Essen ist Politik
Franz Keller ist einer der hochdekoriertesten Köche in Deutschland. Er lernte sein Handwerk unter anderem bei dem großen französischen Koch Paul Bocuse, kochte für die englische Königin, und konzipierte als einer der Ersten die „Neue Deutsche Küche“. Doch irgendwann kam der Sinneswandel: Keller verzichtete auf die begehrten Michelin-Sterne und kehrte dem „übertriebenen Teller-Ikebana der Sterneküche“ den Rücken. Zurück zu den Wurzeln, darum ging es ihm. Im Interview mit den NachDenkSeiten erklärt Keller, warum Essen Politik ist und was in unserer Gesellschaft in Sachen Essen alles falsch läuft. Das Interview führte Marcus Klöckner.
Herr Keller, sagen Sie bitte unseren Lesern: Was hat Essen mit Politik zu tun?
Wo soll ich da anfangen? Nehmen Sie doch nur bestimmte Volkskrankheiten, wie Diabetes oder Fettleber, die durch falsche Ernährung entstehen. Wenn diese Ernährung indirekt auch noch durch Subventionen erst ermöglicht wird, sind wir schnell auf der politischen Ebene. Oder denken Sie an die Kosten, die jedes Jahr durch falsche Ernährung entstehen und unser Gesundheitssystem schwer belasten.
Wie sind Sie überhaupt darauf gekommen, dass Essen Politik ist? Gab es ein bestimmtes Erlebnis?
Es war eher die Vielzahl aller Erfahrungen, die ich im Laufe meines Lebens als jemand, der jeden Tag mit Essen und mit Nahrungsmitteln zu tun hat, gesammelt habe.
Sie meinten es damals ziemlich ernst. Sie haben einen Brief an Michelin geschrieben.
Das war vor 20 Jahren. Damals habe ich an Michelin und meine etwa 900 Stammgäste geschrieben, dass ich auf die so begehrten Sterne verzichte.
Warum dieser Schritt?
Ich wollte wieder frei sein. Durch die Sterne musste man dann ja sozusagen auch gewisse Vorgaben und Erwartungen erfüllen, wodurch das Essen zu einem Luxusprodukt und immer teurer wurde. Statt auf das übertriebene Teller-Ikebana der Sterneküche habe ich meinen Fokus auf die Qualität der Grundprodukte gelegt, die ich in meiner Küche verarbeite. Das ist mir wichtig. Gutes Essen sollte für mich immer etwas Alltägliches, aber auch erschwinglich sein.
War dieser Schritt wirklich nötig?
Auf jeden Fall. Warum sollte man sich den Sternen unterwerfen? Diese Küche ist letztlich auch für die Gastronomen sehr teuer, man kann kaum davon leben und braucht dazu in aller Regel Sponsoren.
Wie sehen Sie heute das Essen und die Art und Weise, wie wir Menschen damit umgehen?
Wir gehen auf eine schrecklich unsensible Weise damit um. Essen ist heute für Viele zu einer Nebensache geworden und meist eher als reines „Futter fassen“ zu bezeichnen. Das ist manchmal gar nicht weit entfernt vom reinen „Fressen“ der Tiere.
Können Sie einige der Probleme, die Ihnen auffallen, anführen?
Es geht damit los, dass wir offensichtlich kaum noch Zeit zum Kochen finden, oder?
Klar, Zeit spielt eine sehr große Rolle. Unsere Gesellschaft will von allem immer mehr haben. Nur beim Essen und der notwendigen Zeit, die man zur Zubereitung eines ausgewogenen Mahls benötigt, wird gespart, wo es nur geht. Fast Food, vorgegart, fix und fertig für die Microwelle oder einfach kochendes Wasser drauf und fertig. Das Essen verkommt zur schnellen, aber leider notwendigen Nahrungsaufnahme. Die Konsumenten können kaum noch Qualität erkennen oder definieren. Grundprodukte in vorverarbeiteten Lebensmitteln haben immer billiger zu werden, spielen angeblich kaum noch eine Rolle. Es gibt immer mehr Haushalte, in denen kaum noch richtig gekocht wird. Höchstens mal ausnahmsweise, an besonderen Tagen, zu besonderen Anlässen.
Die Art, wie wir heute mit dem Essen umgehen, hat also auch Auswirkungen, die viel tiefer gehen, als es uns vielleicht bewusst ist?
Multiresistente Keime in Bächen und Seen, mit Nitrat verseuchtes Grundwasser oder das große Insektensterben – all das sind Folgen unserer pervertierten Nahrungsmittelproduktion und Massentierhaltung. Vom Boden- bis zum Grundwasserschutz werden wir weitreichende Schäden zu beseitigen haben, wenn das überhaupt noch möglich sein wird. Natürlich interessiert das alles nur mal kurz und nebenbei, wenn wir vielleicht mal auf die ein oder andere Schlagzeile stoßen. Aber dann vergessen wir das alles schnell wieder und behalten unsere schädlichen Essensgewohnheiten bei.
