Ziel der Einführung von Hartz I-IV etc. ist der Aufbau des größten Niedriglohnsektors in der EU
Wenn die Befürworter der Hartz-Gesetze und dabei insbesondere die mitverantwortlichen Sozialdemokraten diese zerstörerischen Reformen verteidigen, dann verweisen sie routinemäßig auf das angeblich notwendige Ziel der Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenunterstützung. Ziel war jedoch etwas ganz anderes. Ein Freund der NDS hat dies in einer Analyse niedergeschrieben, die einen guten Überblick verschafft. Albrecht Müller.
Vorweg zwei Bemerkungen zum Text des NachDenkSeiten-Freundes:
Erstens: Unser Autor zitiert aus der Rede des früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder vor dem Word Economic Forum in Davos vom 28.1.2005. In dieser Rede nennt Schröder das Ziel seiner Agenda: den Aufbau eines Niedriglohnsektors. Er sagt auch sonst noch einiges, was im Rückblick die Rolle dieses Bundeskanzlers und auch die abgeklatschte Dürftigkeit seiner Argumente sichtbar macht. Er beruft sich auf die gängigen Glaubensmuster, wonach Globalisierung und demographische Wandel uns zu seinen Reformen quasi gezwungen hätten. Und Schröder bekennt sich eindeutig zur Teilprivatisierung der Altersvorsorge und der Gesundheitsvorsorge. Was daraus geworden ist, haben wir am Fall der Riester-Rente vielfältig beschrieben und erleben wir beim Thema Krankenkassenbeiträge.
Zweitens: Gegen Ende des Textes wird sichtbar, dass unser Autor große Hoffnungen in das kommende Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu Hartz IV setzt. Wolfgang Lieb und ich sind da sehr viel skeptischer. Am 9. Februar, dem Tag der Urteilsverkündung, könnte sich die Tendenz des Verfassungsgerichtspräsidenten Papier durchsetzen. Er betreibt – nach meiner Erinnerung mindestens seit Februar 2003 – eine Lockerung der Verbindlichkeit des Sozialstaatsversprechens.
Wir wollen in dieser Sache keinesfalls Recht behalten.
Hier der Text des Freundes der NachDenkSeiten:
Warum wurde der Arbeitsmarkt in D. mit den Hartzreformen (Hartz I-IV) und den jetzigen Rahmenbedingungen der Leiharbeit liberalisiert?
Ging es dem Gesetzgeber bei der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe darum, das Sozialhilfeempfänger durch die BA besser vermittelt werden sollten?
Nein, das Ziel der Einführung von Hartz I-IV und der jetzigen Rahmenbedingungen der Leiharbeit ist der Aufbau des größten Niedriglohnsektors in der EU!
Unser Alt-Bundeskanzler Schröder bestätigt das am 28. Januar 2005 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos [PDF – 23.1 KB]:
…Wir müssen und wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt. ….
Wir haben einen funktionierenden Niedriglohnsektor aufgebaut, und wir haben bei der Unterstützungszahlung Anreize dafür, Arbeit aufzunehmen, sehr stark in den Vordergrund gestellt. Es hat erhebliche Auseinandersetzungen mit starken Interessengruppen in unserer Gesellschaft gegeben. Aber wir haben diese Auseinandersetzungen durchgestanden. Und wir sind sicher, dass das veränderte System am Arbeitsmarkt erfolgreich sein wird. …
Warum soll es in D. den größten Niedriglohnsektor in der EU geben?
Da D. die größte Volkswirtschaft in der EU ist, wird damit nach meiner Auffassung die Lissabon-Strategie (EU soll weltweit der beste Wirtschaftsstandort sein) über das Schröder-Blair-Papier und die Agenda 2010 umgesetzt.
D. ist damit nach meiner Auffassung ein Testgelände für diese Art der Arbeitsmarktliberalisierung in ganz Europa.
Wie kann man Menschen dazu drängen in einem Niedriglohnsektor zu arbeiten?
Indem man Menschen so wenig Geld lässt, das sie davon zwar überleben, aber nicht leben können. Herr Müntefering sagte dazu: “Wer nicht arbeitet, muss auch nicht essen.” oder so ähnlich.
Dazu haben SPD, Grüne, Union und FDP zum 01.01.2005 das SGB II eingeführt, womit die alte Arbeitslosenhilfe auf das Sozialhilfeniveau vom 01.07.2003 gekürzt wurde.
Zitat aus dem SGBII-Gesetzentwurf vom 25.07.2003 (Seite 23 des Dokumentes) zum
§ 20, Abs. 2 SGB II:
(2) Die monatliche Regelleistung beträgt für Personen, die alleinstehend oder alleinerziehend sind, in den alten Bundesländern einschließlich Berlin (Ost) 297 Euro, in den neuen Bundesländern 285 Euro.
