Die Schlacht um Hodeida – Die letzte Lebensader des Jemen
Seit mehr als drei Jahren bombardiert eine von Saudi-Arabien geführte Koalition den Jemen mit dem Ziel, die Houthi-Rebellen, die große Teile des Landes kontrollieren, zurückzuschlagen und den illegitimen Exil-Präsidenten Abed Rabbo Mansur Hadi zurück an die Macht zu bringen. Mindestens 10.000 Menschen wurden seit März 2015 getötet, darunter über 8.000 Zivilisten, 45.000 weitere verletzt. Die UN spricht von der „schlimmsten humanitären Katastrophe der Welt“, denn neben Panzern und Raketen wird die Bevölkerung von zwei weiteren Geißeln geplagt: Der größten jemals dokumentierten Cholera-Epidemie mit 1,1 Millionen Infizierten sowie der historischen Hungerkatastrophe mit über 8 Millionen Menschen am Rande des Hungertods. 22 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen – 75 Prozent der Bevölkerung. Alle zehn Minuten stirbt ein Kind an Hunger oder problemlos vermeidbaren Krankheiten. Von Jakob Reimann.
Doch die aktuellen Ereignisse könnten dieses Elend noch dramatisch verschlimmern: Am Mittwochmorgen begann die Saudi-Koalition eine Großoffensive auf die Stadt Hodeida am Roten Meer, durch deren Hafen drei Viertel aller Hilfslieferungen ins Land kommen. Die UN warnt vor 250.000 Toten.
Die Seeblockade – ein Hafen als Kriegswaffe
Noch vor Aden – dessen weltberühmter Hafen im 19. Jahrhundert der zentrale Umschlagsort des British Empire auf dem Weg in die Kolonien war – ist Hodeida an der Rotmeerküste im Westen des Jemen die mit Abstand wichtigste Hafenstadt des Landes. Vor Kriegsbeginn im März 2015 importierte der Jemen 85 Prozent seiner Medikamente und 90 Prozent seiner Nahrungsmittel aus dem Ausland, wobei 80 Prozent aller Importe über den Hodeida Port abgewickelt werden. Die Saudi-Koalition wusste nur zu gut um die strategische Bedeutung des Hafens und bombardierte diesen bereits im August 2015, wobei die vier Hauptkräne zerstört wurden.
Zur physischen Zerstörung von Infrastruktur kommt eine umfassende Seeblockade, die die Saudi-Koalition mit tatkräftiger Unterstützung der USA seit dem Frühjahr 2015 gegen sämtliche Häfen des Jemen verhängt. Unter dem Vorwand, Waffenlieferungen an die Houthi-Rebellen zu unterbinden, wird ein Großteil ankommender Containerschiffe willkürlich abgewiesen, mit dem Ergebnis, dass innerhalb weniger Wochen der Import in den Jemen um 85 Prozent einbrach; selbst UN-Hilfslieferungen werden abgewiesen. Durch die extreme Warenverknappung steigen Nahrungsmittelpreise dramatisch und die katastrophale Hungerkatstrophe verschärft sich weiter. Das UN-Menschenrechtskommissariat bezeichnet die Blockade daher vollkommen zutreffend als völkerrechtswidrig und „schwerwiegenden Bruch grundlegender Menschenrechtsnormen“.
Nach einem Raketenangriff der Houthi-Rebellen auf den Riyadh Airport im November letzten Jahres – der von den Saudis vereitelt wurde – wurde als Strafmaßnahme die Blockade des Hodeida Port zu 100 Prozent implementiert, über Wochen lief kein einziges Schiff ein. UN-Nothilfekoordinator Mark Lowcock warnte bei einem Anhalten der Blockade vor „der größten Hungersnot, die die Welt seit vielen Jahrzehnten gesehen hat“, mit potentiell „Millionen von Opfern“. Auf internationalen Druck hin hob die Saudi-Koalition unter strengen Auflagen die Hodeida-Blockade geringfügig auf und gestattete zumindest kleinen Schiffen das Anlegen, der Bann auf Containerschiffe blieb jedoch bestehen, das erste und einzige dieser Art sollte erst ein halbes Jahr später einlaufen.
Und genau hier liegt die strategische Brisanz der Stadt und des Hodeida Ports: Er wird von der Saudi-Koalition als Kriegswaffe instrumentalisiert. Durch Lockerung oder Verschärfung der Seeblockade reagiert die Koalition auf aktuelle Kriegsentwicklungen oder provoziert diese aktiv. Mittels völkerrechtswidriger Kollektivbestrafung wird die jemenitische Bevölkerung vor Ort und in weiten Teilen des Landes somit als Faustpfand im Kampf gegen die Houthi-Rebellen missbraucht.
