Atom-Deal, Winterkorn und Wirtschaftskrieg: Das Gebaren der US-Weltjustiz ist infam – birgt aber Chancen zur Distanzierung
Die USA wirken durch ihre nationalen Gerichte in fremde Länder hinein. Das ist – auch wenn es wie im Fall Winterkorn „die Richtigen“ trifft – anmaßend. Nun fordert der deutsche US-Botschafter, dass deutsche Firmen den Iran verlassen. Mit dem zunehmenden Verlust der Meinungsführerschaft wird dieses Verhalten zu einem Risiko für die USA – und zu einer Chance für Europa, sich auch offiziell von den USA zu distanzieren. Von Tobias Riegel.
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Was sollte man dagegen haben, dass die Deutsche Bank in den USA hohe Strafen für ihr offensichtliches Fehlverhalten zahlen muss? Dass mutmaßlich korrupte FIFA-Funktionäre wegen US-Ermittlungen keine ruhige Minute mehr haben? Dass aktuell der ehemalige VW-Manager Martin Winterkorn vom US-Geheimdienst FBI gejagt wird? Zunächst gar nichts. Vorverurteilungen verbieten sich, aber dass die oben Genannten wie alle Bürger vor Gericht gezerrt werden können, ist zunächst zu begrüßen.
Das moralische und politische Dilemma entsteht erst dann, wenn nicht unbefangen Straftaten verfolgt werden, sondern selektive Verdikte gegen wirtschaftliche oder geopolitische Konkurrenten verhängt werden. Kurz: Die hohen und für sich genommen berechtigten US-Strafen gegen deutsche Banken wären nur dann auch politisch-moralisch ausgeglichen, wenn dieselbe Strenge große US-Banken treffen würde. Aus den gleichen Gründen kann man zwar darauf anstoßen, dass nun Winterkorn (endlich!) verfolgt wird – man sollte sich aber bewusst sein, dass es dabei nur bedingt um den ehrlichen Kampf gegen Korruption und gegen „Die da oben“ geht.
US-Ermittlungen als Teil des Wirtschaftskriegs
Die Ermittlungen nationaler US-Gerichte gegen die deutsche Autoindustrie, gegen europäische Banken und gegen den Weltfußballverband FIFA – um nur drei Beispiele unter vielen zu nennen – sind Elemente in einem Wirtschaftskrieg zwischen den USA und der EU, sie sind mutmaßliche Strafmaßnahmen für ungebührliches Verhalten, beispielsweise auf dem Energiesektor. Hier bekämpfen sich „Die da oben“ gegenseitig. Dass es mit Winterkorn und der Deutschen Bank „die Richtigen“ trifft, ist eher ein Zufallsprodukt – die deutsche Industrie wäre bei politischem Wohlverhalten Deutschlands mutmaßlich nicht in den Fokus der US-Justiz geraten.
Darum ist auch die hierzulande vor allem durch „Bild“-Zeitung und „Spiegel“ gestützte Selbstdarstellung der USA als die „letzten Kämpfer gegen Korruption und Autokraten“ schwer zu ertragen. Die Ermittlungen folgen egoistischen nationalen Motiven. Dass für diese Ermittlungen illegal in Deutschland gesammeltes Material der NSA mutmaßlich zum Einsatz kommt, ist ein bedenklicher Nebenaspekt.
Nationale Rechtsprechungen unterliegen „Lex USA“
Viele Länder mussten seit dem Zweiten Weltkrieg lernen, dass es zwar nationale Rechtsprechungen gibt, dass aber ein „juristisches“ System existiert, das noch darüber steht: das der USA. Das haben in jüngerer Vergangenheit unter vielen anderen Ländern Argentinien, Russland und China erlebt. Und das sind nur die offiziellen juristischen Angriffe auf andere Länder – verdeckte gewalttätige Einmischungen wie in Syrien, offene Angriffskriege wie gegen den Irak oder finanzpolitische Attacken wie aktuell gegen Venezuela stehen zusätzlich auf einem anderen Blatt.
Relativ neu ist, dass nun auch europäische Firmen und Staaten ins Visier dieser globalen US-Juristen geraten sind. Das „Handelblatt“ führte einst neben den Strafen für die Deutsche Bank etwa die Sanktionen gegen den französischen Zugbauer Alstom an, der eine Geldstrafe von 772 Millionen Dollar auferlegt bekam, weil er gegen US-Anti-Korruptionsgesetze verstoßen haben soll. Oder die Strafe von 787 Millionen, welche die Crédit Agricole bezahlen musste, weil sie US-Sanktionen verletzt haben soll, oder die 398 Millionen, die vom Ölkonzern Total wegen „Korruption“ verlangt wurden. Aus Deutschland erwähnt das Blatt neben den Banken auch den Siemens-Konzern, der wegen des gleichen Vergehens 800 Millionen Dollar bezahlen musste.