Zitat aus der Begründung zum SGBII-Gesetzentwurf vom 25.07.2003 (§ 20, Abs. 2 SGB II, Seite 33, B. Besonderer Teil):
Die monatliche Regelleistung zur Sicherung des laufenden Lebensunterhalts orientiert sich hinsichtlich ihrer Höhe an dem jeweils maximalen monatlichen Regelsatz (hier: Stand 1. Juli 2003), der im Rahmen der Sozialhilfe für die alten Bundesländer einschließlich Berlin (Ost) bzw. in den neuen Bundesländern gezahlt wird…
In SGBII-Gesetzentwurf vom 13.08.2003 wurden dazu noch die durchschnittlichen einmaligen Leistungen hinzugerechnet, die offensichtlich im Gesetzentwurf vom 25.07.2003 nicht eingerechnet wurden:
285 Euro/Monat + 46 Euro/Monat = 331 Euro/Monat (Ost)
297 Euro/Monat + 48 Euro/Monat = 345 Euro/Monat (West)
Zitat aus dem vom Bundeskabinett beschlossener Gesetzentwurf vom 13.08.2003 (Seite 25 des Dokumentes) zum § 20 Abs. 2 SGB II:
(2) Die monatliche Regelleistung beträgt für Personen, die allein stehend oder allein erziehend sind, in den alten Bundesländern einschließlich Berlin (Ost) 345 Euro, in den neuen Bundesländern 331 Euro.
Diese pauschalierten einmaligen Leistungen, die ehemalige Sozialhilfeempfänger damals auf Antrag bekommen haben, sind für einmalige Ausgaben gedacht (z.B. für einen kaputten Kühlschrank) und sollen von den Arbeitslosen monatlich angespart werden, was natürlich auf Grund der geringen Leistungen nicht möglich ist. Ist ein Kühlschrank kaputt, bekommen Arbeitslose dafür heute keinen einzigen Cent und müssen sehen, wie sie damit klar kommen.
Zur Schaffung des größten Niedriglohnsektors in der EU wurde das SGB II als Kombilohn-Modell konzipiert (§§ 10, 11 und 30 SGB II), wobei die Zumutbarkeit im § 10 SGB II allein auf sittenwidrige Löhne gesenkt wurde (sprich Löhne die unterhalb von mehr als 30 % unter Tariflöhnen von z.B. 4,82 Euro/Std. liegen). Bruttolöhne von unter 6 oder 5 Euro/Std. wurden damit als “zumutbar” deklariert, obwohl davon niemand allein leben kann, was politisch auch nicht gewollt war und ist!
Im Politiker-Jargon heißt das “Mindesteinkommen”, sprich ein Armutslohn (trotz Vollzeittätigkeit) und steuerfinanzierte ergänzende Sozialleistungen zur Gewinnmaximierung von Unternehmen!
Zitat der TAZ vom 19.12.2003 unter dem Titel: “Regierung verteidigt Lohndumping”:
…Das Wirtschaftsministerium wiederum versteht die Kritik nicht: Die Debatte rund um die Zumutbarkeit sei “völlig überzogen”. Eigentlich würde sich kaum etwas ändern; die geltende Zumutbarkeitsregelung sei schon “sehr scharf”. Bereits jetzt seien Arbeitslose nach sechs Monaten verpflichtet, Jobs anzunehmen, die nicht mehr einbringen als Arbeitslosengeld oder -hilfe.
In konkreten Zahlen: Das Arbeitslosengeld liegt durchschnittlich bei 767 Euro, die
Arbeitslosenhilfe bei 510 Euro monatlich. Also hat das Wirtschaftsministerium errechnet, dass sich Empfänger von Arbeitslosenhilfe nicht beklagen sollten, wenn sie künftig für 5 Euro pro Stunde schuften. “Dann haben sie 800 Euro bei einem Vollzeitjob!”, hieß es gestern triumphierend…
Quelle: TAZ
Eigentlich sollte auch das SGB II das unterste soziale Netz in D. sein, mit dem ein leben in Würde möglich sein sollte (Art.1 GG), jedoch kann auf Grund des § 31 SGB II dieses (heruntergerechnete) Existenzminimum noch bis zu 100 % gekürzt werden (§ 31 Abs. 5 SGB II), wenn Menschen nicht dazu bereit sind, trotz Vollzeittätigkeit in Armut zu leben (mit späterer Altersarmut) und sich dann noch den Behörden bei Terminen Vorhaltungen anhören zu müssen, warum sie denn nicht mehr Lohn bekommen, um unabhängig von Sozialleistungen zu leben!
Für diese ca. 1,3 Mio. sogenannten “Aufstocker” zahlen Steuerzahler 8-9 Mrd. Euro/a an indirekten Subventionen für höhere Unternehmensgewinne!
Die SPD hat mit dieser neoliberalen Politik seit 1998 die Hälfte aller Mitglieder und 10 Mio. Wähler verloren, was nach meiner Auffassung auch berechtigt ist, denn ohne die Zustimmung der SPD, Grünen und Gewerkschaften hätte es diese neoliberale Politik in D. nie gegeben.
