Gleichschaltung auch bei kleinen Details. Hier: Wachstumsraten im Quartalsvergleich und im Vergleich mit der EU

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

„Europa driftet auseinander. Während Deutschlands Wirtschaft wieder wächst, verharren andere Länder in der Rezession.“ So machte die Berliner Zeitung am 13. November ihren Wirtschaftsteil auf. Und weiter: Schneller als erwartet erhole sich die deutsche Konjunktur von der schwersten Krise, im dritten Quartal um 0,7 % BIP-Zuwachs im Vergleich zum Vorquartal. Ähnlich die Berliner Morgenpost: „Deutschlands Konjunktur erneut gestiegen.“ Und der Berliner Tagesspiegel: „Sie wächst. In Deutschland ist die Wirtschaft gewachsen – stärker als im Rest der Eurozone.“ Diese Kommentierung ist durch nichts gerechtfertigt, allenfalls durch die Notwendigkeit, aus konjunkturpolitischen Gründen in Optimismus zu machen. Albrecht Müller

Das waren die Meldungen von drei Zeitungen aus Berlin. Bundesweit lagen die Meldungen ähnlich. Die Daten, die das Statistische Bundesamt am 13. November präsentiert hatte (siehe Anlage 1), geben die in den deutschen Medien verkündeten Interpretationen nicht her. Auch nicht der Vergleich mit anderen Ländern der Europäischen Union und mit der EU insgesamt. (Siehe Anlage 2) Es sind abenteuerliche bis kindische Interpretationen. Dass sie nahezu gleich lautend veröffentlicht wurden, lässt auf die Arbeit von Spindoktoren einschließlich derer des Statistischen Bundesamtes schließen. Im einzelnen:

  1. Maßlos übertriebene Interpretation der Quartalszahlen und Veränderungen des Bruttoinlandsproduktes (BIP) real.

    Das BIP stieg in Deutschland im dritten Quartal um 0,7 %. Das nennt man „kräftiges“ Wachstum (zum Beispiel Berliner Zeitung), obwohl schon im nächsten Absatz zugegeben wird, dass damit nur ein Viertel der Produktionsverluste wettgemacht wird, die Deutschland in der Rezession zwischen 2008 und 2009 erlitten hat. Das Bruttoinlandsprodukt wird in Deutschland im Jahre 2009 voraussichtlich um 5 % real unter dem Wert von 2008 liegen. Es handelt sich also um einen Anstieg von 0,7 % aus einem tiefen Keller. –
    Selbst wenn die deutsche Volkwirtschaft nicht so massiv abgestürzt wäre wie zwischen 2008 und 2009, wären 0,7 % plus im Quartal nicht viel. Das sind, einfach gerechnet aufs Jahr bezogen gerade mal 2,8 %. Das ist selbst unter diesen Umständen nur ein schwaches Wachstum. Und dennoch werden solche kleinen Wachstumsraten kontinuierlich in den deutschen Medien auf dem Hintergrund von entsprechenden Aussagen der Spindoktoren als kräftiger Aufschwung und sogar wie in den Jahren 2006 und 2007 als Boom interpretiert.

  2. Der Vergleich mit der Europäischen Union lässt auch die zitierte Interpretation, Deutschland sei eine Lokomotive in der EU, nicht zu.