Diese Strafen sind, wie gesagt, mutmaßlich gerechtfertigt und dieser Text fordert keineswegs einen grundsätzlichen Schutz für eine nationale Industrie oder gar ihre Bosse. Man könnte sogar begrüßen, dass nun auch große Industriestaaten das schmecken müssen, was Länder etwa in Lateinamerika schon seit Jahrzehnten ertragen – man sollte sich aber gleichzeitig fragen, wem mit einer solchen „Gleichbehandlung“ gedient ist. Sicher finden sich auch zahlreiche Beispiele, bei denen Deutschland unterlegene Länder traktiert hat. Für die moralische Einordnung der US-Klagen und das Verständnis ihrer geopolitischen Bedeutung ist der Hinweis auf den Zusammenhang zwischen den Strafen und dem Wirtschaftskrieg aber unerlässlich.
Mit der Meinungshoheit zerfällt die Gefolgschaft
Solange die Meinungshoheit verteidigt werden konnte, war gegen die Versuche der USA, mit an US-Gerichten ergangenen Urteilen in fremde Länder hineinzuwirken, wenig auszurichten. Meist konnten durch intensive Berichterstattung die eindeutigen Bilder eines Kampfes Gut (USA) gegen Böse, Demokrat gegen Autokrat, Saubermann gegen Oligarch erzeugt werden. Mit diesen Bildern konnte lange Zeit die Gefolgschaft bei westlichen Gesellschaften sichergestellt werden – selbst bei so infamen US-Urteilen wie jenem, das Argentinien 2012 den Investmentfonds ausgeliefert hatte.
Doch diese Zeiten sind vorbei. Die US-amerikanische Meinungsdominanz in Deutschland ist im Begriff, sich aufzulösen, das Bürgervertrauen in die Medien schwindet dramatisch, weite Teile der tendenziösen Berichterstattung wirken nicht mehr. Außerdem richten sich die Maßnahmen der USA nun nicht mehr nur gegen kleine ferne Länder, sondern auch gegen die EU und Deutschland – Wirtschaftsräume, die sich potenziell wehren könnten – auch propagandistisch.
In dieser Situation können anmaßende US-Urteile zur Gefahr für die USA werden: Es nähert sich der Moment, in dem das Fass überlaufen könnte, und allzu dreistes US-Verhalten zu einer Abkehr der EX-Vasallen und zu deren Solidarisierung untereinander führt. Die Meinungen über den Zeitpunkt gehen auseinander – aber der Gedanke, dass der Moment des (auch offiziellen) Bruchs der deutsch-amerikanischen „Freundschaft“ eher früher als später kommen wird, ist weit verbreitet.
US-Hardliner und US-Kritiker befördern deutsch-amerikanische Scheidung
Nun gibt es einen neuen US-Vorstoß, der das Zeug hat, den deutsch-amerikanischen Graben noch einmal zu vertiefen, und dadurch die EU-USA-Entfremdung auch den europäischen Bevölkerungen noch deutlicher vor Augen zu führen: Seit Wochen wird in deutschen Medien die Devise ausgegeben, eine Aufkündigung des Iran-Atomdeals durch die USA sei ein Frontalangriff auf die EU-Volkswirtschaften. Nun wurde durch die USA nicht nur diese Aufkündigung vollzogen. Der neue US-Botschafter in Deutschland, Richard Grenell, legt öffentlich noch eine Schippe drauf und fordert forsch den Rückzug der deutschen Wirtschaft aus dem Iran: Deutsche Unternehmen, die im Iran Geschäfte machten, sollten diese “sofort runterfahren”, schrieb er auf Twitter:
As @realDonaldTrump said, US sanctions will target critical sectors of Iran’s economy. German companies doing business in Iran should wind down operations immediately.
— Richard Grenell (@RichardGrenell) 8. Mai 2018
Dass diese Forderung kaum hinnehmbar ist, weiß auch der US-Botschafter und jene Menschen, die diese Twitter-Nachricht konzipiert haben. Sie wissen zudem, dass eine so rüde formulierte Botschaft den deutschen US-Gegnern in die Hände spielt. Ob absichtsvoll oder unbewusst: Durch solche Gesten arbeiten die US-Hardliner aktuell Hand in Hand mit den europäischen US-Kritikern an der offiziellen Scheidung zwischen Europa und den USA.