Zum Glück gibt jedoch am 09.02.2010 das Urteil des BVerfG zu Hartz IV, in dem das BVerfG erstmalig in unserer Geschichte das bisher schwammige Sozialstaatsgebot (Art. 20 GG) i.V.m. der Menschenwürde (Art.1 GG) inhaltlich definieren wird.
Die Richter des BVerfG werden damit erstmalig ein “Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums” bestimmen, das dann eigentlich nicht mehr durch Regierungen gekürzt werden kann, da es ansonsten verfassungswidrig wäre.
Quelle: Spiegel Online
Was hat dieses Urteil des BVerfG mit dem Niedriglohnsektor in D. zu tun?
Bisher wurde das Sozialhilfeniveau so berechnet:
Unterste 20 % der Einkommen – Lohnabstandsgebot = Sozialhilfeniveau, was jedoch schon heute mit Löhnen von unter 6 oder 5 Euro/Std. unterlaufen wird, wie die ca. 1,3 Mio. “Aufstocker” zeigen.
In Zukunft wird es aber dann ein Mindestlohngesetz geben müssen, das sich wie folgt berechnet:
Sozialhilfeniveau nach Vorgabe des Art. 1 und 20 GG (BVerfG) + Lohnabstandsgebot von z.B. 20 % = gesetzlicher Mindestlohn
Kommt dieser gesetzliche Mindestlohn nicht (den die SPD zuletzt am 14.06.2007 im Bundestag abgelehnt hat, obwohl sie vorher Unterschriften dafür gesammelt hat!), dann könnten sich heutige 8-9 Mio. Niedriglohnempfänger die Frage stellen, warum sie denn überhaupt noch arbeiten gehen.
Auf Grund des kommenden Urteils des BVerfG am 09.02.2010 kann die Lissabon-Strategie also nicht mehr aufgehen und Arbeitnehmer müssen damit in Zukunft einen Lohn bekommen, von dem sie ohne ergänzende Sozialleistungen leben können, da ansonsten die Zahlungen für das ALG II ins Unermessliche steigen könnten.
Je näher der Termin 09.02.2010 rückt, umso mehr nimmt die Hetze gegen Arbeitslose wieder zu, wie z.B. BR, Bild und FAZ zeigen.
Das BVerfG wird am 09.02.2010 ein Grundsatzurteil fällen, das alle Bürger in D. betreffen wird und den neoliberalen Politikern, Lobbyisten und Reichen natürlich überhaupt nicht gefallen wird. Bis 90 % der Bevölkerung merkt, das dieses Urteil auch zu ihren Gunsten ist, wird die Hetze auf Arbeitslose nach dem Urteil des BVerfG erst richtig losgehen.
P.S.: Hier noch eine Argumentation für christliche Menschen in Bezug auf einen vernünftigen gesetzlichen Mindestlohn in D.:
In der katholischen Soziallehre und der evangelischen Sozialethik gibt es den bekannten Begriff des gerechten Lohnes, der geeignet sein muss “Sein und den Seinigen materielles, soziales, kulturelles und spirituelles Dasein angemessen zu gestalten” (Zitat aus Gaudium et spes, 67; zum Argument päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompedium der Soziallehre der Kirche, Freiburg: Herder, 2006, 302).
Dieser christliche Grundsatz gilt offenbar nicht in der deutschen Politik der CDU/CSU, da es bis dato keine nationale Umsetzung des Art.4, Nr.1 europäische Sozialcharta durch ein Mindestlohngesetz gibt (siehe Bericht des Europarates zur Einhaltung des Art.4, Nr.1 europäische Sozialcharta,). Diese Vorgabe der katholischen Soziallehre findet sich nicht nur im Art.4, Nr.1 europäische Sozialcharta, sondern auch in 10 von 16 deutschen Länderverfassungen.
Dazu heißt es auch im nichtrechtskräftigen Urteil des SG Berlin vom 27.02.2006 (S 77 AL 742/05):
Wesentliche Kriterien sind für die Gestaltung von Arbeitsentgelten Art. 1, 2 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG sowie Art. 4 Nr. 1 der Europäischen Sozialcharta (EuSC – in der Bundesrepublik in Kraft seit 26. Februar 1965). Nach Art. 4 Nr. 1 EuSC erkennen die Vertragsstaaten das Recht der Arbeitnehmer auf ein Arbeitsentgelt an, welches ausreicht, um diesen und deren Familien einen angemessenen Lebensstandard zu sichern. Die Vorschrift ist einfaches Bundesrecht auf Gesetzes-, nicht auf Verfassungsebene. Sie räumt Bürgern zwar keine subjektiven Rechte ein (BAG Urteil vom 24.03.2004, Az. 5 AZR 303/03), ist allerdings als Auslegungsmaßstab bei Wertentscheidungen, wie denen des § 138 Abs. 1 BGB heranzuziehen…
Quelle: Berlin.de
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