Kuba – Nach März-Wahlen beendet Präsident Raúl Castro die 60-jährige Castro-Ära und ernennt seinen Nachfolger
Am vergangenen 11. März gingen mehr als 8 Millionen Kubaner zu den Wahlurnen. Das seit 1976 bestehende, verfassungsmäßige System der Volksmacht, genannt Poder Popular, schreibt alle fünf Jahre allgemeine Wahlen auf Provinz- und Landesebene vor. In diesem in Lateinamerika einzigartigen Wahlsystem werden gleichzeitig 1.201 Provinzdelegierte und insgesamt 614 Abgeordnete für die Nationale Volksversammlung (Asamblea Nacional del Poder Popular/ANPP) gewählt. Von Frederico Füllgraf.
Die März-Wahlen 2018 werden als historischer Markstein interpretiert. Sie läuteten das vor Monaten angekündigte Ende der Präsidentschaft Raúl Castros ein, damit aber auch eine fast 60-jährige Ära der Gebrüder Castro, die mit dem Sturz der Batista-Diktatur zur Jahreswende 1959/1960 begann.
Die Machtübergabe sollte bereits im Februar stattfinden, wurde nach offiziellen Angaben jedoch wegen verheerender Auswirkungen des Hurrikans Irma vom September 2017 um weitere zwei Monate verschoben. Sodann bestimmt die mit den am 11. März gewählten Parlamentariern neugebildete Volksversammlung am kommenden 19. April die 31 neuen Mitglieder des Staatsrats, des höchsten Regierungsorgans Kubas.
Im Vorfeld hatte Raúl Castro vorgeschlagen, über 70 Jahre alte Kandidaten sollten sich nicht mehr für Parlamentsämter bewerben und dass die künftige Amtszeit der Gewählten doch auf höchstens zwei Legislaturperioden begrenzt sein sollte. Damit signalisierte der als Nachfolger seines Bruders Fidel Castro seit 2008 regierende, 86-jährige Staatschef einen allerdings längst erwarteten Generationswechsel in der kubanischen Staatsführung, die sich 60 Jahre nach Beginn der Revolution von ihren Veteranen verabschiedet.
“Kein demokratisches Wahlsystem”?
Wahlberechtigt sind in Kuba alle Bürger ab dem Mindestalter von 16 Jahren, einschließlich des Militärs. Wahlen in Kuba werden, wenn überhaupt, von westlichen Mainstream-Medien seit Jahren mit Nasenrümpfen erwähnt und als „undemokratisches” Täuschungsmanöver abgetan (Wahlen ohne Wahl – FAZ, 19. Januar 2008).
Gemessen an seinen Intentionen, darf das Wahlsystem als Grundriss basisdemokratischer Prinzipien bezeichnet werden. Auswahl und Nominierung von Kandidaten für die Provinz-Versammlungen und die Nationalversammlung findet auf unterster Ebene in Stadt- und Landgemeinden mit geschlossenen Listen statt. Genauer: die Zahl der Kandidaten entspricht der Zahl der zu besetzenden Sitze.
Nach dem 1992 zuletzt novellierten Wahlgesetz kommt in den 169 kubanischen Gemeinden ein Kandidat auf je 20.000 Einwohner bzw. zum Bruchteil auf je 10.000 Einwohner. Die Gemeinden sind also in Einheiten unterteilt, deren Gewicht von der jeweiligen Einwohnerzahl abhängt. Jeder Wahlkreis mit bis zu 399 Einwohnern bildet mindestens eine Einheit und höchstens acht Einheiten sind für Wahlkreise mit mehr als 2.800 Einwohnern zugelassen.
Der Wahlvorgang schreibt die Direktwahl mit absoluter Mehrheit vor. Um gewählt zu werden, muss jede(r) Kandidat(in) mehr als 50 Prozent der gültigen Stimmen in dem Wahlkreis erhalten, in dem er/sie tätig ist. Wird das Ziel nicht erreicht, bleibt der betreffende Sitz unbesetzt; es sei denn, der Staatsrat beschließt Neu- oder Nachwahlen. Die Wahlbeteiligung ist nicht obligatorisch, der Urnengang wird aber gern gesehen.
Keine Vorrangstellung für die Kommunistische Partei
Das Kuriosum: Zwar leitet und beaufsichtigt die Kommunistische Partei (PCC) gemäß der Verfassung und als einzige zugelassene politische Vereinigung Kubas den Wahlprozess. Eine Wahlbeteiligung mit Aufstellung klar ausgewiesener Eigenkandidaten ist der KP jedoch untersagt.
