In Schönheit sterben ist auch keine Lösung
Lange hat es nicht gedauert, bis das inhaltlich überzeugende Thesenpapier einiger Linken-Politiker zur Einwanderungspolitik von den Anhängern der “Offene-Grenzen-Fraktion” auch formell unter Beschuss genommen wurde. In einer im Netz kursierenden Antwort, soll nun die “internationalistische, solidarische linke Perspektive in der Migrations- und Asylpolitik” wieder ins rechte Lot gerückt werden. Dabei sind die Argumente und Gegenthesen jedoch so naiv und weltfremd, dass man glatt auf den Gedanken kommen könnte, dass Teile der Linken gar keinen Erfolg an den Wahlurnen haben wollen, sondern es vorziehen, dass die Partei in Schönheit sterben solle. Ginge es um eine Splitterpartei aus dem Reigen der “Sonstigen” müsste man über ein solches Affentheater kein Wort verlieren; mit dem Abschied der SPD und der Grünen aus dem linken Lager ist die Linkspartei jedoch der einzige Hoffnungsschimmer am Horizont – und der darf nicht verglimmen, auch wenn einflussreiche Kader aus Partei und Medien dies offenbar anstreben. Von Jens Berger.
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Die Große Koalition huldigt der Schwarzen Null und betreibt offen eine Politik für die Belle Etage der Gesellschaft, während die große Mehrheit immer stärker unter steigenden Mieten, stagnierenden Löhnen und prekären Arbeitsverhältnissen leidet. Schulen, Universitäten und Kindergärten werden kaputtgespart und das Verteidigungsministerium kriegt von Jahr zu Jahr neue Rekordbudgets zur freien Verfügung gestellt. Zudem wird die Außen- und Sicherheitspolitik immer konfrontativer. Eigentlich sollte man meinen, dass die einzige Partei, die eine echte Alternative zu diesen Entwicklungen in der Hinterhand hat, in den Umfragen und an den Urnen tolle Ergebnisse vermelden kann. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Linke dümpelt in den Umfragen nach wie vor zwischen neun und zehn Prozent und kann offensichtlich nicht von den Rahmenbedingungen profitieren, die eigentlich für sie wie gemacht sind. Sicher; die guten Inhalte werden nicht immer optimal vermittelt. Der eigentliche Grund für die Unbeliebtheit dürfte aber eher die von einem Kreis um die Parteispitze forcierte Orientierung auf ein privilegiertes urbanes Wählersegment sein, das eigentlich von Lifestyle-Parteien wie Grünen und FDP ohnehin schon gut erschlossen ist – also der Teil der Belle Etage, der eine Solaranlage für die Fußbodenheizung im schicken Loft installiert, dabei jedoch ein schlechtes Gewissen hat, weil der Marmorboden von indischen Kindern gehauen wurde. Jeremy Corbyn hat seine Politik unter dem griffigen Motto “for the many, not the few” (auf deutsch: “für die Vielen, nicht die Wenigen”) organisiert. Ein Teil der Linkspartei scheint dieses Motto jedoch umgedreht zu haben. Die ausufernde Migrationsdebatte ist ein erschreckendes Beispiel dafür, was in Teilen der Partei falsch läuft.
Wenn die Parteivorsitzende Katja Kipping beispielsweise von offenen Grenzen für alle und einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle träumt, könnte man eigentlich eher glauben, ihr Ziel sei es, dem politischen Gegner Munition zu geben. Denn der gesamte konservative Block, inklusive der AfD, hat ja einen großen Erfolg dabei, beim Wähler den Eindruck zu erwecken, die einzige linke Partei im Bundestag sei von “linken Spinnern” und “Utopisten” durchdrungen, die Phantomdebatten über philosophische Fragen führen und auf die realen Fragen, die die Wähler beschäftigen, keine realen Antworten haben. Interessanterweise gestehen ja selbst die Wortführer der “Offene-Grenzen-Fraktion” ein, dass sich ihre “grundsätzlichen Forderungen nicht eins zu eins in Realpolitik umsetzen lassen”. Das ist richtig, aber warum verunsichert man dann große Teile der Wählerschaft mit solch utopischen Forderungen, die ohnehin nur für die B-Note taugen?
