Linkspartei auf der Kippe: Der Machtkampf sollte jetzt entschieden werden
Beim Konflikt in der Linkspartei haben sich Unterstützer von Parteichefin Katja Kipping kürzlich erneut mit großen Medien gegen Fraktionschefin Sahra Wagenknecht verbündet. Mitglieder aus dem Spektrum Wagenknechts haben unterdessen ein interessantes Papier zur Einwanderung vorgelegt. Beim Parteitag im Juni sollten die Delegierten endlich den Mut finden, den destruktiven Machtkampf zu entscheiden – zugunsten Wagenknechts. Von Tobias Riegel.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Die gegnerischen Flügel der Linkspartei laufen sich derzeit warm für die Auseinandersetzung beim Leipziger Parteitag im Juni. Die Unterstützer der Parteichefin Katja Kipping machten den Aufschlag in dieser neuen Runde des Machtkampfes: Seit vergangener Woche stechen sie erneut Interna an die Medien durch, um Fraktionschefin Sahra Wagenknecht anzugreifen. Diese Zusammenarbeit zwischen Wagenknecht-Gegnern und neoliberalen Redakteuren war in jüngerer Vergangenheit schon mehrfach zu beobachten. Zudem musste sich Wagenknecht kurz zuvor vom gleichen Medienpersonal als “Putins Bollwerk” bezeichnen lassen. Das alles folgt auf zahlreiche Angriffe des Kipping-Flügels auf Wagenknecht in den letzten Monaten.
Auf der anderen Seite hat sich unterdessen eine 20-köpfige flügelübergreifende Gruppe mit einem überfälligen Papier zu den Themen Flucht einerseits und Einwanderung andererseits in Stellung gebracht. Dort steht viel Selbstverständliches, was jedoch wegen der intensiven Emotionalisierung der Flüchtlingsdebatte durch den Kipping-Flügel durchaus sensationell klingt, wenn es aus der Linkspartei kommt: „Unbegrenzte Schutzgewährung für Not ist etwas anderes als eine unbegrenzte Einwanderung, die auch all diejenigen einschließen würde, die lediglich ein höheres Einkommen erzielen oder einen besseren Lebensstandard genießen wollen.“ Bei dieser Art Migration hätten „die Aufnahmeländer ein Recht zur Regulierung der Migration“. Auch in der UN-Menschenrechtscharta sei kein universales Einwanderungsrecht verankert. „Ein Recht auf globale Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit gibt es de facto nicht und wird es in absehbarer Zeit nicht geben.“ Die von Kipping vertretene Philosophie der “Offenen Grenzen” wird hier kurzerhand begraben.
Eine Welt ohne Grenzen ist eine radikale Horror-Vision
Die getrennte Betrachtung von Flucht und Einwanderung wurde von neoliberalem Personal in der Linkspartei lange verweigert, was ein Grund für die bestehenden irrationalen Parteipositionen zum Thema Migration ist, Stichwort: offene Grenzen “für alle”. Auch wenn noch nicht alle Thesen voll durchdacht sind: Dass die Gruppe um Fabio De Masi, Jutta Krellmann und Ralf Krämer diese Trennung nun öffentlich in ihrem Papier einfordert, ist ein erster Schritt, um die Linkspartei von einigen pseudolinken und naiven Positionen zu Einwanderung und Nationalstaat zu befreien. Denn eine Welt ohne Grenzen ist alles andere als eine linke Utopie – es ist eine wirtschaftsradikale Horror-Vision.
Die Philosophie der “Offenen Grenzen” entstammt den Schreibstuben neoliberaler Thinktanks, und es ist rätselhaft, wie dieses staatsfeindliche Denken in der Linkspartei so dominant werden konnte. Das neue Thesenpapier gibt auf die kurzsichtige Ablehnung des Nationalstaats durch den Kipping-Flügel die richtige Antwort: “In einer Weltordnung, die vom globalisierten neoliberalen Kapitalismus dominiert und in Territorialstaaten organisiert ist, kann nur der unvermeidlich im Kern nationalstaatlich organisierte Sozialstaat als Instanz einer humanitären und sozialen migrationspolitischen Praxis fungieren.”
In dem Papier finden sich zahlreiche weitere “ketzerische” Passagen: “Grenzkontrollverfahren sind nicht per se gewaltsam oder menschenfeindlich.“ Ohne Grenzmanagement seien Staaten „hilflos gegenüber der international organisierten Kriminalität und dem Terrorismus“. Außerdem seien “gegenwärtig” die Bedingungen für “offene Grenzen für alle” nicht gegeben: “Wir brauchen realistische Zwischen- und Übergangslösungen, die uns diesem Ziel näherbringen.“ Diese müssten aber „den abhängig Beschäftigten und dem weniger privilegierten Teil der Gesellschaft vermittelbar sein“.
