Was Sie schon immer mal über VerXXXXXungen wissen wollten
Verschwörungspraxen, Verschwörungstheorien und Verschwörungsideologien – Wolf Wetzel wirft für die NachDenkSeiten einen spannenden zweiteiligen Blick auf „Verschwörungen“ und verbindet dies mit dem „NSU-VS-Komplex“, dem skandalösen Dickicht aus Verfassungsschutz, Ermittlungsbehörden und Politik im Umfeld der rechtsextremen NSU-Morde.
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Teil I
Beginnen wir entspannt mit einem Quiz. Ich präsentiere Ihnen mehrere Ereignisse, die sich in Deutschland abgespielt haben könnten und Sie müssen sich entscheiden, welches Ereignis wahr, welches erfunden wurde.
Testfrage I
Ein Förster in Norddeutschland sorgte sich nicht nur um den Wald, sondern auch um über 30 Erddepots, die mit Sprengstoff, Handgranaten und Panzerfäusten gefüllt waren. Er wurde festgenommen und erhängte sich in der Haftzelle, nachdem er seine Bereitschaft kundgetan hatte, die Namen der „Hintermänner“ preiszugeben.
Testfrage II
Ein großes Loch wird in die Mauer einer Justizvollzugsanstalt, im Volksmund auch Knast genannt, gesprengt. Ausgeführt wird dieser Anschlag von Agenten des Geheimdienstes.
Kurze Zeit später verkünden Polizei und Presse, dass es sich sehr mutmaßlich um einen Anschlag von Sympathisanten der RAF, der Rote Armee Fraktion, gehandelt hat, um so inhaftierten Mitgliedern die Flucht zu ermöglichen. Dieser staatseigene Anschlag bekam den weitblickenden Namen „Operation Neuland“ und sollte V-Leute als „Befreier“ in die RAF bzw. in ihr Umfeld einschleusen.
Testfrage III
Die Türme der Frauenkirche in München beherbergen nicht nur wunderbar klingende Glocken und einsame Engel. Dort befinden sich auch Abhör- und Sendeanlagen des deutschen Auslandsgeheimdienstes. Da die Kathedralkirche mit den beiden Türmen das höchste Gebäude der Stadt ist, teilte sich der Geheimdienst diesen begehrten Ort mit weiteren Geheimdiensten, trotz aller Beengtheiten.
Testfrage IV
Der deutsche Geheimdienst muss nicht alles alleine und selbst machen. Er greift auch auf Privatagenten zurück. Einer der Besten nimmt Aufträge von Geheimdiensten, Regierungen und Konzernen entgegen. Um die Anonymität der Auftraggeber zu garantieren und Rechtvorschriften nicht zu belästigen, werden im Zusammenspiel mit Banken und Rechtskanzleien geheime Konten angelegt, um die Finanzierung von „Operationen“ reibungs- und spurenlos zu gewährleisten.
Testfrage V
Ein V-Mann des Inlandgeheimdienstes gründete im beschaulichen Schwabenland eine Zweigstelle des rassistischen Geheimbundes Ku-Klux-Klan, der im Land der unbegrenzten Möglichkeiten den „Rassenkrieg“ propagiert. Als bekannter Nazisänger und nun auch „Grand Dragon“ fand er auf Anhieb so viele dem Rassenkrieg verbundene Polizisten, dass er eine eigene Sektion (Chapter) hätte aufmachen können, damit Polizisten in ihrer Freizeit das fortsetzen können, was sie in ihrem Beruf antreibt. Diese Methode hat die klebrige Bezeichnung „Honigtopf“.
Das Ergebnis dieses Quiz wird am Ende dieses Beitrages bekanntgegeben.
In den letzten Jahren hat das Wort „Verschwörungstheorie“ Hochkonjunktur. Man muss den Inhalt, den Begriff nicht verstanden haben, um zu wissen, dass mit diesem Wort ein rotes Abschirmband gezogen werden soll, das die Funktion einer Bannmeile erfüllt: ‚Bitte fernhalten’ … ‚Betreten verboten’. Wenn dieses Wort fällt, ducken sich im Normalfall viele weg, die nicht in der Gemeinschaftszelle für Narren landen möchten. Diese Affekte sind gewollt, denn das Wort selbst gibt das nicht her.
