Venezuela – Wahlen gegen Winde und Widrigkeiten
Am Sonntag, den 20. Mai, finden in Venezuela Präsidentschaftswahlen statt, deren Gewinner entweder den bisherigen sozialpolitischen Kurs der von Hugo Chávez initiierten „bolivarischen Revolution” fortführen oder – unerwarteterweise – unterbrechen und politisch mit einer Anpassung an die Erwartungen führender westlicher Länder umlenken wird. Die mit Massenaufmärschen, Straßensperren, gewaltsamen Überfällen auf Polizei und Zivilisten sowie ferner mit Terroranschlägen auf politische Gegner und öffentliche Einrichtungen von der konservativen Opposition seit 2016 eingeforderten Wahlen – eine Konfrontation, die mehr als 100 Menschen das Leben kostete – sind nun Fakt. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.
Der ursprünglich erst für Dezember 2018 geplante Termin war bei Jahresbeginn auf Antrag der verfassungsgebenden Versammlung (ANC) von der Wahlbehörde CNE überraschenderweise auf den 22. April vorverlegt worden. Unter lautem Protest der Opposition, jedoch auch von Politikern der amtierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PDSUV) wegen der äußerst eng bemessenen Frist für Vorbereitung und Umsetzung der Wahlkampagne kritisiert, wurden die Präsidentschaftswahlen mit Rücksicht auf einen einheitlichen Wahltermin, bei dem auch die Gemeinderäte und Abgeordneten der Legislative gewählt werden, schließlich auf den 20. Mai verschoben.
Obwohl aller Voraussicht nach ein Ablauf mit rigoroser Einhaltung demokratischer Spielregeln und Regularien zu erwarten ist, sind die venezolanischen Wahlen Gegenstand einer angeheizten Kontroverse, die über die Landesgrenzen des südamerikanischen Landes hinaus sich der Gemüter führender westlicher Politiker – allen voran Donald Trumps und seines State Departments – und sogar weltpolitischer Institutionen wie der Vereinten Nationen bemächtigt hat.
Kern des Anstoßes ist die Infragestellung der Legitimität der Präsidentschaftswahlen, da sie von der als ebenfalls „illegitim” bezeichneten ANC einberufen wurden, die sich über die exklusiven Befugnisse der zu politischer Bedeutungslosigkeit degradierten Nationalversammlung hinweggesetzt habe. In der Tat stößt nicht nur die Machtausstattung der ANC bei gleichzeitiger „Trockenlegung” der Nationalversammlung, sondern auch das zur angeblichen „Vermeidung von Partei-Doppelkandidaturen” von der Wahlbehörde zu Jahresbeginn erlassene Verbot des MUD als Wahlbündnis bei venezolanischen und internationalen progressiven Strömungen auf scharfe Kritik und Ablehnung.
Gleichwohl muss die Frage erlaubt sein, was blieb nach den parlamentarischen Coups in Paraguay, Honduras und Brasilien einem, wenn auch erratischen, jedoch immerhin demokratisch gewählten Präsidenten Nicolás Maduro anderes übrig, um einem mit Gewalt angedrohten Regime Change zu entgehen (siehe dazu Venezuela – Polarisierung bis an den Rand des Bürgerkrieges), der zwar auf der Straße geübt, jedoch von der konservativ dominierten Nationalversammlung Schritt für Schritt „parlamentarisch” eingefädelt wurde?
Maduro oder Falcón vorn? Windige Umfrageergebnisse
Die Präsidentschaftswahlen spalteten die konservative Opposition des MUD in einen rechtsextremen Block, der den Wahlboykott per Stimmenthaltung propagiert, und ein rechtes bis rechtsliberales Zentrum, in dessen Namen immerhin drei Kandidaten – Henri Falcón (Partei “Fortschrittliche Vorhut”), Reinaldo Quijada (“Politische Volkseinheit”) und Javier Bertucci (“Hoffnung auf den Wandel”) – gegen die Wiederwahl Nicolás Maduros antreten. Von den dreien ist Falcón der bestpositionierte Hauptherausforderer Maduros.