Der Angriff auf Hodeida beginnt
Der Feldzug der Houthi-Rebellen begann im Sommer 2014. Ausgehend von ihrer Hochburg in Sa’da im Norden des Landes zogen sie südwärts und eroberten innerhalb kürzester Zeit nahezu alle urbanen Zentren im bevölkerten Westen und Süden des Landes. Relativ unblutig wurde die Hauptstadt Sana’a im September 2014 eingenommen, die Hafenstadt Hodeida im Monat darauf. Im Frühjahr 2015 marschierten die Houthis erfolgreich bis nach Aden, der ehemaligen Hauptstadt des Südjemen, und standen im März auf dem Zenit ihrer territorialen Ausdehnung. Daraufhin begann am 26. März 2015 das erbarmungslose Bombardement der Saudi-Koalition. Nach heftigen Kämpfen wurden die Houthis im Juli aus Aden vertrieben und strichen auch in anderen Regionen Verluste ein. Es folgten Monate und Jahre erbitterter Kämpfe ohne nennenswerte Verschiebung der Frontlinien, bis sich zur Jahreswende 2017/18 die Kämpfe um die zentralen Knotenpunkte dramatisch zuspitzten: in Ta’iz, der Hauptstadt Sana’a – und in der Hodeida-Region.
In den letzten Wochen marschierten die Truppen der Koalition – ein Bündnis aus jemenitischem Militär, verschiedensten Hadi-treuen Milizen, Dschihadisten-Milizen und Truppen der Emirate am Boden, sowie Kampfjets der Saudi-Koalition und US-Drohnen in der Luft – auf Hodeida und eroberten dabei einen knapp 100 Kilometer langen Küstenstreifen am Roten Meer. In den vergangenen Tagen versammelte die Koalition wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt „Hunderte jemenitischer Kämpfer sowie Panzer und Militärgerät der Emirate“. Videos langer Konvois in die Region finden sich im Netz.
Nach Verstreichen einer von der Koalition gesetzten dreitägigen Frist an die Houthis, die Stadt bedingungslos zu verlassen, begann am Mittwochmorgen schließlich die Großoffensive.
Bis zu 250.000 Menschen könnten ihr Leben lassen
Derzeit leben rund 600.000 Menschen in der Hodeida-Region. Menschenrechtsorganisationen warnten die Saudi-Koalition eindrücklich vor einer Offensive, da diese zur größten Vertreibungswelle seit Beginn des Krieges im März 2015 führen würde. Bereits im Mai kam es zu ersten größeren Fluchtbewegungen, als Hunderte Familien vor den sich zuspitzenden Gefechten aus den Randbezirken in von den Houthi-Rebellen kontrolliertes Gebiet flohen. Die UN rechnet bei der soeben begonnenen Großoffensive auf Hodeida mit 340.000 Vertriebenen, die zu den bereits 2 Millionen Binnenflüchtlingen im Jemen hinzukommen würden (zu Peakzeiten waren es 3 Millionen).
Neben den direkten Folgen militärischer Gewalt hätte eine Großoffensive verheerende Sekundäreffekte, die sich aus der strategischen Bedeutung des Hodeida Port ergeben, durch den rund 80 Prozent aller Hilfslieferungen ins Land kommen. „Jede Unterbrechung dieser kritischen Lebensader könnte für Millionen von Jemeniten ein Todesurteil bedeuten“, konstatiert Abdi Mohamud, Jemen-Direktor von Mercy Corps, einer weltweit aktiven Hilfsorganisation. „Die Störung des Hodeida Port könnte jede Hoffnung zunichtemachen, eine noch größere humanitäre Katastrophe abzuwenden.“ Und Lise Grande, die UN-Koordinatorin für humanitäre Hilfe im Jemen, befürchtet, dass durch „einen militärischen Angriff oder die Belagerung von Hodeida“ bis zu 250.000 Menschen ihr Leben verlieren könnten. Dies sind die möglichen Dimensionen, die die Saudi-Koalition losgetreten hat.
Die jemenitischen Saba News berichteten bereits in den letzten Tagen mehrfach von Dutzenden Luftschlägen der Saudi-Koalition auf die Hodeida-Region, den Flughafen, den Hodeida Port, einen Viehmarkt, eine Farm, einen Marktplatz, sowie auf ein Boot der UN, wobei viele Zivilisten getötet wurden. Auch wurden drei US-Drohnenangriffe reportiert. Doch dies stellt nur das Vorgeplänkel der begonnenen Großoffensive dar, die entscheidende Frage ist nun die nach dem tatsächlichen Ausmaß des Blutbads.
