Neoliberale Indoktrination auch auf Wikipedia

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Auf Wikipedia findet sich ein Artikel zur Gobalsteuerung: Eine viertel Seite Information und eine Druckseite Beurteilung. Die Information ist dürftig, die Beurteilung sieht ohne Begründung „…die Politik der Globalsteuerung in den Jahren von 1967 bis 1982 insgesamt als gescheitert an.“ Dazu ein Beitrag von Claus F. Hofmann*, der gut in unsere Rubriken Wirtschaftspolitik und Medienanalyse/Wikipedia passt. Albrecht Müller.

Lassen wir die Fakten sprechen:
Eine unverwässerte Globalsteuerung gab es in Deutschland praktisch nur zur Überwindung der Rezession 1967. Die Maßnahmen orientierten sich an der gesamtwirtschaftlichen Nachfragelücke. Nach dem Wachstumseinbruch 1967 (-0,3% reales BIP) wurden 1968 und 1969 kräftige Zuwächse beim realen Bruttoinlandprodukt (BIP) erzielt (+5,5% in 1968 und +7,5% in 1969). Die Arbeitslosenquote schnellte von 0,7% in 1966 auf 2,1% in 1967 hoch und lag 1970 wieder bei 0,7%. Der Preisanstieg bewegte sich um 4%, das außenwirtschaftliche Gleichgewicht wurde gewahrt. Der Schuldenstand der öffentlichen Haushalte (in % des BIP) stieg von 18,4% in 1965 auf 22,4% in 1968 und unterschritt mit 18,2% in 1970 wieder das Niveau von vor der Rezession. Diese gesamtwirtschaftliche Performanz kann sich sehen lassen und ist eher ein Beleg für den Erfolg der Globalsteuerung.
Aber auch im längerfristigen Vergleich braucht sich die Periode 1966-1982 nicht verstecken. Vergleichen wir diese Periode mit der Zeit 1992-2008 (16 Jahre, während derer die neoliberale Politik ihre Überlegenheit hätte demonstrieren können):

1966-1982 1992-2008
Reales BIP ( JD) +2,7% +1,4%
Arbeitslosenquote 7,5% in 1982 8,7% in 2008
Preise BIP (JD) +4,7% +1,1%
Staatsschuld in % des BIP +19,1%-Punkte +23%-Punkte
Nettorealverdienste (JD) +2,1% -0,0%
Lohnquote +6,8%-Punkte -7,2%-Punkte
Kapitaleinkommensquote -3,8%-Punkte +6,2%-Punkte

Quelle: Statistisches Taschenbuch 2009 des BMAS, eigene Berechnungen

Mit Ausnahme der Preisentwicklung ist die Performanz der neoliberal geprägten Ära 1992-2008 mickrig. Die Auswirkungen dieser Politik sind desaströs:

  • Bei hoher Staatsverschuldung eine marode Infrastruktur
  • Die Soziale Sicherung im Würgegriff unterbeschäftigungsbedingter, fehlender Einnahmen und Ausgaben
  • Zerrüttung des Arbeitsmarktes mit gebrochenen Erwerbsbiographien und fehlenden Perspektiven für die jüngeren Generationen, prekären Arbeitsverhältnissen und Lohndrückerei

Man kann mit Recht fragen, ob der wirtschaftspolitische Ansatz der Globalsteuerung nicht bessere Ergebnisse gezeitigt hätte.

Die Antwort auf die Frage, warum die Globalsteuerung so abgewertet wird, findet sich bei Wikipedia im Beitrag über den Ökonomen Kalecki. Dort wird zitiert aus: Krise und Prosperität im Kapitalismus – Ausgewählte Essays 1933–1971, Oktober 1987, ISBN 3-926570-01-6, S. 235f, Beitrag „Politische Aspekte der Vollbeschäftigung“ (1943, 1971). Kalecki schreibt:
„Die ‚Führer der Wirtschaft‘ widersetzen sich einer Vollbeschäftigung, die der Staat durch seine Ausgaben erzeugt. Die Gründe hierfür lassen sich in drei Gruppen einteilen:

