Fragen zum Fall Skripal – Bundesregierung und Medien gehen auf Tauchstation
Die Zeichen verdichten sich, dass die Bundesregierung zum Zeitpunkt der Ausweisung russischer Diplomaten im Zuge der Skripal-Affäre sehr genau wusste, dass die britischen Vorwürfe gegen Russland, auf die auch Berlin sich damals öffentlich berief, unwahr sind. Dies geht zumindest zwischen den Zeilen aus einer nicht beantworteten Anfrage einer Gruppe von Abgeordneten der Linkspartei rund um Sevim Dağdelen hervor. Das Schweigen des Kanzleramts lässt eigentlich nur zwei Interpretationen zu, die beide ein sehr schlechtes Licht auf die Regierung werfen. Angela Merkel und Heiko Maas können sich glücklich schätzen, dass die großen Medien den Fall mittlerweile anscheinend zu den Akten gelegt und vergessen haben. Von Jens Berger.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Die Aufregung war groß, als eine Gruppe von Abgeordneten der Linkspartei am 9. April eine kleine Anfrage an die Bundesregierung richtete, deren Fragen zum Teil identisch mit den 64 Fragen der russischen Regierung waren, über die die NachDenkSeiten wenige Tage zuvor berichtet hatten. Der Tagesspiegel kanzelte die kritischen Abgeordneten sogleich als „Russlands Stimme im Bundestag“ ab, SPIEGEL Online fantasierte gar in alter Kalter-Krieg-Rhetorik etwas von „Putins Bollwerk in Berlin“. Wieder einmal hatten die Kollegen ihren Beruf falsch verstanden und verteidigten die Regierung in vorauseilendem Gehorsam und schrillen Tönen gegen kritische Fragen, anstatt diese Fragen selbst zu stellen.
Kurze Zeit später wurden sie jedoch vom gemeinsamen Rechercheteam von SZ, NDR und WDR eines besseren belehrt. Die Journalisten deckten Anfang Mai auf, dass auch der BND im Besitz des Nowitschok-Kampfstoffs war, der von den Briten als mutmaßliche Tatwaffe beim Anschlag auf die Skripals ermittelt wurde. Dies widerspricht jedoch im Kern dem einzigen(!) Indiz der Briten, das sie als Beleg für eine russische Täterschaft nennen können. Offiziell hieß es, dass nur Russland als Täter in Frage kommen könne, da nur Russland in Besitz dieser Substanz sei – eine klassische Lüge, wie die NachDenkSeiten in zahlreichen Artikeln belegen konnten. Durch die Recherchen von SZ und Co. und anderen mittlerweile ans Licht gekommenen Meldungen muss man davon ausgehen, dass neben Russland, mindestens auch Großbritannien selbst, Frankreich, Deutschland, die USA, Tschechien und Schweden über diese Substanz verfügt haben bzw. immer noch verfügen. Und da die Strukturformel öffentlich und die Synthese kein Hexenwerk ist, könnte jeder, der dies ernsthaft plant und über die nötigen finanziellen Mittel verfügt, den Nowitschok-Kampfstoff herstellen, der von den britischen Experten nachgewiesen wurde.
Dennoch hatte die Bundesregierung am 26. März als „Reaktion“ auf den vermeintlichen Skripal-Anschlag vier russische Diplomaten des Landes verwiesen und sich dabei explizit auf die britischen Erkenntnisse gestützt. Die einzige „Erkenntnis“ Großbritanniens, die auf eine russische Täterschaft hindeutete, war jedoch die Falschaussage, nur Russland verfüge über die analysierte Substanz. Berlin hat also auf Basis einer Falschaussage eine diplomatische Fehlentscheidung getroffen. Nun stellt sich die Frage nach dem warum und weshalb. Dazu gibt es genau zwei Interpretationsmöglichkeiten:
- Die Bundesregierung wusste von ihren Nachrichtendiensten, dass ihr eigener BND in Besitz der Substanz ist/war und zahlreiche andere Staaten ebenfalls. Dann war die Ausweisung ein vorsätzlich aggressiver Akt gegen Russland, der öffentlich mit einer Begründung gerechtfertigt wurde, von der man wusste, dass sie falsch ist; also einer „Lüge“.
- Die eigenen Nachrichtendienste haben der Bundesregierung vorsätzlich verschwiegen, dass der BND selbst in Besitz der Substanz ist/war und zahlreiche andere Staaten ebenfalls. Dann haben wir es hier mit einem eklatanten Versagen der Geheimdienste zu tun, die der Regierung in einer außen- und sicherheitspolitisch hochrelevanten Lage wichtige Informationen vorenthalten haben.
Suchen Sie sich aus, welche Variante Sie für wahrscheinlicher halten. In beiden Fällen haben wir es jedoch mit einem handfesten Skandal zu tun, der – wenn nötig im Rahmen eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses – aufgeklärt werden muss.
Die Anfrage der linken Abgeordneten wäre ein erster Schritt in diese Richtung. Doch sie wurde von der Regierung mit der Begründung abgelehnt, dass diese „Informationen in besonders hohem Maße das Staatswohl berühren und [die Fragen] daher selbst in eingestufter Form nicht beantwortet werden können“. Damit sind die Möglichkeiten des Parlaments erst einmal erschöpft. In einer funktionierenden Demokratie würden nun die Medien übernehmen und ihrer Rolle als Kontrollinstanz gemäß die Bundesregierung mit kritischen Fragen löchern und durch investigative Ermittlungen in die Ecke treiben.
Doch diese Funktion erfüllen unsere Medien leider nicht mehr. Auch die Medien des Rechercheverbunds greifen den Fall Skripal redaktionell seit Wochen nicht mehr kritisch auf und geben nur noch belanglose Agenturmeldungen wieder. Nur die Neue Osnabrücker Zeitung und das kritische Online-Medium Telepolis berichten überhaupt über die „Antwort“ der Bundesregierung auf die Anfrage der Parlamentarier. So können Merkel und Maas sich freilich unbeschwert zurücklehnen und den Skandal aussitzen. Denn ein Skandal, von dem kaum einer weiß, ist bekanntlich keiner. Und die Medien? Die werden bei nächster Gelegenheit sicher abermals die Regierung reflexartig in Schutz nehmen und Zweifler als Moskaus rote Knechte verunglimpfen.