Wahlen in Kolumbien – Lässt die Oligarchie die Wahl des potenziellen ersten linken Präsidenten zu?
Am Sonntag, dem 27. Mai, wählt nach Venezuela auch Kolumbien einen neuen Präsidenten. Von den rund 49 Millionen Einwohnern des Anden- und Karibik-Staates sollen insgesamt 36 Millionen Wahlberechtigte sich für einen Kandidaten entscheiden, der für die nächsten vier Jahre ihre Anliegen in sensiblen Bereichen wie Gesundheit, Bildung, Renten, Sicherheit und Umwelt ernstnimmt. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.
Vier Kandidaten liegen im Rennen. Nach den von konservativen Medien, einschließlich der spanischen El País verbreiteten Umfragen liegt Iván Duque, Kandidat des konservativen Uribismo, mit angeblich 37 Prozent der Stimmen 10 Punkte vor Gustavo Petro (27 Prozent), gefolgt von Sergio Fajardo (16 Prozent) und Germán Vargas Lleras (11 Prozent). Es ist bereits absehbar, dass Duque nicht die absolute Mehrheit erreichen wird und daher im kommenden Juni gegen Petro zur Stichwahl antreten muss.
Indes steht Petros Wahlbündnis “Colombia Humana” und dessen progressives Reform- und Befriedungsprogramm der kolumbianischen Gesellschaft unter massivem, medial verstärktem Beschuss der örtlichen Oligarchie, angeführt vom ultrakonservativen und mehrfach wegen seiner Involvierung mit Paramilitärs belasteten Ex-Präsidenten Alvaro Uribe. „Kolumbien ist ein Land, das ohne Zweifel die Linke fürchtet. Diese Wahlkampagne dreht sich um die Achse der Angst, dass jemand von der Linken an die Macht kommen könnte, und damit verbunden, dass wir mit Venezuela und dem ‘Castrochavismus’ in Verbindung gebracht werden könnten”, erklärte der Politologe Nicolás Díaz-Cruz (¿Por qué en este país nunca triunfó un candidato de izquierda y podrá Gustavo Petro romper esta tendencia? – Tele13/Chile, 23.Mai 2018).
Der Senator und radikale Gegner des Friedensabkommens mit der FARC, Uribe, erhielt bei den März-Wahlen zur Legislative mehr als 860.000 Stimmen, was ihn zum meistgewählten Politiker in der Geschichte Kolumbiens und seine Partei des sogenannten Demokratischen Zentrums zur stärksten Kraft im Zweikammer-Parlament machte. Die Agenda des Uribismo ist der Ausbau des Sicherheitsstaates, die Nicht-Anerkennung der venezolanischen Regierung und die Intensivierung der Beziehungen zu den USA, die in Kolumbien insgesamt 7 Militär-Stützpunkte besitzen.
Zielscheibe der herbeigedichteten Involvierung mit Venezuela und dem „Castro-Chavismus” ist selbstverständlich der ehemalige Guerillero und erfolgreiche Bürgermeister Bogotás, Gustavo Petro, dessen öffentliche Kritik an Venezuelas Präsident Nicolás Maduro den Uribismo nicht vor lächerlicher, aber zweckdienlicher Dämonisierung abhält; einer unter anderen Gründen, weshalb Petro eine Woche vor der Wahl vor Betrugsgefahr warnte und die Wahlbehörde einschaltete (Petro alerta de riesgo de fraude en elecciones presidenciales de Colombia – CNN, 21.Mai 2018).
Am 27. Mai 2018 stehen sich also „zwei Kolumbien” unversöhnlich gegenüber, warnt und bedauert der Politologe Díaz-Cruz: „Ein traditionelles Kolumbien – patriarchalisch, machistisch, konservativ, angeblich christlich orientiert und Status-quo-fixiert – und das andere Kolumbien, das mit neuen Werten gegen den Konservatismus ankämpft; ein Kolumbien der Bürgerrechte, des Schutzes sexueller Minderheiten, das sich ferner für eine umweltfreundliche Wirtschaft und soziale Integration verpflichtet”. Oder mit den Worten Gustavo Petros und einem Leitsatz der katholischen Befreiungstheologie ausgedrückt: „Ein Kolumbien mit bevorzugter Option für die Armen”.
Dennoch befürchten beide Lager einen gemeinsamen Feind: die Wiederholung der enormen Wahlenthaltung, die mit 59,9 Prozent in den letzten Präsidentschaftswahlen einen Rekordwert erreichte.
9.000 unbekannte Leichen und der ausgehöhlte Frieden
In rüdem Kontrast dazu mutet sonderbar bis unbegreiflich an, wie die ultrakonservative Oligarchie des Landes unberührt von Trauer und fern jedes genuinen Versöhnungsgefühls auf ihre eigene Geschichte und Landsleute blickt. Folgende Episode veranschaulicht ihre Abgebrühtheit.