  1. Das Unbehagen an der Einmischung des Staates in das Beschäftigungsproblem an sich.
  2. Das Unbehagen am Verwendungszweck der Staatsausgaben (öffentliche Investitionen und Subventionierung des privaten Konsums).
  3. Das Unbehagen an den sozialen und politischen Veränderungen, die eintreten, wenn Vollbeschäftigung zum Dauerzustand wird.“

Das ist eigentlich hinreichend zum Verständnis, warum die Globalsteuerung verteufelt wird: Weil sie eine „Reservearmee“ von Arbeitslosen und so die Lohndrückerei verhindern könnte. Erinnert sei aber noch an die ununterbrochene Stimmungsmache gegen eine aktive Beschäftigungspolitik: Die Krise 1974/75 sei keine Konjunkturkrise gewesen, sondern eine Strukturkrise. Anfang der 80er Jahre wurde das Gespenst einer Währungsreform beschworen. 1982 wurden die Staatsschulden mit denen des Dritten Reiches 1945 verglichen. Man schreckte wirklich vor nichts zurück. Die Lohndrückerei und der Abbau von Arbeitnehmerrechten wurden mit der Drohung massenhafter Arbeitsplatzverlagerung ins Ausland unterlegt. Die Diffamierung von Sozialleistungsempfängern wird systematisch bis heute (MP Koch) seit 1974 betrieben.
Auch das Argument der fehlenden Mittel für Beschäftigungspolitik wird angesichts der ökonomisch unsinnigen Handhabung der Wiedervereinigung und dem jetzigen Geldsegen für die Banken zum Witz. Ein Bruchteil der Mittel hätte Vollbeschäftigung gebracht. Kalecki wußte schon 1943, dass das nicht im Sinne der (neoliberalen) Eliten ist.

*Diplom-Volkswirt, früher Mitarbeiter im Bundesarbeitsministerium

Und hier noch der Text von Wikipedia in der analysierten Fassung vom 4.2.2010 (er könnte ja zwischendurch geändert worden sein):

Globalsteuerung

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Globalsteuerung ist ein von Karl Schiller geprägter Ausdruck für eine wirtschaftspolitische Konzeption, die vor allem von den theoretischen Ideen des Nationalökonomen John Maynard Keynes inspiriert war. 1967 wurde sie es mit dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz gesetzlich verankert.

Die wirtschaftspolitische Konzeption

Die Globalsteuerung stellt einen dauerhaften Prozess staatlicher Einwirkung auf den Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung dar, ohne dass dadurch die marktwirtschaftliche Ordnung grundsätzlich angetastet werden soll. Laut Karl Schiller, 1966 bis 1972 Bundesminister für Wirtschaft und von 1971 bis 1972 zusätzlich Bundesminister der Finanzen, soll „eine aufgeklärte und beharrliche Wirtschafts- und Sozialpolitik die Marktkräfte so kanalisieren, daß sie – ohne auszuufern – ihre Bewegungsenergie behalten“. Die Mittel der Globalsteuerung wirken vor allem auf die Nachfrageseite des Marktes. Dabei soll eine Anpassung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage an die Entwicklung des Produktionspotenzials erfolgen, indem als geeignet angesehene wirtschaftspolitische Maßnahmen aus den Bereichen der Fiskal-, Geld-, Einkommens- und Außenwirtschaftspolitik ergriffen werden. Die dabei verfolgten Ziele der Wirtschaftspolitik werden als “Magisches Viereck” dargestellt. Dazu zählt nicht zuletzt ein hoher Beschäftigungsstand.
Ein wesentliches Element derselben ist die “Konzertierte Aktion”. Der Staat tritt hierbei „in einen ständigen Dialog mit den Verbänden der Unternehmer, Arbeitnehmer und der Finanzwelt ein, um über sie und mit ihrer Hilfe seinen Aufgaben gerecht zu werden.“ Hinzukommen eine Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung sowie verfeinerte prognostische Instrumente (“quantitative Zielprognose”). Mit dem bereits unter der Regierung Adenauer/Erhard verabschiedeten “Gesetz über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung” vom 14. August 1963 wurde die wissenschaftliche Beratung der gesamtstaatlichen Wirtschaftspolitik institutionaisiert, die in § 2, Satz 2 und 3 des Gesetzes auf eben die im Stabilitätsgesetz genannten Ziele von Wirtschaftspolitik festgelegt wurde.

