmos Gaona selbst als Kläger im Verfahren auf, das die gesamte Neufinanzierung der ursprünglichen Schulden bis zum neuen Millennium untersuchte.
Im Dezember 2005 reichte der Jurist – gefolgt vom Friedensnobelpreisträger Adolfo Perez Esquivel und mehr als 50 Vertretern sozialer, religiöser, gewerkschaftlicher und Menschenrechts-Organisationen – eine Einstweilige Verfügung gegen die vom IWF geforderte Rückzahlung erteilter Darlehen ein, bis das Bundesgericht über die Legitimität des Anspruchs entschied. Der damalige Präsident Néstor Kirchner handelte vorteilhafte Konditionen aus und tilgte Argentiniens IWF-Schulden.
Doch damit war längst nicht die Frage beantwortet, wie die Hauptschulden gegenüber den großen internationalen Banken zustande kamen und “verwaltet” wurden. Olmos Gaona schrieb darüber drei hochexplosive Bücher: “La deuda odiosa. El valor de una doctrina jurídica como instrumento de solución política” (Illegitime Schulden, Der Wert einer Rechtslehre als Instrument der politischen Lösung), “La deuda argentina como delito” (Argentiniens Schulden als Verbrechen) und “La deuda externa argentina y los derechos humanos” (Argentiniens Auslandsschulden und die Menschenrechte).
Der Verschuldungs-Rechtsexperte ist eindeutig in seinem Urteil: Die vierzigjährige Geschichte der Staatsverschuldung „war ein skandalöser Betrug” (Alejandro Olmos Gaona: “Vamos inexorablemente a una crisis de la deuda” – Izquierda Diario, 26. Mai 2018). Die gewagte Bilanz ist kein dahingeworfener Spruch. Olmos Gaona kennt die Umtriebe des internationalen Finanzkapitals aus den Geschäfts- und Gerichtsakten.
In einer dieser Urkunden stieß er auf einen Brief des ehemaligen Finanzministers Domingo Cavallo an Citibank, Deutsche Bank, J.P. Morgan und Credit Suisse, der sich doch tatsächlich erkundigte, „wie viel wir ihnen schuldeten”; derart skandalös war die unverantwortliche „Überwachung“ der zig Milliarden Dollar schweren Auslandsverschuldung. Für die Jahreswende 2018/2019 kündigte Olmos Gaona ein viertes Buch an.
Schauplatz Brasilien: Paradies der Rentiers, Hölle der Armen
Aus dem 1.600 Kilometer Luftlinie nördlich von Buenos Aires gelegenen São Paulo meldete am gleichen Tag des Bruschtein-Protestes die Internet-Zeitung Brasil 247, dass „nach Angaben der nationalen Stichprobenerhebung brasilianischer Haushalte die Anzahl Arbeitsloser im erwerbsfähigen Alter, die es aufgegeben haben, nach Arbeit zu suchen, Rekordwerte erreicht hat. Die Menschen finden keinen Arbeitsplatz … Nach Angaben des brasilianischen statistischen Amtes IBGE waren 12,7 Prozent – insgesamt 13,2 Millionen Menschen – im ersten Quartal 2018 ohne Arbeit (Desalento de trabalhadores bate recorde no país – Brasil247, 30. Juni 2018).
Dem folgte die Kontrastmeldung aus der Regionalzeitung O Tempo: „Mitten in der Krise werden in Brasilien 7.000 neue Millionäre geboren. Die Einkommen der reichsten 20 Prozent wuchsen um 10,8 Prozent, während das Einkommen der ärmsten 20 Prozent um 5 Prozent abstürzte” (Em plena crise, Brasil ganha 7.000 novos milionários – 04/07/18). Und dann die Skandalnachricht: Nach der Gewinnausschüttung von 17,6 Milliarden Reais (umgerechnet ca. 4,0 Milliarden Euro) – entsprechend 70,6 Prozent des Rekordgewinns von umgerechnet 5,5 Milliarden Euro im Steuerjahr 2017 – an die Hauptbesitzer der Bankengruppe Itaú Unibanco, könnten diese Familien 2018 bis zu umgerechnet 2,0 Milliarden erhalten.
