Mexiko – Andrés Manuel López Obrador, der Hoffnungsträger für Befriedung und soziale Gerechtigkeit
Am Sonntag, 1. Juli 2018, fanden in Mexiko allgemeine Wahlen statt. Gewählt wurden Kommunalvertreter, Abgeordnete der Landesparlamente, des Bundesparlaments (128 Senatoren und 500 Abgeordnete), 9 Gouverneure der insgesamt 32 Bundesstaaten und ein neuer Staatspräsident für ein sechsjähriges Mandat. Wahlberechtigt waren rund 90 Millionen der 125 Millionen Einwohner Mexikos, die geschätzte Wahlbeteiligung von mindestens 65 Prozent war die höchste seit Jahrzehnten. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.
Die ersten Hochrechnungen vom Abend des 1. Juli bestätigten die seit Wochen verkündete Prognose des Wahlausgangs: Mit 47 Prozent der Stimmen wurde Andrés Manuel López Obrador, der sozialdemokratische Kandidat der Partei MoReNa (Bewegung für die Nationale Regenerierung), mit einem spektakulären Vorsprung von rund 20 Prozent gegenüber seinem Hauptrivalen Ricardo Anaya (27,3 Prozent) vom Wahlbündnis “Por México al Frente” zum neuen Präsidenten Mexikos gewählt. Weitere Herausforderer López Obradors waren José Antonio Meade (16,6 Prozent) und Jaime Rodríguez Calderón (ca. 6,0 Prozent).
Die Wahl López Obradors hat eminent historischen Charakter. Sie scheint, zumindest auf absehbare Zeit, die nahezu 100-jährige politische Herrschaft und Staatskontrolle der seit 1919 regierenden “Revolutionär Institutionellen Partei” (PRI) zu beenden; ein wahrliches Oxymoron als Partei-Name, der nämlich für die regelrechte Institutionalisierung landesweiter Vetternwirtschaft, Korruption und Gewalt steht.
Die Ironie der Geschichte: López Obrador, in Mexico unter dem Akronym “AMLO” popularisiert, ist selbst ehemaliges Mitglied der landesweit verachteten PRI, mit der er allerdings in den 1990-er Jahren wegen parteiinterner Machenschaften, vielfältigen Wahlbetrugs und Involvierung in die kriminelle Szenerie Mexikos brach und seitdem zum resoluten Verfechter administrativer Askese und der Bekämpfung der Korruption aufstieg.
Desinformation und „Warnungen” der USA
Die am 8. September 2017 eröffnete und am 25. Juni beendete Wahlkampagne für die Besetzung von insgesamt 3.500 politischen Mandaten war dennoch eine der blutigsten in der Geschichte Mexikos. Es wurden 123 Menschen ermordet, darunter vor allem Kandidatur-Anwärter im Hinterland, die sich weder dem Druck noch dem Terror der Drogenbanden beugten, die in Mexiko mittlerweile ganze Kommunal- und Regionalverwaltungen unterwandert und korrumpiert haben.
Im Rennen um die Präsidentschaft fand jedoch “eine Kampagne innerhalb der Kampagne”, nämlich eine Offensive des Reputationsmordes gegen López Obrador statt. Der zu Beginn des neuen Millenniums als zweitbester Bürgermeister der Welt gefeierte ehemalige Stadtverwalter Mexiko-Citys wurde zur Zielscheibe eines neuerdings weltweit verwendeten Diffamierungs-Repertoires. Vom Vorwurf des „Populismus”, des „heimlichen Freundes Nicolás Maduros” und „von Russland geförderten Kandidaten” zogen die Gegner des Mitte-Links-orientierten Sozialdemokraten, darunter die konservativen Landes- und Weltmedien, das nahezu komplette Register politischer fake news und Verschwörungstheorien.
Eine mutmaßlich der US-Produktionsfirma Netflix zugerechnete TV-Serie sollte die Wahlkampagne des Favoriten mit seiner angeblichen politischen Nähe zum Chavismus und zum Ex-Präsidenten Luis Inácio Lula da Silva torpedieren. Nach lauten Protesten López Obradors und bedeutender Teile der Öffentlichkeit dementierten sowohl Netflix als auch National Geographic, an dem Projekt beteiligt zu sein, und die Serie wurde zurückgezogen.