Allerdings ist im Hinblick auf das tatsächliche Wahlergebnis alles offen, derart kontrastierend klaffen die unterschiedlichen Meinungsumfragen auseinander. Nicolás Maduro und die wohltemperierte Wahlmaschine seines von der PDSUV und mehr als einem Dutzend linker Organisationen getragenen Wahlbündnisses “Frente Amplio de la Patria” (Breite Front fürs Vaterland) feiern seit Wochen den zur Wiederwahl antretenden Präsidenten als selbstverständlichen Sieger. Maduro beruft sich dabei auf eine Wählerenquete (ICS: Maduro consolidates reelection with 55.9% of the votes) des bisher kaum bekannten Meinungsforschungsinstituts International Consulting Services (ICS), das Maduro mit 55,9 Prozent der Wählerpräferenzen als unschlagbaren Sieger positioniert, gefolgt von Henri Falcón (25,5 Prozent) und Javier Bertucci (16,2 Prozent).
Eine Studie von Consultants 30.11, mit aktuellen Umfragen vom 26. April bis 6. Mai, prognostiziert ebenfalls einen Wahlsieg Maduros, jedoch mit erheblich abweichenden Zahlen. In diesem realistischer anmutenden Szenario dürfte Maduro seinen Herausforderer Falcón mit maximal 12 Punkten (48,4 Prozent gegen 36,3 Prozent) schlagen, gefolgt vom evangelikalen Pastor Bertucci, der Anfang Mai 11,7 Prozent der Stimmabsichten auf sich vereinigte, jedoch seitdem mit wöchentlichem Aufwärtstrend Falcón als Wahlfavorit der Opposition provoziert.
ICS will außerdem ermittelt haben, dass angeblich 67,5 Prozent der zwischen dem 20. April und dem 4. Mai Befragten sich an der Wahl beteiligen werden; eine optimistische Zahl, die ebenfalls mit einer zu erwartenden, wesentlich niedrigeren Wahlbeteiligung um die 50 Prozent kontrastiert.
Nach der Veröffentlichung von Maduros angeblichen Führungsergebnissen holte Henri Falcón zum Gegenschlag in den Medien aus. Am 10. Mai veröffentlichte das Institut Datincorp Umfragen mit Referenzdatum vom 9. April, die Falcón mit 34 Prozent vor Nicolás Maduro (22 Prozent) und Javier Bertucci (9 Prozent als angeblichen Präsidentschafts-Favoriten der Venezolaner positionieren (La guerra de encuestas y los porcentajes bailarines (III) – Tal Cual, 15. Mai 2018). Demnach summieren sich die unentschiedenen Wähler auf 16 Prozent, was einerseits auf eine zunehmende Polarisierung zwischen Maduro und Falcón, andererseits auf ein bisher ungeahntes Wählerpotenzial schließen lässt, das sich von den rechtsliberalen Predigten des Pastors Bertucci angezogen fühlt.
In einer weiteren, von Francisco Rodríguez, Wirtschaftsberater Falcóns, verbreiteten Wählerumfrage des Instituts Datanalisis vom 9. Mai führt Falcón mit 27,6 Prozent der Stimmabsichten, diesmal gefolgt von einem angeblich technischen Patt zwischen Bertucci und Maduro, mit jeweils 17,1 Prozent bzw. 16,7 Prozent der Stimmabsichten.
Der konservative Streit um den „Abstencionismo”
In einer ungewöhnlich scharfen Kritik an der vom rechten Rand des MUD in Venezuela propagierten Stimmenthaltung („Abstencionismo”) ging der Maduro-Gegner, ehemals linke chilenische Intellektuelle, emeritierte Professor der Universität Oldenburg und fachkundige, konservative Analyst der Politik Venezuelas Fernando Mires auch mit dem von den USA und ihren Verbündeten in der EU und der Gruppe von Lima geforderten Wahlboykott ins Gericht. „Die unberechenbaren Wege, die den MUD dazu veranlassten, das Wahlthema in der Dominikanischen Republik zu diskutieren, ohne einen einheitlichen Kandidaten in Betracht zu ziehen, ferner die von der Diktatur (sic!) abgelehnten Vorschläge nicht als Plattform für eine einheitliche Kandidatur zu nutzen und Enthaltung zu fordern, ohne eine Alternative aufzustellen …“, machten die politische Inkompetenz der extremen Rechten deutlich, schrieb Mires in seinem Blog “Polis“ (El abstencionismo y la culpa, 11. Mai 2018).