Beurteilung
Die Wirtschaftskrise seit dem Sommer des Jahres 2008 hat in Deutschland zu einer Diskussion über Sinn und Notwendigkeit von Konjunkturpolitik geführt. Ein Info-Brief für den deutschen Bundestag vom 22. Januar 2009 untersucht die deutschen Erfahrungen im Hinblick auf Konjunkturpolitik unter dem Aspekt der heutigen ökonomischen Lehrmeinungen, die sich vom Keynesianismus hin zu Monetarismus und neuer Makroökonomik gewandelt haben. Als “Konjunkturprogramm” werden ausschließlich “diskretionäre, einmalige bzw. mehrmalige Maßnahmen” behandelt. Claus-Martin Gaul, der Autor dieses Info-Briefs, sieht die Politik der Globalsteuerung in den Jahren von 1967 bis 1982 insgesamt als gescheitert an. Nicht zuletzt sei versäumt worden, neben dem Setzen konjunktureller Impulse die öffentlichen Schulden zu begrenzen und die Flexibilität und Angebotsbedingungen der deutschen Volkswirtschaft zu verbessern. Die Stabilisierung des Bruttoinlandsproduktes und der Beschäftigung seien nur teilweise gelungen; sie seien um den Preis hoher Inflationsraten und einer steigenden Staatsverschuldung erkauft worden. Wesentlich daraus hervorgegangen sei die Erkenntnis, dass Probleme, die eher die Angebotsseite betreffen, nicht durch nachfrageseitige Konjunkturmaßnahmen gelöst werden können. Die nachträgliche Analyse von Wirtschaftspolitik sei indes prinzipiell mit der Schwierigkeit behaftet, dass sie nicht anhand eindeutiger Referenzszenarien vorzunehmen ist. Selbst ausgefeilte gesamtwirtschaftliche Modellanalysen können nur unzulänglich abbilden, wie die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland ohne die Anwendung nachfrageseitiger Konjunkturprogramme verlaufen wäre. Im Gegensatz zum Keynesianismus der 1960er und 1970er Jahre und zum Monetarismus der 1980er und 1990er Jahre haben sich aber auf Basis der neueren theoretischen Erkenntnisse der Wirtschaftstheorie bisher keine eindeutigen Handlungsempfehlungen an die Konjunkturpolitik herausgebildet..Aus dem Scheitern der Globalsteuerung wurden aber Erkenntnisse gewonnen wann und mit welchen Maßnahmen Konjunkturpolitik hilfreich sein kann, so Gaul.

Das Scheitern der Globalsteuerung erklärten Keynesianer mit verschiedenen Faktoren:

  • Die mangelnde Abstimmung zwischen einer expansiven Fiskalpolitik und einer gegenläufigen Geldpolitik der Bundesbank (In einer empirischen Vergleichsstudie hat Fritz Scharpf im Jahr 1982 die Ursachen der unterschiedlichen Performanz von Schweden, Österreich, Großbritannien und der Bundesrepublik untersucht, die alle eine ähnliche Wirtschaftspolitik verfolgt hatten. Scharpf sieht die entscheidende Differenz im jeweiligen institutionellen Umfeld der einzelnen Volkswirtschaften. So habe in der Bundesrepublik die unabhängige Stellung der Bundesbank zu einem Konflikt zwischen Beschäftigungspolitik und Inflationsbekämpfung geführt. Dies habe im Endergebnis die Wachstumsrate heruntergedrückt und anhaltende Arbeitslosigkeit produziert, so die Schlussfolgerung von Scharpf.)
  • Effizienzverluste durch föderale Abstimmungsprobleme
  • in der Rezession wurden zwar die Staatsausgaben erhöht, in der Boomphase jedoch nicht, wie im Konzept vorgesehen, gesenkt
  • die Globalsteuerung erzeugte über eine Lohn-Preis-Spirale Inflation.

Ein weiteres Problem sind die Timelags zwischen der Vorhersage oder Erkennung einer konjunkturellen Situation und dem Einsatz des wirtschaftspolitischen Mittels. Eine antizyklische Maßnahme kann so zu einer prozyklischen Verstärkung eines konjunkturellen Ausschlags führen.

Systemimmanente Schranken für eine keynesianische Vollbeschäftigungspolitik hat der polnische Ökonom Michał Kalecki schon 1943 vorausgesehen.

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