Der NSU-VS-Komplex
„Eine Verschwörungstheorie ist es, wenn man wie der Generalbundesanwalt sagt: Es waren drei und sonst niemand. Das hat mit der Realität nichts zu tun. Ich habe mal an der Richterakademie ein Referat gehalten und hatte beim Abendessen noch ein Gespräch mit Beteiligten, da wurde mir gesagt: Tja, wenn wir die V-Leute im NSU-Prozess zum Thema machen, dann ist das ein Fass ohne Boden.“ (Prof. Hajo Funke, Junge Welt vom 18.07.2015)
Allein im Kontext der NSU-Morde, der unzähligen Pannen bei der Verfolgung und Aufklärung, fliegt einem das Wort „Verschwörungstheorie“ nur so um die Ohren. Das Magazin „DER SPIEGEL“ (3/2015) hat gar einen Virus im NSU-Prozess entdeckt, der den Namen … Verschwörungstheorie trägt. Das Magazin widmete sich dem Mord in Kassel 2006, der dem NSU zugeschrieben wird. Mit zwei Schüssen in den Kopf wurde der Internetcafé-Besitzer ermordet. Zur Tatzeit war der Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme anwesend. Ein Geheimdienstmann, der in seiner Jugend „Klein-Adolf“ gerufen wurde und im Beruf Neonazis als V-Leute betreute. Er verlässt kurz nach dem Mord seinen Internetplatz, sieht den blutüberströmten Internetcafé-Besitzer nicht hinter seinem Tisch liegen, legt ein Geldstück auf den blutverspritzten Tisch, ohne sich das Geringste dabei zu denken … und verliert mit Verlassen des Tatorts jede Erinnerung daran, dass er dort war. Die Polizei ermittelt ihn dennoch und führte ihn wenig später als Tatverdächtigen. Seine Telefonanschlüsse wurden abgehört, man observierte sein Tun, wie er sich unter anderem mit Vorgesetzten auf einer Raststätte traf. In einem dieser abgehörten Telefonate äußerte sich der Geheimschutzbeauftragte des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) wie folgt:
„Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, bitte nicht vorbeifahren.“
Dass das alles zusammengenommen eine Indizienkette ergibt, die für fünf Anklagen reicht, während der belastendste Beweis für die Täterschaft der beiden NSU-Mitglieder der ist, dass es keine Spuren, keine Zeugen, keine Indizien am Tatort gibt, findet das Magazin an den Haaren herbeigezogen, völlig aus der Luft gegriffen, also ein „Fest“ für jeden, „der aufregende Verschwörungstheorien liebt“. Und das Magazin für Bewusstseinspflege dreht weiter mächtig am Rad, wenn Prozessbeobachter der Serie von Falschaussagen, Beseitigungen von Akten und Manipulation von Tatorten eine Absicht unterstellen und macht daraus „Komplottgespinste“. Man kann diese Art verspiegelter „Aufklärung“ auch so zusammenfassen: Wenn man das Wahrscheinliche ausgeschlossen hat, die Ermittlungsmethoden der Plausibilität außer Kraft gesetzt hat, muss das, was übrigbleibt, die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich sie auch klingen mag. Dann ist auch nicht mehr auszuschließen, dass ein Stein, den man in die Luft wirft, nicht mehr der Schwerkraft folgt, sondern sich in Luft auflöst.