Die Autoren fordern zudem mehr Hilfe für die Herkunftsländer, um die Flüchtlingsbewegungen gar nicht erst entstehen zu lassen: „Mit den gleichen finanziellen Aufwendungen kann in den Herkunftsländern oftmals ein Vielfaches dessen für die Verbesserung der Lebenssituation erreicht werden, was man hierzulande damit bewirken würde“. Und sie räumen auf mit dem neoliberalen Mythos von der prinzipiell positiven Migration: „Unregulierte Arbeitsmigration bietet keine Lösungsperspektive für das Elend der Welt, sondern läuft faktisch auf die Privilegierung kleiner mobiler Minderheiten hinaus.“
Frontaler Angriff auf die Position von Katja Kipping
Die Thesen sind ein frontaler Angriff auf die Positionen der Parteispitze um Chefin Katja Kipping. Es erscheint darum nicht zutreffend, dass das Papier, wie die “taz” schreibt, “eine Brücke zwischen den bisherigen Polarisierungen in der Partei zwischen der Parteispitze um Katja Kipping, die für offene Grenzen, und Fraktionschefin Sahra Wagenknecht, die für eine eher restriktive Einwanderungspolitik eintritt, schlagen könnte”. Dieses Papier ist keine Brücke, es sucht nicht den Ausgleich – und genau darum ist es zu begrüßen. Denn die klar formulierten Thesen lassen die Positionen der Parteispitze endgültig als reaktionär und marktschreierisch erscheinen.
Eine erste Reaktion aus der Linkspartei lässt wenig Gutes erwarten, was die Debattenkultur um das Papier angeht: „Die soziale Regulierung der internationalen Bewegungen von Kapital-, Waren- und Dienstleistungen (können) gerade im Zeitalter der Digitalisierung – zumindest aus meiner Sicht – besser und sinnvoller europäisch oder weltweit denn nationalstaatlich gelingen“, schreibt Halina Wawzyniak mit entwaffnender Naivität auf ihrem Blog. Bereits durch ihre Überschrift „Diskursverschiebung nach Rechts“ setzt sie die diffamierende Stoßrichtung der nun mutmaßlich einsetzenden Argumentation: Das Papier kritisiert die „Offenen Grenzen“ und sorgt sich gar um die Situation deutscher Arbeitnehmer – die Autoren gehören also in die rechte Ecke gestellt . Es ist nicht ausgeschlossen, dass bald der erste Genosse die Verfasser des Papiers als „national-sozial“ diffamiert, wie es sich Wagenknecht schon oft in infamer Weise bieten lassen musste.
Es sollte solchen Angriffen des Kipping-Flügels gegen Wagenknecht-Vertraute endlich etwas entgegengesetzt werden. Bei dem Parteitag im nächsten Monat sollte darum nicht nur eine andere Parteispitze gewählt werden. Hier sollte auch versucht werden, den Machtkampf der verfeindeten Flügel um Wagenknecht einerseits und Kipping andererseits endlich zu entscheiden. Doch es ist ja schon fraglich, ob die Delegierten den Mut haben werden, die jetzige destruktiv agierende Parteispitze auch nur in die Schranken zu weisen – etwa, indem sie Jörg Schindler als Bundesgeschäftsführer verhindern.
Die Chancen für ein deutliches Zeichen gegen Kipping sind schwer einzuschätzen – trotz des parteiübergreifenden Respekts für Wagenknechts intellektuelle und darstellerische Kompetenzen einerseits und Kippings inhaltlichen und rhetorischen Defiziten andererseits: Der neoliberale Flügel hat schon mehrfach unter Beweis gestellt, dass er seine keineswegs per se mehrheitsfähigen Positionen zu behaupten weiß, auch wenn diese langfristig die Partei zerreißen können. Bemerkenswert – und der Bedeutung der Person angemessen – ist auch der Fakt, dass der Name des Ko-Chefs der Partei, Bernd Riexinger, in den Debatten gar nicht mehr fällt.
Pseudolinke Phrasen oder ernsthafte Standpunkte
Wagenknecht oder Kipping, Kapitulation vor der Erosion des (Sozial-)Staates oder Rückeroberung der Gestaltungsspielräume, pseudolinke Phrasen oder ernsthafte Standpunkte: Halten die Delegierten Kipping weiterhin die Treue, tragen sie die Verantwortung für die möglicherweise endgültige Schwächung des letzten linken Projekts. Hätten die Delegierten jedoch den Mut, die glücklosen Parteichefs gar abzuwählen – und damit symbolisch auch die zugehörige politische Strömung: Die Perspektiven wären erheblich positiver. Dafür müsste das Wagenknecht-Lager aber auch ein prominentes Gesicht ins Rennen um den Parteivorsitz schicken. Ein Wechsel an der Spitze der Linkspartei könnte ein starkes Signal für einen Aufbruch und für die Rückkehr zur Rationalität sein.
Doch auch wenn sich die globalistische Strömung um Kipping nun durch parteitaktische Züge erneut durchsetzen sollte – der Parteitag könnte trotzdem zum Moment der Wahrheit werden: Jetzt steht der staatsfeindlichen Mythenbildung ein realistischer und gut formulierter Entwurf gegenüber und die Delegierten könnten Farbe bekennen: für eine Fortführung einer neoliberalen und pseudolinken Identitätspolitik, die den Zustand der bundespolitischen Bedeutungslosigkeit der Linkspartei noch verschärfen wird – oder für eine realistische Zuwanderungspolitik, die die Bezeichnung “Links” verdient und die zahlreiche Wähler ansprechen wird.
Sollte der Parteitag in Leipzig den Kipping-Flügel jedoch nicht wenigstens symbolisch bremsen, kann man die neoliberale Unterwanderung der LINKEN und die Lähmung der Partei als abgeschlossen bezeichnen. Als Reaktion würde dann an Sahra Wagenknechts linker Sammlungsbewegung kaum noch ein Weg vorbeiführen.