Dem vorausgegangen waren US-amerikanische „Frühwarnungen”. Ein linker Präsident in Mexiko wäre weder für Mexiko noch für die Vereinigten Staaten gut, hatte John Kelly, ehemaliger Minister für Heimatschutz, bereits eineinviertel Jahr vor den Wahlen im April 2017 alarmiert. Kelly sekundierte damals dem republikanischen Senator John McCain, der während einer Anhörung zur Grenzsicherheit sich über die zunehmende „anti-amerikanische Stimmung in Mexiko besorgt” zeigte (Un presidente de izquierda en México no es bueno para EU: John Kelly – El Universal, 06. April 2017).
Zwar trifft es zu, dass López Obrador in seinem Regierungsprogramm eine friedliche und ausgleichende Änderung des zum Schaden Mexikos bestehenden Verhältnisses zu den USA plant, doch seit dem Amtsantritt Donald Trumps hat die US-Administration vor allem mit der Androhung des Mauerbaus – obendrein mit der frechen Androhung, Mexiko solle dafür die Kosten tragen – übermäßig viel Benzin ins lodernde Feuer der bilateralen Beziehungen gegossen.
Ist damit der Konflikt vorprogrammiert? Die Antwort darauf – vor allem die nicht offen ausgesprochene, doch sehr wohl reflektierte Antwort López Obradors selbst – scheint eher die Wahl einer systemimmanenten, statt einer systemsprengenden Konfliktlösung zu signalisieren.
Wer ist AMLO?
Andrés Manuel López Obrador stammt mütterlicherseits von republikanischen Widerstandskämpfern aus dem spanischen Ampuero ab, die ins mexikanische Exil flüchteten.
Nach zwei Niederlagen – 2006 und 2012, die erste davon mit knapper Stimmendifferenz – war dies die dritte Präsidentschaftskandidatur des promovierten Politikwissenschaftlers (Dissertationstitel: “Der Prozess der Bildung des Nationalstaates in Mexiko, 1824-1867”) und mehrfachen Buchautors, diesmal als Spitzenkandidat der Koalition “Juntos Haremos Historia” (“Gemeinsam werden wir Geschichte machen”), ein linkes Parteienbündnis zwischen MoReNa, der Arbeiterpartei (PT) und der evangelikalen Partei der Sozialen Begegnung (PES).
López Obrador machte wissenschaftliche und politische Karriere in seinem Heimatstaat Tabasco, dem er als Professor an der Autonomen Universität (UAT) und als Abteilungsdirektor des Ministeriums zur Förderung des Staates Tabasco diente. In den späten 1970-er Jahren leitete er das Koordinationszentrum Chontal für Indigene Fragen in Nacajuca, wirkte anschließend als Direktor des Nationalen Plans für unterentwickelte Gebiete und marginalisierte Gesellschaftsgruppen und schließlich fünf Jahre lang als Beauftragter des Nationalen Instituts für Indigene Angelegenheiten (INI).
Ende der 1980-er Jahre schloss López Obrador sich der linken Fraktion “Corriente Democratica” (Demokratischer Strom) innerhalb der PRI an, die zum ersten Mal gegen die Vorgehensweise bei der Aufstellung offizieller Präsidentschaftskandidaten im Zusammenhang mit der Kandidatur des konservativ-korrupten Carlos Salinas de Gortari zum Nachteil des von der Gruppe favorisierten linken Bewerbers Cuauhtemoc Cárdenas Solorzano den Aufstand probte.
Im Jahr 1989 gründeten die Abtrünnigen die Partei der Demokratischen Revolution (PRD), zu derem Vorsitzenden López Obrador zunächst für den Bundesstaat Tabasco und anschließend für gesamt Mexiko gewählt wurde. Damit nicht genug, rief der mutmaßlich betrogene Gouverneurs-Kandidat zu einem Protestzug unter dem Motto “Exodus für Demokratie” auf und marschierte von der Hauptstadt Villahermosa mit 40.000 Anhängern bis zur weltweit bekannten Plaza de la Constitución von Mexiko-Stadt, auf der er am 11. Januar 1992 eine kämpferische Rede hielt.