„Wir sind angekettet in einer Höhle, können nur in eine Richtung schauen und hinter unserem Rücken wirft Feuer ein Licht, vor dem Gaukler bestimmte Gegenstände bewegen, die Schattenbilder an die Wand werfen. Da wir nur diese Schatten sehen können, halten wir sie für die wahrhafte Wirklichkeit. Was würde nun passieren, fragt Platon, wenn einer der Insassen den Höhlenausgang entdecken und entfliehen könnte. Die Sonne würde seine Augen zuerst blenden, aber dann könnte er die eigentliche Welt erkennen – und die Technik der von diesen Gauklern produzierten Schattenbilder verstehen. Wenn er dann aber zurück in die Höhle ginge, um seine einstigen Mitinsassen über das Trugbild aufzuklären, dem sie aufgesessen sind, was würde geschehen? Man würde ihn auslachen und sagen, er hätte von dort oben verdorbene Augen mitgebracht und es gebe keinen Anlass, die Höhle zu verlassen. Wenn er sie nun befreien und hinauf ans Licht führen wollte, was würden sie tun? ‚Wenn sie seiner habhaft werden, werden sie ihn wirklich umbringen, ganz gewiss!‘, heißt es dann bei Platon.“ (Platons Höhlengleichnis, nach Mathias Bröckers)
Verschwörungstheorien
Verschwörungen sind zuallererst keine Phantasien, sondern die notwendige Organisationsform für Handlungen, deren Ankündigung und offene Durchführung ein solches Vorhaben verhindern könnte und/oder strafrechtliche Verfolgung nach sich ziehen würde. Sie werden also notwendigerweise konspirativ geplant und gegenüber Außenstehenden abgeschottet. Der Kreis der Eingeweihten ist nicht beliebig, sondern auf das Notwendigste eingegrenzt. Zum Schutz des Vorhabens vermeidet man Spuren und belastende Indizien. Da die Eingeweihten in aller Regel die Existenz dieser Organisation/Operation und ihre Teilnahme daran leugnen werden, ist ihre Aufdeckung alles andere als leicht. Wenn wir hier über Verschwörungen reden, dann nicht über Kinderbanden, sondern über Verschwörungen, die auf die herrschenden Machtverhältnisse Einfluss nehmen beziehungsweise diese absichern wollen und können.
Dass diejenigen, die Verschwörungen organisieren, auf eine jahrzehntelange Praxis zurückgreifen können und – wenn nötig – einen schwindlig reden können, hat der US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld vorgemacht:
„Es gibt bekanntes Bekanntes; es gibt Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie wissen. Wir wissen auch, dass es bekannte Unbekannte gibt: Das heißt, wir wissen, es gibt Dinge, die wir nicht wissen. Aber es gibt auch unbekannte Unbekannte – Dinge also, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen.“ (zeit.de vom 17. Juni 2013)
Eine Theorie über Verschwörungen zu entwickeln, bedeutet also, sich Begriffe und Merkmale zu erarbeiten, die eine Verschwörung definieren helfen. Dazu braucht man keine Phantasie, sondern Akribie, die noch vorhandenen „Beweismittel“ zusammenzutragen, um sie wie ein Puzzle aneinanderzulegen. Zwischen einer Verschwörung und ihrer (offiziellen) Aufdeckung liegt demzufolge kein Niemandsland, sondern die Theorie.
Verschwörungen (Stauffenberg-Attentat auf Hitler 1944, die Invasion in der Schweinebucht/Kuba 1963, Mordanschlag auf John F. Kennedy 1963) können sich gegen den eigenen oder einen anderen Staat richten. Sie können aber auch von staatlichen Institutionen selbst ins Leben gerufen sein, wenn die amtierende Regierung etwas unbedingt durchsetzen will, aber sich weder der parlamentarischen Zustimmung (einschließlich der Kontrollgremien) noch der Zustimmung innerhalb der Bevölkerung sicher ist. Als Beispiele gelten dafür der „Tiefe Staat“ in der Türkei und die „Gladio-Strukturen“, die auch als „stay behind“-Armeen bezeichnet wurden.
In der Organisationssoziologie spricht man in diesem Zusammenhang von „brauchbarer Illegalität“.
Wenn man von diesen Realitäten ausgeht, sind Verschwörungen – ohne jede Blutdruckerhöhung – durch eine spezifische Form der (konspirativen, nach außen hin abgeschotteten) Organisationsstruktur gekennzeichnet.
Verschwörungstheorien sind also keine brodelnden Küchenherde, wo Phantasien zusammengehext und -gemixt werden, sondern Theorien, die sich bemühen, Strukturen, Handlungen und Intentionen einer solchen Verschwörung so nahe wie möglich abzubilden. Theorien zu angenommenen und vermuteten Verschwörungen haben sachbedingt keine offenen Archive und herumliegende Beweise. Sie müssen auf unterschiedliche Weise deren Deckung, Geheimhaltung und offizielle Leugnung umgehen, durchbrechen und überwinden. Die einfachste und institutionalisierte ist … abzuwarten, bis die betreffende Regierung geheimgehaltene Dokumente freigibt. Je nach Staatswohlwollen beträgt die Frist 10 bis 120 Jahre. Dann bekommt auf einmal das, was jahrzehntelang eine blühende Verschwörungstheorie war, ein regierungsamtliches (Güte-)Siegel, wie im Zusammenhang mit „Gladio“. Wir werden später darauf zurückkommen.