Im schicken Kreuzberger Loft lässt es sich gut über offene Grenzen für Alle philosophieren. Schließlich sind wir ja auch “in vielfacher Weise die Nutznießer einer ungerechten Weltwirtschaftsordnung, die auf anderen Erdteilen für Zerstörungen der individuellen Lebensgrundlagen sorgt”, wie der Autor es formuliert. So gesehen stellt natürlich jeder Migrant, der seinen Weg zu uns findet, ein Stück ausgleichende Gerechtigkeit dar. Die Bekenntnis zu offenen Grenzen als Ablass für die zivilisatorischen Sünden der ersten Welt? Dies ist eine sehr elitäre Sicht der Dinge, da der Preis für die Reinwaschung von den Sünden nicht von den Eliten selbst, sondern von der Masse bezahlt werden muss. Es ist naiv anzunehmen, dass sich auch ein deutscher Arbeiter über offene Grenzen und den dann zu erwartenden Zustrom von Migranten freut und sein Kreuz liebend gerne bei einer Partei machen würde, die dies fordert. Und auch der von der Abstiegsangst zerfressene Facharbeiter oder die gar nicht mal schlecht verdienende, aber verunsicherte Angestellte gehören in der Regel erst einmal nicht zu denen, die Zuwanderung positiv sehen. Darüber mag das Bildungsbürgertum nun die Nase rümpfen … ändern wird sich dadurch auch nichts.
Wir haben es hier nicht nur mit einer Phantomdebatte, sondern mit einer elitären Phantomdebatte zu tun. Der promovierte Soziologe, der kündigungssicher im öffentlichen Dienst tätig ist und seine schöne Wohnung mitten im Kiez hat, konkurriert schließlich nicht mit Einwanderern. Es ist eher unwahrscheinlich, dass er durch einen mazedonischen “Billig-Soziologen” ersetzt wird und die Gefahr, dass Migranten aus Afrika die Mietpreise für die schicken Lofts auf dem Prenzlauer Berg in die Höhe treiben, geht auch gegen null. In einer solchen Situation ist es natürlich billig, offene Grenzen für alle zu fordern. Die Dumpinglöhne für Küchenhelfer sind weit, weit weg. Die heruntergekommenen Mietskasernen in den Trabantenstädten ebenso.
Besonders negativ fällt in diesem Zusammenhang auch die überhöhte moralische Positionierung der “Offene-Grenzen-Fraktion” aus. Wir sind qua Zugehörigkeit zur ersten Welt die Täter und dürfen uns doch um Himmels Willen nicht von den Opfern abschotten. Wer “den Menschen” helfen will, darf sie nicht aussperren. Und am Ende hilft dies ja vor allem den progressiven Kräften, so die verquere Logik des Antwortschreibens …
Es [das Thesenpapier] ignoriert damit die Feststellungen der neueren Migrationsforschung, die Migration als Ausdruck eines Kampfes sieht: Des Kampfes nämlich der „Subalternen der Welt“, die die herrschende Unrechtsordnung herausfordern und dadurch auch hierzulande Kräfte für gemeinsame, emanzipatorische Kämpfe freisetzen können.
So sieht dann also unsere Zukunft aus: Dank der globalen Reservearmee an Arbeitswilligen sinken unsere Löhne noch stärker, aber dafür können wir dann zusammen mit “den Subalternen der Welt die herrschende Unrechtsordnung herausfordern” und Hand in Hand mit Migranten auch hierzulande “emanzipatorische Kräfte” freisetzen. Was geht Ihnen bei der Lektüre solche Sätze durch den Kopf? Würden Sie eine Partei wählen, die derlei Unfug publiziert?