Was bedeutet es noch, wenn wir uns viel zu oft mit der Tiefkühlpizza zufriedengeben?
Essen hat neben der Versorgung mit Nährstoffen eine wichtige soziale Funktion. Was ich kritisiere ist, dass das gemeinsame Kochen und Essen, das zum Beispiel in der Familie eine wichtige Basis für ein echtes Zusammenleben bildet, durch industrielle Lebensmittel unterlaufen wird. Sie sehen: Die Art, wie wir essen, hat in der Tat weitreichende Folgen. Wie soll ein gesundes familiäres und gesellschaftliches Leben möglich sein, wenn jeder nur noch für sich die Tiefkühlpizza in den Ofen schiebt? Fertiggerichte machen uns – wie der Name schon sagt – auf Dauer fertig.
Gibt es weitere Kritik?
Ja, die betrifft wieder die Politik. Der Staat hat die Pflicht, seine Bürger zu schützen. Es kann zum Beispiel nicht sein, dass es seit langer Zeit Zusatzstoffe in verarbeiteten Lebensmitteln gibt, aber zuständige Ämter viele Jahre später immer noch nicht viel über diese Stoffe wissen und noch nicht mal in der Lage sind, sie nachzuweisen. Mit solchen Produkten wie zum Beispiel Fleisch und Wurstwaren, die mit Zusatzstoffen so manipuliert sind, dass sie bis zu 20 Prozent mehr Wasser im Produkt binden können.
Wir haben uns jetzt mit den Menschen auseinandergesetzt. Aber da gibt es noch andere Lebewesen, die in Sachen Essen eine Rolle spielen: die Tiere.
Wenn man Ihr Buch liest, hat man das Gefühl, Sie werden richtig wütend, wenn es darum geht, wie heute mit den Tieren, die uns als Nahrungsquelle dienen, umgegangen wird.
Obwohl wir vom Fleisch, den Proteinen und der Energie der Tiere leben, behandeln wir sie in der industriellen Massentierhaltung wie den letzten Dreck. Und warum? Weil in der Fleischherstellung nur die rein wirtschaftliche Optimierung zählt und Fleisch vor allem billig sein muss. Deshalb werden rund 70 Prozent aller in Deutschland verwendeten Antibiotika in der Tiermast eingesetzt. Das ist pervers. Im Durchschnitt isst der Deutsche doppelt soviel Fleisch, wie ihm eigentlich gut tut – Volkskrankheiten sind das Ergebnis dieses Konsums.
Wie war das denn früher bei Ihnen zu Hause? Sie sind mit Schweinen, Rindern und Kaninchen aufgewachsen.
Ein Wort wie „Tierwohl“ gab es in meiner Kindheit in den fünfziger Jahren noch nicht. Die Tiere wurden sicher nicht immer liebevoll behandelt, aber mit Respekt. Das war einfach ein normaler Zustand, in überschaubaren Dimensionen und ist mit der heutigen Intensivmast in keiner Weise zu vergleichen.
Sie können sicherlich viel dazu sagen, was wir heute unseren Tieren antun. Was ist denn für Sie am Schlimmsten?
Mast ohne oder mit wenig Bewegungsmöglichkeiten. Aber auch die Futterstoffe, die weder beim Nutztier noch beim Konsumenten besonders positive Auswirkungen haben. Für das genetisch veränderte Soja, das in unseren Mastfabriken verfüttert wird, werden in Argentinien riesige Monokulturen angebaut und Regenwälder abgeholzt. Das muss man sich als Verbraucher klar machen. Genauso brutal sind die langen Transportwege, die eine Qual für die Tiere sind oder die Arbeitsprozesse in den großen Schlachthöfen. Auch hier geht es immer nur um Effizienz und Gewinnmaximierung, aber bestimmt nicht um Lebensmittelqualität.
Wo könnte man denn ansetzen, um diese Verhältnisse zu verändern? Was sollten Köche tun, die ein eigenes Restaurant haben?
Köche könnten vieles bewirken, zum Beispiel indem sie Gästen wieder den echten, unverfälschten Geschmack der Nahrungsmittel aufzeigen. Aber auch Verbraucher und Konsumenten sind genauso gefragt, wenn es um ein anständiges Essen geht. Wir müssen im Alltag die Kontrolle über unser Essen wieder selbst in die Hand nehmen und so oft wie möglich selber kochen, weil wir dann automatisch auf unverarbeitete Lebensmittel zugreifen. Statt unsere Grundschulen und Kindergärten zu digitalisieren, sollten wir in Schulküchen investieren und unseren Kindern Wert und Wesen einer guten Ernährung näherbringen. Für mich ist deshalb Kochen die Schlüsseltechnologie für unsere Zukunft.
Lesetipp: Franz Keller: Vom Einfachen das Beste. Essen ist Politik oder Warum ich Bauer werden musste, um den perfekten Genuss zu finden. Westend Verlag, April 2018.