So existiert in den USA ein Bürgerrecht, das die Regierung dazu verpflichtet, nach einer festgelegten Frist Akten der Öffentlichkeit zugänglich zu machen: Freedom of Information Act (FOIA).
Hierzu nur ein Beispiel dafür, dass es sich lohnt, geduldig zu warten, um ein weiteres Puzzle dazuzugewinnen. Der Mord an John F. Kennedy 1963 wühlte viele Menschen in den USA auf. Fast noch mehr die Art der Aufklärung, das heißt in diesem Fall die Sabotage der Aufklärung: Akten gehen in Flammen auf, Zeugen sterben oder widerrufen, Beweismittel verschwinden, sogar das Hirn des Präsidenten. Bereits ein paar Jahre später glauben fast die Hälfte der US-Bürger nicht an die Version eines kommunistischen Einzeltäters und halten das Ergebnis der „Warren-Kommission“ für unglaubwürdig. Dass bei diesen Vertuschungen nicht alles „Zufall“ war, belegt unter anderem ein CIA-Dokument aus dem Jahr 1967, das zehn Jahre später freigegeben wurde. Es hat den Betreff: Countering criticism of Warren report. Es führt aus, dass die Zweifel an der juristischen und politischen Aufklärung massiv seien, die Öffentlichkeit aufbringen, die Glaubwürdigkeit der Regierung und des Justizsystems erschüttern, bis hin zu den Geheimdiensten, die darin involviert sind. Um dem zu begegnen, schlägt der CIA Folgendes vor: „The aim of this dispatch is to provide material for countering and discrediting the claims of the conspiracy theorists.“ (Das Ziel dieser Depesche ist es, Material zur Entgegnung und zur Diskreditierung der Ziele von Verschwörungstheorien zur Verfügung zu stellen.
Zweierlei ist an diesem Dokument wichtig: Zum einen werden Zweifel, substantielle Widersprüche zu „Verschwörungstheorien“ zusammengestaucht. Zum anderen belegt dieses Dokument, dass man zur Bekämpfung der Kritiker gezielte Diskreditierungen eingesetzt hat, indem man die Personen unglaubwürdig zu machen versucht, um damit den Inhalt zu treffen.
Man kann auch ein gutes Stück weitergehen: Wer vor „Verschwörungstheorien“ wie vor einer Geisteskrankheit warnt, tarnt vor allem seine eigenen kriminellen Handlungen und Ziele, indem die Aufdeckung genau solcher Praktiken auf jede nur erdenkliche Weise diskreditiert werden soll.
Nun kann man das zusammenfügen, was bisher „umstritten“ war. Der damalige Bezirksstaatsanwalt Jim Garrison hatte massive Zweifel am offiziellen Ermittlungsergebnis. In seinem 1988 erschienenen Buch „Wer erschoss John F. Kennedy – Auf der Spur der Mörder von Dallas“ führt er dazu aus: „Als ich versuchte, einige dieser überaus unangenehmen Zusammenhänge ans Licht zu bringen, fielen die Regierung der Vereinigten Staaten und die großen Medien über mich her (…), weil ich angedeutet hatte, Mitglieder unserer eigenen Geheimdienste hätten sich zur Ermordung des Präsidenten verschworen. Ich wurde in der Presse als publicitysüchtiger Politiker, Scharlatan und Kommunist verleumdet.“ (Jim Garrison, Wer erschoss John F. Kennedy – Auf der Spur der Mörder von Dallas, Seite 12, Bastei-Verlag, 1992)
Man muss vorsichtshalber hinzufügen, dass dieser Bezirksstaatsanwalt alles, nur kein Kommunist war. Wenn man ihn einordnen will, dann war er durch und durch ein Patriot seines Landes und seiner Verfassung. Er war einfach nur das, was man von einem Staatsanwalt erwartet: Er prüft und würdigt die Fakten und er unternimmt alles, um die Mordumstände, die zum Tod seines Präsidenten führten, aufzuklären. Das sollte eigentlich weder merkwürdig noch sonderhaft sein.