„Sollte sich in den nächsten drei Quartalen der Gewinntrend der Bank durchsetzen und 25,7 Milliarden Reais (5,7 Milliarden Euro) erreichen, können die Eigentümer eine Mindestausschüttung von 9 Milliarden Reais (2,0 Milliarden Euro) erwarten”, war in der Tageszeitung Jornal do Brasil mit einem opportunen Vergleich zu lesen. Dass nämlich das von der Regierung Luis Inácio Lula da Silva geschaffene und von der De-facto-Regierung Michel Temer zwar stark gekürzte, aus wahlpolitischen Gründen dennoch weitergeführte Sozialprogramm Bolsa Família im Jahr 2017 ähnlich viel – 29,0 Milliarden Reais (6,4 Milliarden Euro) – ausgegeben hat.
Der „kleine Unterschied”: Die Gewinnausschüttung bei Itaú Unibanco, der führenden Bankengruppe Südamerikas, fließt in die Taschen von maximal 20 Individuen, während das Sozialprogramm Bolsa Família 13 Millionen Familien mit monatlich 19 Euro, in extremer Armut Lebende mit bis zu 43 Euro unter die Arme greift (Itaú: R$ 9 bilhões aos donos – Jornal do Brasil, 03. Mai 2018).
Entgegen der offiziellen Version der Regierung Temer, das Problem des Haushaltsdefizits seien die öffentlichen, vor allem die Sozialausgaben, ist der explosionsartige Anstieg der Staatsverschuldung die Hauptursache des seit Amtsübernahme der De-facto-Regierung herrschenden Finanzlochs. Die brasilianische Staatsverschuldung, die den Rekordwert von 3,7 Billionen Reais (ca. 820 Milliarden Euro) erreicht hat, verschlingt 44,93 Prozent des Staatshaushalts allein mit der Verzinsung der Schuldenbedienung. Eine der Folgen: der erneute Absturz von Millionen Brasilianern in die extreme Armut.
In der brasilianischen Ausgabe der spanischen Tageszeitung El País war darüber Mitte Juli zu lesen: „Als Brasilien 2014 aus der Liste der Länder ausschied, in denen mehr als 5 Prozent der Bevölkerung täglich weniger Kalorien zu sich nehmen als (Anm.: von der Welternährungsorganisation) empfohlen, hatte es eine beispiellose Errungenschaft vollbracht: es hatte die sogenannte UNO-Weltkarte des Hungers verlassen. Drei Jahre später warnte jedoch schon ein von 20 Organisationen der Zivilgesellschaft im Juli 2017 veröffentlichter Bericht vor den Risiken einer Wiederaufnahme in die unerwünschte Hunger-Karte“ (“A extrema pobreza voltou aos níveis de 12 anos atrás” – El País Brasil, 15. Juli 2018).
Francisco Menezes, Nationalökonom am Brasilianischen Institut für Sozial- und Wirtschaftsanalyse (Ibase), Forscher von ActionAid Brasil und Herausgeber des erwähnten Berichts, warnte vor wenigen Tagen, dass eine für Ende Juli 2018 geplante Aktualisierung des Berichts die vor einem Jahr angedeuteten Befürchtungen auf dramatische Weise bestätigt. Demnach attestieren neueste ActionAid-Untersuchungen der Indikatoren für Armut und extreme Armut, dass Brasilien zwischen 2015 und 2017 auf das Niveau von vor 12 Jahren – also vor dem Start der Armuts- und Hungerbekämpfungs-Programme der Regierung von Präsident Luis Inácio Lula da Silva – zurückgefallen ist. In nackten, abschreckenden Zahlen ausgedrückt: Mindestens 10 Millionen Brasilianer sind gegenwärtig in neue Armut abgestürzt.