„Kann es etwas Widersprüchlicheres geben als eine Wahlvereinigung, die für Wahlzwecke geschaffen wurde – der MUD war immer nur das und nichts anderes – die zur Enthaltung aufruft? Ohne Wahlbeteiligung ist der MUD nicht der MUD. Die sogenannte Frente Amplio (der MUD und die zivilgesellschaftlichen Organisationen, die vom MUD abhängig sind) könnte nur eine gewisse Logik im Rahmen eines Wahlprozesses besitzen, wie dies bei allen Fronten unserer Zeit … der Fall war. Eine breite Front ohne Wahlen ist wie ein Fisch ohne Wasser … Allerdings verwandelte der MUD die breite venezolanische Front in eine abstinenz-orientierte Front; die erste in der Geschichte, die dazu geboren wurde, um untätig zu sein“, ironisiert Mires und rechnet mit den Rechtsextremen ab: „Enthaltung ist nicht nur Enthaltung. Die Enthaltung hat sich in die ´Kandidatur´ des MUD gegen die Kandidatur von Falcón verwandelt. Wenn die Stunde kommt, in der Stimmen und Enthaltungen gegeneinander aufgerechnet werden …, könnte der MUD seinen Sieg feiern. Ein Sieg über Falcón. Mehr noch: nicht etwa ein Sieg über Maduro“.
Der globale Wahlboykott
Misst man die Regierungen der USA und der EU nicht an ihren Worten, sondern an ihren Absichten, so scheint es hier im Grunde um eins zu gehen: nicht mehr Demokratie in Venezuela zu wagen und zu fördern, sondern um die scheindemokratische Prämisse der Nicht-Anerkennung der Regierung Nicolás Maduro.
Lächerlich bis hirnrissig ist dabei folgender Umstand. Nach dem von den Präsidentschaftskandidaten und der CNE unterzeichneten Abkommen über die Wahlgarantien hatten sowohl Nicolás Maduro als auch Henri Falcón darauf bestanden, dass die Vereinten Nationen die Wahlen als qualifizierter, kritischer Beobachter begleiten. Davor hatte der MUD während der Verhandlungen in Santo Domingo mit aller Vehemenz die Beobachtung der Vereinten Nationen als Garant freier und transparenter Wahlen gefordert.
Doch welch´ Überraschung! Als Henri Falcón sich vom MUD abspaltete und der Wahltermin näher rückte, hieß es plötzlich, „das oppositionelle Bündnis hat die UNO gebeten, die Wahlfarce nicht zu unterstützen“ (ONU reiteró que no participará como observador en las presidenciales – El Nacional, 25. März 2018). „Für eine UN-Beobachtungsmission brauchen wir überall, nicht nur in Venezuela, ein Mandat von einem Organ der Mitgliedsstaaten, das heißt im Klartext, dem Sicherheitsrat oder der Generalversammlung “, erklärte am 14. März Farhan Haq, Sprecher des Generalsekretärs der UNO, António Guterres.
Zu Recht wird in Venezuela vermutet, dass die Trump-Regierung im Bündnis mit der EU Druck auf die UNO ausübt, die Wahlen in Venezuela nicht mit Beobachtern zu assistieren und damit ihre „Legitimität“ in Frage zu stellen. Nach der skandalösen Pro-Trump-Wahlmanipulation durch Cambridge Analytics fasst sich doch jeder gescheite Mensch bei dieser Heuchelei an den Kopf.
Nicht anders auf Seiten der EU. Die Geschäftsführer der parlamentarischen “Arbeitsgruppen zur Unterstützung der Demokratie und der Wahlkoordination” des Europäischen Parlaments, David McAllister und Linda McAvan, haben der geplanten Anreise einzelner EU-Parlamentarier nach Venezuela das politische Mandat entzogen. Zur geplanten Wahlbeobachtung der Einheitlichen Linken in Venezuela erklärte das Europäische Parlament, es handele sich keinesfalls um eine Beobachtermission mit offiziellem Charakter. „Angesichts der Tatsache, dass die notwendigen Voraussetzungen für glaubwürdige, transparente und inklusive Wahlen nicht erfüllt sind […], wird das Parlament keine Beobachter zu den Wahlen entsenden”. Sollte ein Abgeordneter dennoch an der Wahl als Beobachter teilnehmen, werde er dies von sich aus tun. Auf keinen Fall dürfe er seine Anwesenheit mit dem Europäischen Parlament verbinden, weder durch Erklärungen noch durch Handlungen “, hieß es in der Erklärung (LA UE se desmarca de los eurodiputados que viajarán a Venezuela en calidad de observadores – ABC, 23.04.2018).