Kein politisches Bauernopfer
Das Narrativ der Saudi-Koalition lautet in etwa, dass eine Großoffensive auf Hodeida die Houthis zum Einlenken bringe und so dem Frieden im kriegszerrissenen Jemen diene. „Die Befreiung der Stadt und des Hafens würde eine neue Realität erschaffen und die Houthis an den Verhandlungstisch bringen“, prophezeit Anwar Gargash, der Außenminister der Emirate. Es handelt sich hier jedoch schlicht um weltfremdes Wunschdenken, da sowohl die ökonomisch-strategische Position der Houthis – sie halten noch immer das wirtschaftsstärkste Kernzentrum des Jemen, die Hauptstadt Sana‘a – als auch die Natur der Houthi-Rebellion generell dieses Narrativ dekonstruieren. Auch der neue Jemen-Sonderbeauftragte der UN, Martin Griffiths, warnt daher in einer Rede vor dem UN-Sicherheitsrat unmissverständlich, ein Angriff auf Hodeida würde „mit einem einzigen Handstreich den Frieden vom Tisch fegen“.
Die Vereinten Nationen arbeiten unablässig daran, den Sturm auf Hodeida abzuwenden und verfolgen dabei zwei Strategien: Erstens intensivierte die UN kürzlich die Inspektionen sämtlicher Schiffe, die in den Hodeida Port einlaufen, um so die Vorwürfe der Koalition zu entkräften, über den Hafen würde Kriegsmaterial an die Houthis geschmuggelt. Zweitens war der Jemen-Sonderbeauftragte Martin Griffiths in den vergangenen Tagen zwecks Vermittlungsgesprächen vor Ort. Hochrangigen Houthi-Funktionären unterbreitete Griffiths den Vorschlag, den von ihnen kontrollierten Hodeida Port unter Kontrolle der UN zu stellen, sollten die Houthis sich aus der Stadt zurückziehen, und daraufhin umfassende Friedensgespräche einzuleiten. The Baghdad Post berichtet unter Berufung auf „politische Quellen im Jemen“, dass die Houthi-Führung bereit sei, dem Vorschlag der UN zuzustimmen.
Dies wäre in der Tat die bestmögliche aller Optionen und muss auch nach Beginn der Großoffensive weiterhin das Ziel bleiben. Die größten Gewinner wären die Menschen in Hodeida und im Jemen insgesamt, da die Blockade des Hafens – der letzten Lebensader des Landes – unverzüglich aufgehoben würde. Denn die Saudi-Koalition kann die zermürbende Seeblockade gegen internationalen Druck zwar erzwingen, wenn der Hafen von den nicht unbedingt beliebten Houthi-Rebellen kontrolliert wird, wäre jedoch die UN in der Verantwortung des Hafenbetriebs, würde die Saudi-Koalition ein Fortbestehen der Blockade politisch schlicht nicht überleben. Hilfslieferungen sowie reguläre kommerzielle Importe könnten in einem Maße ins Land gelangen wie seit über drei Jahren nicht. Erstmals gäbe es einen tatsächlichen Hoffnungsschimmer zur Überwindung der „schlimmsten humanitären Katastrophe der Welt“.
Der einzige „Verlierer“ dieses Szenarios wäre die Saudi-Koalition. Denn so zynisch und menschenverachtend es auch klingen mag: Die Kontrolle über das bittere Elend der Zivilbevölkerung – die Macht über das Daumen-Hoch oder Daumen-Runter – ist das größte Faustpfand im Arsenal der Saudi-Koalition, die politisch sonst kaum etwas anderes anzubieten hat; ganz im Gegensatz zu den Houthi-Rebellen, die all die eroberten Territorien als „Verhandlungsmasse“ zu Friedensgesprächen mitbringen können, allen voran die Hauptstadt Sana’a.
Die Schlacht um Hodeida hat begonnen, obwohl außer der Saudi-Koalition sie niemand will – nicht einmal die normalerweise engsten und treuesten Komplizen in den Verbrechen der Saudi-Koalition: die Regierungen Trump und May. Nicht dass die Schwächung der Houthis nicht auch passgenau ins geostrategische Konzept genannter Akteure passen oder die Abwendung menschlichen Leids eine allzu relevante Kategorie für diese darstellen würde, doch sind die absehbaren Konsequenzen einer Hodeida-Offensive derart katastrophal, dass sie nur ungern die politische Verantwortung mittragen würden. Für die Führung in Riad und Abu Dhabi steht nach bald dreieinhalb Jahren eines mörderischen, verlustreichen und teuren Krieges hingegen derart viel auf dem Spiel, dass der Sturz des so wichtigen Hodeida einfach zu verlockend ist.
Die UN sowie die mächtigsten Unterstützer der Saudi-Koalition – allen voran die USA, Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Kanada und Australien – müssen ihr gesamtes Gewicht in die Waagschale werfen, um ein sofortiges Ende der Hodeida-Offensive herbeizubringen und den absoluten Kollaps des Jemen noch abzuwenden. „Hodeida ist kein politisches Bauernopfer, das verschachert und mit dem gehandelt werden kann“, so Abdi Mohamud von Mercy Corps zornig: „Es ist die Lebensader für Millionen gewöhnlicher Jemeniten, deren blankes Überleben davon abhängt.“
Mehr Infos zum Krieg in der sechsteiligen Jemen-Reihe von Jakob Reimann.