Mit anderen Worten: Das kubanische Wahlsystem wäre somit das einzige in Lateinamerika, in dem keine Parteien konkurrieren, sondern Bürger, die in Nachbarschaftsversammlungen ihre Kandidaten per Handzeichen vorschlagen. Bewerber müssen in den Kandidaten-Aufstellungsrunden mindestens 50 Prozent + 1 Stimme der Wählerpräferenz erhalten, andernfalls müssen sie sich einer Stichwahl unterwerfen.
Ferner schreibt das Wahlgesetz vor, dass 50 Prozent der Kandidaten Gemeindevertreter sein müssen, die übrigen Bewerber werden von Ausschüssen zur Verteidigung der Revolution (CDR), der Bauern-, Studenten-, Frauen- und Jugendverbände aufgestellt. Und hier eine für westliche Beobachter verwirrende Eigenart des kubanischen Wahlsystems: Weder ist Wahlkampf erlaubt, noch gibt es Bewerber-Finanzierung.
Obwohl die Mitgliedschaft in der PCC keine Voraussetzung für die Aufstellung von Kandidaturen ist, muss allerdings angemerkt werden, dass von den im März gewählten 605 Abgeordneten 548 Mitglieder der PCC sind.
Kritik von innen
„Theoretisch gehört zu den Funktionen eines halb-wettbewerblichen Wahlsystems die Legitimation bestehender Machtverhältnisse, ferner die politische Expansion nach innen, die Verbesserung des äußeren Erscheinungsbildes, die Manifestation (und teilweise Integration) gegensätzlicher Kräfte und die strukturelle Anpassung der Macht zur Stärkung des Systems”, kommentierte der kubanische Staatsrechtler und amtierende Professor an der Universität Havanna, Julio Cesar Guanche, bereits in Hinblick auf die Wahlen von 2013 (El diseño del sistema electoral cubano: una descripción crítica – La Cosa, 9, Januar 2013).
Demnach seien die meisten dieser Funktionen im praktischen Verhalten des kubanischen Wahlsystems, das regelmäßig Wahlen anberaumt, bestätigt worden. So die Transparenz der Kontrolle, hohe Wahlbeteiligung und Wahlgarantien. Vor allem das Verbot der offiziellen Unterstützung der Kandidaten und die Typisierung des illegalen Wahlverhaltens.
„Gleichzeitig haben die Wähler mit hoher positiver Resonanz auf die offiziellen Forderungen aller Kandidaten nach ´einheitlicher Abstimmung´ reagiert”, stellt Guanche fest. Die Summe von annullierten oder unausgefüllten Stimmzetteln habe in den Wahlen bis 2013 kaum mehr als 7 Prozent betragen. Im Allgemeinen hätten die Wahlen als virtuelle Volksabstimmungen zur Kontinuität des offiziellen revolutionären Kurses gedient.
Die Erklärung dafür sei bis Raúl Castros Machtantritt unter anderem in der historischen Legitimität der revolutionären Machtbefugnis und des persönlichen Charismas Fidel Castros zu suchen. Unter den Bürgern bestehe in der Tat eine Akzeptanz der bestehenden Institutionalität als politischer Rahmen für die Verteidigung der Revolution. Doch sei ebenso politischer und sozialer Druck in unterschiedlichem Maße ebenso unverkennbar, so Guanche. Der Staatsrechtler sieht und fordert mehr radikale Demokratie.
„Das System lässt jedoch mehrere Herausforderungen an die institutionelle Grundlage der Bürgerbeteiligung unbeantwortet. Es verschwendet die Möglichkeit, größere partizipatorische Ergebnisse zu erzielen, die über die für alle Versammlungen erforderliche direkte Abstimmung hinausgehen, da es Merkmale der konzentrierten Machtausübung von 1976 aufrechterhält. Die örtlichen, regionalen und landesweiten Regierungsprogramme werden nur unzureichend durch den Wahlprozess erkennbar gemacht. Die Wahlen dienen nicht der Schlichtung der politischen Macht, da die gewählten Vertreter/innen nicht die gesamte Struktur der politischen Führung abdecken. Eine Art Bürgerwahlpräferenz wird nicht, wie zu erwarten, gewürdigt und das Votum der ausgewanderten Bürger, die sich zum Zeitpunkt der Abstimmung im Land aufhalten, wird ebenso wenig angesprochen”, merkt Guanche kritisch an.