Anfang Mai schreckten kolumbianische Forensiker die Weltmedien auf. Seit 2006 hätten die Übergangsjustizdirektion und das Technische Untersuchungskorps (CTI) der kolumbianischen Staatsanwaltschaft annähernd 9.000 Leichen von Opfern des langjährigen Krieges zwischen den Streitkräften im Verbund mit Paramilitärs gegen linksgerichtete Guerillas in 30 der 32 Landes-Departements ausgegraben und zum Teil exhumiert.
Die Ausgrabungen wurden vor allem durch Zeugenaussagen verschiedener krimineller Verbände und Kronzeugenregelungen mithilfe des 2005 vom kolumbianischen Parlament erlassenen “Gesetzes über Gerechtigkeit und Frieden” hervorgerufen, das die Demobilisierung rechtsgerichteter und in den Drogenhandel verwickelter Paramilitärs fördern soll.
„In zwölfjähriger Feldarbeit haben die Spurensuchgruppen 5.547 Gräber geortet und auf 13 Friedhöfen Ausgrabungen durchgeführt”, heißt es in einem Text der Staatsanwaltschaft. In anonymen Massengräbern seien 7.056 Leichen exhumiert worden, davon allein 1.235 im Department Antioquia; auf regulären Friedhöfen wurden ferner die sterblichen Überreste von 1.934 nicht identifizierten Personen gefunden. Trotz der Schreckensfunde soll es nach Bekanntmachungen des konservativen Präsidentschaftskandidaten und angeblichen Favoriten der Wählerumfragen, Iván Duque, in Kolumbien nur einen Teil-Frieden geben.
Die nach dem Ex-Präsidenten Alvaro Uribe benannte, alteingesessene Oligarchie des Uribismo fordert politische „Abrechnung”. Bei den Auftritten des schon vorab überzeugten Wahlsiegers kündigte Duque daher mehrfach an, er werde den Kern des Friedensabkommens der Regierung Juan Manuel Santos – Gerechtigkeit und politische Teilnahme der Ex-Guerillas – revidieren und stellte Massenprozesse in Aussicht, die einschlägige Führer und ehemalige Kämpfer der entwaffneten und zur politischen Partei mutierten FARC (siehe Kolumbien – Die Wahlen, das endlose Töten und die Aussichten für eine Mitte-Links-Regierung) kriminalisieren soll (Iván Duque: “No hay que hacer trizas los acuerdos con las FARC, pero sí modificaciones importantes” – El País, 18. Januar 2018).
Mit der jüngsten Verhaftung Seuxis Hernández‘, alias Jesús Santrichs, wegen angeblichem früheren Drogenschmuggels in die USA, und längst bevor überhaupt ein Wahlsieger feststeht, beeilte sich auch die abdankende Regierung Juan Manuel Santos mit ihrer Zustimmung zur wiedererwachten Justizverfolgung ehemaliger FARC-Kommandanten. Zwar stoppte am 17. Mai die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden die Auslieferung Santrichs an die USA, auf Druck von Washington erklärte die Regierung jedoch die Auslieferung für rechtens.
Worum geht es im Kampf Petros gegen Duque?
Uribe-Kandidat Iván Duque vertritt in erster Linie das überzogene Sicherheitsprogramm der Ultrakonservativen, das – verkürzt – mehr vom alten, nämlich harten Kurs in der Innen- und Außenpolitik fordert und damit als privilegierter Partner die US-amerikanische Trump-Administration hofiert. Duques Wahlkampagne propagierte ähnliche „100 Vorschläge“, wie sie Mentor Álvaro Uribe in den Wahlkampagnen von 2002 und 2006 dem Wähler verkaufte.
Allen voran die Nicht-Anerkennung des in leidlichen dreijährigen Verhandlungen zwischen der Regierung Juan Manuel Santos und der FARC erzielten Abkommens über Frieden, Gerechtigkeit und politische Partizipation der ehemaligen Guerilla. Mit Rückendeckung Uribes stellte Duque klar, dass jedes Agreement des Staates in dieser Sache für null und nichtig erklärt werde, womit der Friedensprozess samt seiner internationalen Vereinbarungen, u.a. mit Deutschland, im Falle eines Wahlsiegs Duques ernsthaft gefährdet ist.
Duque will auch in der Justiz, vor allem in verfahrenstechnischen Fragen, für „einheitliche Leitlinien und Kriterien der Rechtsprechung der Oberen Gerichte“ hart durchgreifen, was der Forderung des US-Department of Justice und seinem Bestreben für landesübergreifendes US-Strafrecht sehr entgegenkommt, jedoch mit diesem Eingriff seinem eigenen, ursprünglichen Programm widerspricht, das die Errichtung einer „chinesischen Schutzmauer zwischen Exekutive, Legislative und Justiz” versprach.