Im Jahr 2000 bewarb sich López Obrador für das doppelte Gouverneurs- und Bürgermeister-Amt Mexiko-Citys, gewann die Wahl und erzielte mit 85 Prozent Zustimmung die höchste Popularitätsrate in der Verwaltungsgeschichte der Stadt. Während seiner Administration genossen zum ersten Mal Menschen über 70 Jahre eine Rentenversorgung, ferner wurden Hilfsprogramme für alleinerziehende Mütter, Behinderte, Arbeitslose, arme Bauern und Kleinunternehmer sowie medizinische Versorgung und kostenlose Medikamente für nicht sozialversicherte Familien und Schulmaterial für Studenten angeboten.
Der Bürgermeister ließ auch 126.000 Sozialwohnungen für die von seinen Vorgängern nicht entschädigten Opfer des Erdbebens von 1985 bauen, 16 neue Schulen errichten und die renommierte Autonome Universität von Mexiko-Stadt (UNAM) gründen, die die angesehene linke Tageszeitung La Jornada herausgibt. Zu der von ihm energisch bekämpften Korruption paarte sich ein zweites Programmziel: Austerität und Transparenz in der öffentlichen Verwaltung, weshalb AMLO nicht mit der Wimper zuckte und die Gehälter hoher Beamter radikal kürzen ließ.
Wegen dem einmaligen Auftritt und seinen Verdiensten verlieh ihm 2004 die Londoner Stiftung City Mayors den Titel des zweitbesten Bürgermeisters im Weltmaßstab. Dadurch ermutigt, veröffentlichte der geehrte und sozialbewegte Stadtverwalter im gleichen Jahr sein sechstes und relevantestes Buch,”Un proyecto alternativo de nación: Hacia un cambio verdadero” (Ein alternatives Projekt der Nation: Auf dem Weg zu einer echten Veränderung).
“Populismus”, der modische Vorwurf von rechts
López Obradors Sozialpolitik wurde von innen- wie außenpolitischen Gegnern als “populistisch” verschrien und ihm vorgehalten (siehe Unterstellungen gegen Wladimir Putin im Zusammenhang mit der Fußballweltmeisterschaft in Russland), „sein politisches Image auf Kosten des öffentlichen Haushalts” aufzupolieren. Der damals amtierende Präsident und ehemalige CEO von Coca-Cola Mexiko, Vicente Fox, hatte gerügt: „Hüten Sie sich vor dem Populismus, hüten Sie sich vor Verantwortungslosigkeit mit den öffentlichen Ausgaben, hüten Sie sich vor Paternalismus und Korporatismus, der parteipolitischen Verschwendung von Ressourcen”.
Irritiert hatte die Konservativen, dass López Obrador die vergleichsweise bescheidene Summe von umgerechnet 6 Milliarden Dollar für die fünf Jahre andauernden Sozialprogramme investiert hatte; dennoch eine Leistung, die niemals zuvor in einem anderen Landesteil der mexikanischen Republik erbracht worden war. Der populäre Ex-Bürgermeister konterte, es sei „ein fauler Trick, das Wenige, das den Armen gegeben wird, als Populismus oder Paternalismus zu bezeichnen”.
López Obradors Regierungsprogramm
„Die mexikanische Partei-Linke zeigte seltene Präsenz an der sozialen Basis, ganz zu schweigen bei der Ausarbeitung und Organisation alternativer Pläne und Programme”, kritisierte bereits von 15 Jahren Gilberto López y Rivas, Professor am Instituto Nacional de Antropología e Historia (La izquierda en México: problemas y perspectivas [1] – Nodo50, 18 de octubre de 2003). López y Rivas nannte nach wie vor aktuelle Herausforderungen wie die längst fällige Reform und Umstrukturierung der Streitkräfte, eine Politik für Herstellung, Vertrieb und Gebrauch von Arzneimitteln, die Probleme im öffentlichen Gesundheitswesen, die erhebliche soziale, ethische und politische Belastungen zur Folge haben, und die dringende Förderung einer Kultur der Toleranz und der Anerkennung der Grundrechte von Behinderten und sexuellen Minderheiten.