Wohl genau deshalb wurde an ihm all das durchexerziert, was die CIA-Depesche angekündigt hatte: Man unterstellte ihm nicht nur besagte eigennützige Motive, man setzte Spitzel auf ihn an und schleuste sie als vermeintliche Mitarbeiter in sein Team. Man verweigerte ihm Akten, man setzte seine Zeugen unter Druck, die er für seine Anklage aufrufen wollte. Man untersagte für die Anklage wichtigen Zeugen, Aussagen zu machen. Das Ganze krönte man mit einem Korruptionsvorwurf, der fingiert war und in sich zusammenfiel. Dennoch förderten seine Ermittlungen bedeutsame Fakten zutage, die der Einzeltäterversion eklatant widersprechen.
Zu den anderen Quellen gehören Fakten und Zeugnisse, die (mit und ohne politische Intention) zugespielt werden. Auch das passiert wahrscheinlich öfters, als man es verifizieren kann. Die „Quelle“ kann dabei der jeweilige Geheimdienst sein, der – was zum Beispiel für die USA und die BRD belegt ist – über einen Pool an „vertrauenswürdigen“ Zeitungen und JournalistInnen verfügt, denen das Material zugespielt wird. Es ist ein Geschäft für beide Seiten: Die Zeitung kann mit einem aufgedeckten Skandal ihr Renommee und ihre Auflage steigern und der Geheimdienst kann gezielt „nationale Interessen“ bedienen. Viele sogenannte Leaks sind also gewollt und beabsichtigt. Es geht dabei darum, die eigentlich Verantwortlichen zu verschleiern. Zum Beispiel hatte der Geheimdienst der DDR einige wichtige Informationen zu „Gladio“ gesammelt und diese dann „aus der Hand fallen lassen“. Oder ein Geheimdienst lanciert geheime Informationen an die Öffentlichkeit, um eine andere Regierung zu diskreditieren – wie nach dem Terroranschlag in Manchester/England 2017: Der US-Geheimdienst hatte „amerikanischen Medien geheime Ermittlungsergebnisse und Fotos vom Tatort“ (zeit.de vom 26. Mai 2017) zugespielt.
Ab und an gelangen aber auch geheime Unterlagen durch Insider an die Öffentlichkeit. Insider, die das, was sie machen und verheimlichen sollen, nicht mehr aushalten. Zu den wichtigsten Quellen, die„Watergate-Affäre“ Anfang der 70-er Jahre aufzuklären, zählte ein Insider: Mark Felt. Er war bis Juni 1973 stellvertretender Direktor des FBI und war mit den Fakten der Watergate-Ermittlungen aufs Engste vertraut und versorgte US-Zeitungen mit vielen Quellen und (unterschlagenen) Beweismitteln.
Auch Edward Snowden gehört ganz sicher zu diesem sehr kleinen Personenkreis, der den Preis von ‚Geheimnisverrat’ in Kauf genommen hat. Aber auch eine offizielle Version kann wichtige Hinweise liefern, wenn das damit belegte Geschehen so nicht stattgefunden haben kann, wenn man geschehensrelevante Lücken ausfindig machen kann, die die Plausibilität in Frage stellen.
Aber, und das überrascht im ersten Moment, sind auch und gerade „zufällig“ vernichtete Beweise auslesbar, gerade dann, wenn es sich meist beziehungsweise ausschließlich um Beweismittel handelt, die der offiziellen Version widersprochen hätten, was einer behaupteten Zufälligkeit deutlich widerspricht. Man kann sich das wie einen Abdruck einer Weinflasche vorstellen, nachdem man sie als Beweismittel beseitigt hat.
Letzter und wichtiger Ort für theoretische Sondierungen sind Beweismittel, die zwar aktenkundig sind, also vorliegen, aber für „irrelevant“ und „nicht zielführend“ erklärt wurden und aus der Beweisführung herausgeworfen wurden.
Tatsächlich ist es in manchen Fällen möglich, dass die Leerstelle, die ein vernichtetes Beweisstück hinterlässt und die Beweismittel, die außer Acht gelassen wurden, zusammen einen Geschehensablauf rekonstruieren helfen, der signifikant besser belegt ist, als die offizielle Version.
Diese Möglichkeiten belegen, dass das Argument, Verschwörungen nachzuzeichnen, in Umrissen kenntlich zu machen, könne nur pure Spekulation sein, also Kaffeesatzleserei, vorgeschoben und unhaltbar ist.