Darüber hinaus will Duque im Sinne des Internationalen Währungsfonds (IWF) und wie bereits in Brasilien und Argentinien geschehen, mit der Erhöhung des Rentenalters und der Beitragszeit einen Angriff auf die Sozialrechte seiner pensionierten und beitragszahlenden Landsleute starten sowie mit verstärkter Anlehnung des Nationalen Ausbildungsdienstes (SENA) an den privaten Sektor das kolumbianische Bildungssystem „den Bedürfnissen der Wirtschaft anpassen“. Zur Krönung der inneren Sicherheit soll die Truppenstärke (siehe NATO-Militärausgabenerhöhung) angehoben, die Militär- und Polizeikräfte verstärkt und deren Verbrechen nicht mehr von zivilen, sondern von Militärgerichten beurteilt werden.
Gustavo Petros Programm hingegen kontrastiert damit wie „der Schub der Veränderung”, so das Forschungsinstitut CELAG (Elecciones presidenciales en Colombia: Programas, continuidades y rupturas – 22. Mai, 2018). Bildung ist die zentrale Programmschiene des Präsidentschaftskandidaten von “Colombia Humana”.
Petro tritt ein für den Aufbau eines qualitativ hochwertigeren Bildungssystems, das auf allen Bildungsstufen, einschließlich der Universität, kostenlos und universell bei gleichzeitiger Anerkennung sämtlicher Arbeitsschutzrechte von Ausbildern und Lehrern angeboten werden soll. Als attraktive Verbindungsschiene zwischen Bildung und Kultur plant Petro die Errichtung eines Nationalen Rats für Wissen, Wissenschaft und Kultur, der direkt dem Präsidenten der Republik untersteht.
Die von Petro avisierte Gesundheitspolitik verlangt die Förderung und Dezentralisierung eines umfassenden Gesundheitssystems, mit Vorrang für Prävention und dem unbegrenzten Zugang zu Medikamenten. Die geforderte Abschaffung des sogenannten, “gesundheitsfördernden Unternehmens (EPS)” und die Einführung des ersten öffentlichen Gesundheitssystems wird im konservativ-neoliberalen Lager selbstverständlich als Flächenangriff gegen die bisherige und lukrative Privatisierung der medizinischen Versorgung interpretiert und entsprechend bekämpft.
Zudem schlägt der ehemalige Bürgermeister von Bogotá eine Rentenreform vor, die nicht das Rentenalter erhöht, sondern die Kluft zwischen Männern und Frauen, zwischen Bewohnern von Stadt und Land sowie zwischen ethnischen Gruppen und der allgemeinen Bevölkerung verringern und Leistungen wie die Mutterschaftsversicherung einschließen soll.
Einen besonderen Reizeffekt besitzt in der nach wie vor patriarchalisch geprägten kolumbianischen Gesellschaft Petros Regierungsprogramm der Genderparität. Dass Frauen künftig auf allen Ebenen der öffentlichen Verwaltung 50 Prozent der Ämter bekleiden sollen, ist ein Geschenk nicht allein an die Feministinnen und bringt einen Großteil des Landes auf die Palme. Es wäre nicht übertrieben, zu behaupten, Petro sei der erste “Kandidat der Frauen” in der hundertjährigen Geschichte der kolumbianischen Republik: Der Mann besitzt Einfühlungsvermögen, wahrscheinlich auch mit dem Zeitgeist abgesprochene ReferentInnen. Zu den neuen Frauenrechten sollen die Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs auf 24 Wochen sowie die gesetzliche Anerkennung von Heim-, Pflege- und Hausverwaltungsarbeiten der Frauen in der Familie und als Mittel wirtschaftlicher Ankurbelung anerkannt werden.
Als Land, das in den vergangenen Jahren mehr Erdöl förderte und exportierte als das Nachbarland Venezuela, schlägt Petros angepeilte Umweltpolitik gleichsam Wellen enthusiastischer Begrüßung und kopfschüttelnder Empörung. Der ehemalige Partisanenkämpfer plant nämlich den schrittweisen Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen und das Verbot von Fracking zugunsten einer Energie-Matrix aus nicht-konventionellen und erneuerbaren Energieträgern wie Sonne, Wind und Biomasse, womit Petro die Elektrifizierungsstufe des öffentlichen Verkehrs erhöhen will.
Der Kandidat, der von mehreren Experten als geschickter politischer Akteur anerkannt wird, hat zwar mittlerweile den herausfordernden Ton seiner Kampagne gedämpft, um Herzen und Hirne der Unentschiedenen zu gewinnen. „Es ist jedoch ein Rätsel, ob dies ausreicht, um einen seit Jahrzehnten anhaltenden Trend in Kolumbien zu brechen”, warnt der Politologe Diaz Cruz. „Dies ist ein Land mit einer hohen Konzentration von Reichtum und Macht, diese Kräfte nutzen ihre Macht gegen jedes Projekt, das ihre Privilegien bedrohen könnte, womit jedes seriöse linke Projekt in diesem Land auch verhindert wurde”.