Wählerbeschimpfung ist ja in Kreisen der hohen Politik nicht unüblich. Die “Offene-Grenzen-Fraktion” der Linkspartei ist offenbar von der hiesigen Bevölkerung mächtig genervt. Mit „unseren“ Subalternen ist kein Staat zu machen, da muss die Initialzündung schon von außen kommen. Zumindest den Kampf der „Phrasenhaftigkeit solch hohler Bekenntnisse“ hat die Kipping-Fraktion jedenfalls gewonnen.
Geht es nach dem Autor, sei nicht der “nationale Burgfrieden”, sondern der “proletarische Internationalismus” die Antwort auf die “ungerechte Weltordnung”. Vorschläge, wie die Rechte der Arbeiter in den Ländern, aus denen die Migrationswilligen stammen, gestärkt werden können, findet man im Schreiben freilich vergebens. Auch die Minimierung von Fluchtursachen, die Bekämpfung der Push-Faktoren, scheint für die “Offene-Grenzen-Fraktion” kein großes Thema zu sein. Und “international” ist an dieser Spaltbewegung schon gar nichts. Sämtliche international erfolgreichen Politiker aus dem linken Spektrum lehnen die naive Vorstellung offener Grenzen entschieden ab. Das fängt bei Jeremy Corbyn an, geht bei Jean-Luc Mélenchon und Sahra Wagenknecht weiter und endet bei Bernie Sanders. Den inhaltlichen Aspekten der Gegner ist auch nicht zu widersprechen, aber die epische Schwäche der Argumentation der “Offene-Grenzen-Fraktion” lässt ohnehin Zweifel, ob es ihr überhaupt um die Sache als solche geht und Normaldenkenden hängt diese zu nichts führende Debatte ohnehin seit langem zum Halse heraus.
Die entscheidende Frage bleibt daher: Was soll das Ganze? Warum kämpft ein kleiner, aber sehr einflussreicher Kreis rund um die Parteivorsitzende Kipping so verbissen um Formulierungen einer Debatte, die ja selbst nach eigenem Bekenntnis überhaupt nicht real von Bedeutung ist? Die Antwort darauf überrascht nicht: Es geht hier nicht um die Sache, sondern um einen Machtkampf. Anfang Juni findet in Leipzig der 6. Parteitag der Linkspartei statt und es ist leider zu erwarten, dass Katja Kipping die Bühne nutzt, um die Partei programmatisch und personell nach ihren Vorstellungen umzugestalten und ihr dabei – vorsätzlich oder nicht – den Todesstoß zu verpassen. Dabei ist ihr jedoch noch die Fraktion mit der realpolitisch aufgestellten Doppelspitze Wagenknecht und Bartsch im Weg. Es geht also nicht um die abstrakte Frage, wie viele Engel auf eine Nadelspitze passen, sondern um die sehr reale Frage, wie sich die Linke künftig programmatisch und personell aufstellt und schlussendlich sogar um die Frage, ob sie als Partei erhalten bleibt. Das Thema offene Grenzen ist also nicht nur eine Phantomdebatte, sondern auch ein Ablenkungsmanöver.
Dabei liegt die Lösung doch eigentlich auf der Hand. Linke Politik muss positive Visionen transportieren und gleichzeitig die Interessen und Sorgen des Volkes realpolitisch ernstnehmen. Und natürlich muss sie auch klar kommunizieren, was Vision und was eine ernstgemeinte reale politische Forderung ist. Nur dann kann die Linke auch bei den Wählern punkten. Wenn die Linke sich stattdessen in Utopien verliert und den Bürgern nur den Traum von einem System in Aussicht stellt, das sie selbst nicht richtig erklären kann und das die Mehrheit der Bürger überdies gar nicht haben will, wird sie über kurz oder lang in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Und damit könnten wir dann jede Hoffnung auf einen progressiven Wandel aufgeben. Ist es das, was die „Offene-Grenzen-Fraktion“ will? Oder spielt sie „nur“ mit dem Feuer, um eine zu beliebte Fraktionsvorsitzende zu schassen? Dann sollte sie aber aufpassen, denn schon so manch anderer hat sich beim Zündeln die Finger verbrannt.