Sozialpolitische Rechenschaftspflicht – Beobachtungen eines Deutschen in Kuba
„Nachdem man gewählt wurde, ist man rechenschaftspflichtig und muss deswegen regelmäßig – mindestens alle 3 Monate – auf einer Nachbarschaftsversammlung erklären, was man in letzter Zeit auf kommunaler Ebene getan hat. Wenn die Nachbarschaft unzufrieden ist, kann sie ihre Abgeordneten wieder abwählen. Also man hat keine eigene politische Macht, sondern ein Mandat seiner Nachbarschaft, die man dann auch vertritt”, berichtet der Autor Tobi der “Berichte aus Havanna” (Die demokratischste Diktatur der Welt).
„Wenn einige CubanerInnen doch mal der Meinung sind, dass ihre Meinungen und Ideen nicht beachtet werden, haben sie auch die Möglichkeit, eine Beschwerde an ihre Gemeindeversammlung zu schreiben, die innerhalb von 60 Tagen bearbeitet werden muss oder aber sie starten eine Gesetzesinitiative, die bei 10.000 Unterstützerstimmen in der Nationalversammlung behandelt werden muss”, beobachten Deutsche mit großer Verwunderung und Genugtuung – wo gibt es denn sowas in der vielgepriesenen, repräsentativen Demokratie kapitalistischer Prägung?
„Ja, das politische System in Cuba ist anders als in Deutschland, aber dennoch gibt es freie, geheime und direkte Wahlen und alle Menschen haben die gleichen Chancen, in die Parlamente zu ziehen, egal ob sie Parteimitglieder sind oder nicht”, vergleicht Tobi.
„Es gibt nur eine Partei, aber diese mischt sich nicht in die Wahlen ein und ist alles andere als homogen. Deutschland und vor allem die USA sollten endlich einmal die Unabhängigkeit eines jeden Landes anerkennen und damit auch ihr Recht auf Selbstbestimmung. Wenn sie sich so sehr um die Demokratie sorgen, wie wäre es, wenn sie innerhalb der eigenen Landesgrenzen beginnen, die Verhältnisse demokratischer zu gestalten?“
Wer wird Cuba ab Mai 2018 regieren?
Mindestens fünf Namen sind inoffiziell für die Nachfolge Raúl Castros im Gespräch. Ebenso noch inoffiziell gibt es jedoch einen Favoriten. Er amtierte als bisheriger Vizepräsident des Staatsrates. Sein Name ist Miguel Diaz-Canel. Rafael Hernández, Direktor der renommierten kubanischen Zeitschrift “Temas”, sagte im Gespräch mit BBC Mundo (¿Quiénes son los candidatos para suceder a Raúl Castro y quién tendrá el poder real en la nueva etapa que comienza? – 12. März 2018), „nur ausländischen Medien würde ein anderer Name einfallen, als der Díaz-Canels”.
Die regimekritische Bloggerin Yoani Sánchez bezeichnete Díaz-Canel als „treues Laborprodukt der politischen Kader, jemand, der an den Eutern der PCC saugt und dem offiziellen Skript ohne eine einzige Zeile Abstrich verpflichtet ist”. Die ressentimentbeladene Abqualifizierung durch die rechtsextreme Sánchez ist wohl als Reaktion auf die Androhung ihrer offen subversiven Autorentätigkeit zu verstehen.
Der 57-jährige, eher unauffällige Elektronikingenieur aus der Provinz Villa Clara wurde den Kubanern bekannt, als er 2009 zum Bildungsminister ernannt wurde. Doch große Popularität brachte Canels Mission als Verantwortlicher für die Kaderausbildung der PCC ein. Zu den Loyalen zählt Raul Castro selbst, der ihn als Verkörperung notwendiger Erneuerung, aber auch als verlässlichen Beschützer der Revolution erkennt.
Als er 2013 zum 1. Vizepräsidenten ernannt wurde, würdigte Castro Diaz-Canel. Der ist kein Emporkömmling und besitzt ideologische Entschlossenheit”. „Ich kann mir keine Brüche in unserem Land vorstellen, ich glaube, dass es vor allem Kontinuität geben muss”, erklärte Diaz-Canel unlängst mit Andeutungen auf die Fortsetzung von Raul Castros langsamen, doch stetigen Reformkurs.