Fünfzehn Jahre danach scheinen diese Herausforderungen in López Obradors Regierungsprogramm aufzugehen. Der Wunsch des neuen Präsidenten und seiner Wähler ist die Befriedung und Versöhnung Mexikos. Als allererstes dürfte der siegreich Gewählte daher zu einer landesweiten “Revolution des Gewissens und des kritischen und solidarischen Denkens” aufrufen. Als eine seiner ersten Amtshandlungen nach seinem offiziellen Amtsantritt am 1. Dezember 2018 wird er der Korruption und der Mafia an der Macht den erbarmungslosen Kampf ansagen, allerdings diesmal nuancierter. López Obrador versicherte, dass er nach „Gerechtigkeit und nicht nach Rache” trachte.
Im gleichen Atemzug wird er das Präsidentengehalt seines Vorgängers Enrique Peña Nieto für sich selbst halbieren, er wird nicht in Sondermaschinen und Hubschraubern umherfliegen, sondern normale, kommerzielle Flüge nutzen. Der Generalstab der Streitkräfte wird nicht länger Teil des Präsidentenamtes sein, sondern vollständig in das Staatssekretariat der Nationalen Verteidigung aufgenommen werden. Nichts weniger als das erwarten die Wähler zum Auftakt seines sechsjährigen Mandats, der Präsidentschaftskandidat hat es immerhin während der Wahlkampagne versprochen (Así sería México si AMLO gana la Presidencia en 2018 – Nación 321, 03.Juni 2018).
Dann käme seine ehrgeizige Bildungspolitik an die Reihe. Mit seinem Minister für öffentliche Bildung wird López Obrador bekanntgeben, dass es nun keine selektiven Aufnahmeprüfungen an Schulen und Universitäten mehr geben wird: „Kein junger Mensch wird abgelehnt, wenn er öffentliche Schulen und Universitäten betritt. Im Klartext: Es wird eine 100-prozentige automatische Aufnahme geben”, hatte er unter anderem auf seiner von zigtausenden Menschen umjubelten Abschlusskundgebung erklärt.
Welche Pläne hat der Wahlsieger für Landwirtschaft und Ernährung? Es soll Unterstützung für einheimische Produzenten mit Subventionen und Krediten geben – Mexiko soll aufhören, Lebensmittel im Ausland zu kaufen. Ferner soll die Einfuhr von transgenem Saatgut verboten werden. Tatsächlich ist seine Idee, die Nahrungsmittel-Selbstversorgung zu erreichen, ein revolutionäres und schwieriges Projekt, doch er hat es versprochen.
Den eigentlichen politischen Zündstoff birgt jedoch seine Ankündigung, mit dem neoliberalen „Reform”müll seiner Vorgänger aufzuräumen. Seit Jahren kritisiert López Obrador Privatisierungen und Abbau der Rechte in der Arbeitswelt, in der Bildung, in der Steuer- und Energie-Politik. Doch will er den privatisierten Unrechtsstaat nicht mit seinem individuellen Federstrich liquidieren, „sondern die Menschen sollen mit öffentlichen Konsultationen und Referenden entscheiden, ob sie sie beibehalten oder rückgängig machen wollen” – ob das der mutige, der entschlossenste und kürzeste Weg ist, darüber streiten sich schon jetzt die Geister. Jedenfalls sollen die Privatisierungen des ehemals staatlichen Ölkonzerns Pemex und der Elektroindustrie aufgehoben, Raffinerien gebaut, die Gasförderung gefördert und die Industrie gestärkt werden. Es soll Schluss sein mit dem hirnrissigen Import von Benzin und anderen Kraftstoffen im Erdölland Mexiko.
Und was soll im Sicherheitsbereich passieren? Wie sollen die Narcos und ihre Killer erfolgreich bekämpft werden? Wann ist endlich Schluss mit dem Dahinschlachten von Mexikanerinnen und Mexikanern? Einerseits versprach der Sozialdemokrat, er wolle mit der von den USA oktroyierten Militarisierung des Staates aufräumen, verkündete jedoch andererseits, die Armee werde „nach und nach” in die Kasernen zurückkehren, weil – entgegen der Meinung und dem Drill durch die USA – die Streitkräfte nicht dazu da seien, als Polizei aufzutreten und das Volk anzugreifen, sondern um es zu schützen. Dennoch ist es der Plan des Präsidenten, auch langfristig solle eine Sonderbrigade des Heeres für die Innere Sicherheit ausgebildet und freigestellt werden. Dass die Armee diesen Befehl auch befolgen und die USA untätig zusehen werden, sollte ernsthaft bezweifelt werden.