    Die EU-Länder der Eurozone zum Beispiel sind von 2008 auf 2009 um 4 %, also um weniger als Deutschland, abgestürzt. Schon angesichts dieses Basisunterschieds kann man als erwachsener Mensch ernsthaft eine prognostizierte Wachstumsdifferenz für 2010 von 1,2 % für Deutschland und 0,7 % für die Europäische Union nicht als Beleg dafür interpretieren, dass Deutschland den Rest der EU aus der Rezession herausziehe. Das stimmt erstens nicht, weil mit diesem jämmerlichen Wachstumsraten sowohl Deutschlands als auch der EU die Rezession nicht überwunden ist, und zweitens nicht, weil die Differenz von 0,7 zu 1,2 % minimal ist und schon fast im Bereich der Fehlerwahrscheinlichkeit von Prognosen liegt.
    Auch der Vergleich mit einigen Nachbarländern belegt die Willkürlichkeit der am 13. November veröffentlichten Interpretationen: Belgien zum Beispiel ist durch die Wirtschaftskrise nur um 2,9 % geschrumpft und erholt sich nach der Prognose im Jahr 2010 um 0,6 %. Damit liegt es immer noch über dem deutschen Niveau. Frankreich zum Beispiel ist um 2,2 % % eingebrochen und erholt sich nach der Prognose wie Deutschland um 1,2 % im Jahre 2010. Dänemark zum Beispiel ist um 4,5 %, also fast soviel wie Deutschland, eingebrochen und erholt sich laut Prognose mit 1,5 % mehr als Deutschland.

Dies alles deutet darauf hin, dass wir es mit einer willkürlichen Interpretation der statistischen Ergebnisse und der Prognosen zu tun haben, wenn davon geschwärmt wird, „Deutschlands Konjunktur sei erneut gestiegen“ (Berliner Morgenpost) oder „Europa driftet auseinander“ (Berliner Zeitung).

Der Vorgang als solcher ist nicht von großer Bedeutung; wir weisen dennoch darauf hin:

  • Weil mit ähnlich minimalen Veränderungen immer wieder der angebliche Erfolg der Wirtschafts- und „Reform“politik behauptet wurde und wird. Mit ähnlich kleinen Fortschritten der Volkswirtschaft wurde der angebliche Erfolg der Agenda 2010 und der Hartzgesetze „begründet”.
  • Weil man an den zitierten Meldungen auch ganz gut die Methoden der Irreführung studieren kann: In den einzelnen Artikeln werden immer wieder Experten zitiert, teilweise ohne Namensnennung. „Wie Experten sagen“ – heißt es dann. Auch die in Kapitel 10 meines Buch “Meinungsmache” beschriebene Methode, mit einer Botschaft B die eigentliche Botschaft A transportieren zu wollen, wird in den Texten angewandt: Man behauptet, Deutschland ziehe die EU aus der Krise. Das ist Botschaft B. Damit wollen die Spindoktoren im Hintergrund jedoch die Botschaft A transportieren: Deutschland kommt aus der Krise, die Bundesregierung macht das richtig und ist erfolgreich.

Wenn Sie diese Methoden durchschauen, dann werden Sie sich besser gegen solche kleinen wie auch gegen größere Manipulationen schützen können.

Anlage 1:

Statistisches Bundesamt – Pressemitteilung Nr.430 vom 13.11.2009

Bruttoinlandsprodukt im 3. Quartal 2009 wächst um 0,7% gegenüber Vorquartal

WIESBADEN – Die deutsche Wirtschaft erholt sich weiter: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) war – preis-, saison- und kalenderbereinigt – im dritten Vierteljahr 2009 um 0,7% höher als im Vorquartal, teilt das Statistische Bundesamt (Destatis) mit. Nach dem starken Einbruch im Winterhalbjahr scheint sich der leichte Aufwärtstrend der Wirtschaft aus dem zweiten Quartal (+ 0,4%) fortzusetzen.
 
Im Vorjahresvergleich ist das Ausmaß der Wirtschaftskrise allerdings noch deutlich erkennbar: Das preisbereinigte BIP ging im Vergleich zum dritten Quartal 2008 um 4,7% zurück (kalenderbereinigt – 4,8%). Das Minus fiel damit etwas schwächer aus als noch im zweiten Quartal 2009 (– 7,0%, kalenderbereinigt – 5,8% gegenüber dem Vorjahresquartal). …
Quelle: Statistisches Bundesamt

Anlage 2:

Wachstumsrate des realen BIP – Wachstumsrate des BIP-Volumens – prozentuale Veränderung relativ zum Vorjahr – im EU Vergleich
Quelle: Eurostat

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