Dass auch Verschwörungstheorien fehlerhaft sind, Plausibilitätslücken aufweisen können, spricht für die Notwendigkeit der Überprüfbarkeit und nicht gegen die Notwendigkeit theoretischer Annahmen.
Verschwörungsideologien
Bevor ich auf die Wirklichkeit von Verschwörungen und den Versuch, sie in einer Theorie abzubilden, zurückkomme, möchte ich das Paket „Verschwörungstheorien“ aufschnüren. Unbestreitbar gibt es schlechte Verschwörungstheorien, denen die Aufdeckung von verdeckten Strukturen nicht gelingt.
Etwas ganz anderes sind Verschwörungsideologien. Ideologien, verstanden als „notwendig falsches Bewusstsein“. In diesen geht es nicht darum, die Wirklichkeit abzubilden, sondern diese zu verschleiern, indem Projektionen und Verblendungen für Wesens- beziehungsweise Strukturmerkmale ausgegeben werden.
Die sicherlich bekannteste Verschwörungsideologie mit der historisch wohl längsten Tradition ist die über eine antisemitische Verschwörung. Da sie Wirklichkeitspartikel und vor allem aktuelle Herrschaftsinteressen aufnehmen muss, gibt es diese in den verschiedensten historischen Ausformungen: Sei es der religiöse/christliche Antijudaismus, der den „Judas“ als Verräter und den „Geldjuden“ für alles Übel verantwortlich macht. Bis hin zu der im deutschen Faschismus entwickelten Ideologie von der „jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung“, die die Neurechten des Jetztzeitalters an die „Wall Street“ transzendieren.
All diese historischen Akzentuierungen haben einen zentralen, gemeinsamen Kern: Die antisemitische Verschwörungsideologie imaginiert eine omnipotente Macht, die im Verborgenen ihre Fäden zieht, die Wirtschaft, die Politik, unser ganzes Leben in der Hand hat. Was dem normalen Menschen verborgen bleibt, erkennt der Antisemitismus: Hinter dieser abstrakten Macht verbergen sich die Juden, die für Elend und Reichtum, für Schmutz und Glanz gleichermaßen verantwortlich gemacht werden.
Es handelt sich um eine erfundene soziale Realität, um einen imaginierten Feind, der die wahren Herrschaftsverhältnisse auf den Kopf stellt und zugleich verteidigt – indem man in „die Juden“ all das hineinprojiziert, was der Kapitalismus an Elend und Ausbeutung produziert.
Er verortet die Macht dort, wo sie nicht ist. Der Antisemitismus lebt und gedeiht im Irrsinn: Er macht aus marginalisierten und diskriminierten Juden einen übermächtigen Feind, den man gefahrlos aus dem Weg räumen „muss“. Er ist damit ein Komplize der Herrschaft und nicht sein „größter“ Feind. Diese antisemitische Verschwörungsideologie ist also das Gegenteil einer Analyse: Sie verblendet und verschleiert Herrschaftsverhältnisse und macht aus armen Schweinen Herrenmenschen.
Semantische Umpolung
Das Wort „Verschwörungstheorie“ ist in seinem Gebrauch die Vernichtung seines eigentlichen Wortsinnes: Es transferiert etwas ins Reich weitschweifiger Phantasien und haltloser Spinnereien, was nichts weiter ist als eine notwendige Annäherung an Formen der Konspiration. Faktisch kontaminiert dieser umgedrehte Begriff den Aufdecker, den Untersuchenden und schützt das verdeckt Vorhandene durch ihre offizielle Leugnung.
Der Wortgebrauch frisst den Wortsinn auf. Mit weniger Sprachphilosophie kann man das so erklären: In dieser Logik wäre auch die Wirtschaftstheorie eine Verschwörungstheorie, vor allem dann, wenn sie feststellt, dass das Wirtschaftsleben nicht von Gleichen, sondern von Klassen- und Interessengegensätzen geprägt ist. Das Kapital von Karl Marx, eine der berühmtesten Verschwörungstheorien … Man sollte nicht zu früh über diesen Vergleich lachen. Die Nutznießer und Anteilseigner von Verschwörungen sind die lautesten Mahner vor Verschwörungstheorien.1