„Einem Politiker wie Spahn möchte ich am liebsten sagen: Sei doch einfach ruhig, wenn Du keine Ahnung von dem Thema hast.“
„Leid. Ich sehe viel Leid“, sagt der Mainzer Mediziner Gerhard Trabert im Interview mit den NachDenkSeiten zum Thema Armut. Der Professor für Sozialmedizin, der seit vielen Jahren die Ärmsten in der Gesellschaft medizinisch versorgt, findet klare Worte zu dem Verhalten der Politik, wenn es um Armut im eigenen Land geht. Trabert sagt, so mancher Politiker, der sich berufen fühlt, etwas zum Thema Armut zu sagen, solle erst einmal selbst unter realen Bedingungen erfahren, was es heißt, arm zu sein. Ein Interview über den „Armutseisberg“ und die Realitätsferne der Politik. Das Interview führte Marcus Klöckner.
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Gerhard Trabert weiß, wovon er redet. Er kennt Armut. Er war als Mediziner in den ärmsten Ländern dieser Welt und hat gesehen, welche extremen Ausformungen Armut annehmen kann. Er weiß aber auch: Armut existiert nicht nur weit außerhalb von Deutschland. Auch hier im Land, mitten unter uns, leben Menschen, die Armut ausgesetzt sind. Dagegen kämpft Trabert an. Seit 1997 existiert sein Verein „Armut und Gesundheit in Deutschland“, der ihm und seinem Team dazu dient, direkt und unbürokratisch Hand anzulegen und den Ärmsten in unserer Gesellschaft medizinische Hilfe zukommen zu lassen. In einem zweiteiligen Interview berichtet der Mediziner von seinen Erfahrungen im Umgang mit den Armen und spricht über die Schieflagen in der aktuellen Armutsdiskussion.
Herr Trabert, wir sitzen hier in einem schicken Café in Mainz, einer Stadt mit vielen schönen Gebäuden, der Rheinpromenade und teuren Hotels. Das sieht, oberflächlich betrachtet, doch ganz nett aus hier. Aber wie sieht es mit der Armut aus? Gibt es die hier in Mainz?
Natürlich. Wie in jeder Stadt gibt es auch in Mainz Armut. Sichtbar wird Armut in Städten häufig durch das Wahrnehmen von obdachlosen Menschen, Obdachlosigkeit ist die sichtbare Spitze des Armutseisberges in Deutschland. Viele Kommunen, so teilweise auch die Stadt Mainz, versuchen Obdachlose von öffentlichen Plätzen zu vertreiben.
Finden Sie diese Vertreibungspolitik in Ordnung?
Nein. Die Stadt gehört allen. Auch Menschen, die ohne Obdach sind.
Wir waren beim Bild des Eisbergs.
Wie wir wissen, ist der größte Teil des Eisbergs unter Wasser, er ist also nicht sichtbar. So ähnlich ist es mit von Armut betroffenen Menschen. Die Obdachlosen sehen wir. Da wissen wir mit einem Blick: Hier ist Armut. Aber es gibt viele Menschen, deren Armut nicht so leicht sichtbar ist. Das sind Menschen, die von sozialen Transferleistungen leben. Menschen, die unter Altersarmut leiden. In unsere Poliklinik „Ohne Grenzen“ kommen immer mehr Menschen, die nicht krankenversichert sind, EU-Bürger, die legal bei uns leben, alte Menschen, ehemals privat Versicherte, die die Beiträge nicht mehr zahlen können, oder auch illegalisierte Menschen ohne jeglichen Zugang zu einer Krankheitsbehandlung. Aber auch geflüchtete Menschen, Asylbewerber, die zwar anerkannt sind, aber nur einen eingeschränkten Krankenversicherungsschutz haben.
Was heißt das, eingeschränkter Versicherungsschutz?
Das heißt, dass nur akute Erkrankungen und Schmerzzustände behandelt werden dürfen, was in meinen Augen ein Verstoß gegen die Menschenrechte ist. Was ich sagen möchte, ist: Wir sind im niedrigschwellig konzipierten Gesundheitsversorgungsbereich mit einer ganzen Reihe von Menschen konfrontiert, die von Armut betroffen sind. Gesundheitsversorgung ist ein Menschenrecht!
Bevor wir gleich näher auf die Ursachen dieser Armut zu sprechen kommen: Wir erleben jetzt gerade, dass das Thema Armut auch mal wieder auf der politischen Ebene eine Rolle spielt. Es gab zum Beispiel die Äußerung von Jens Spahn, wonach die Menschen, die von Hartz-IV lebten, nicht hungern müssten. Wie haben Sie diese Aussage aufgenommen?
Was Spahn gesagt hat, macht mich traurig und wütend zugleich. Einem Politiker wie Herrn Spahn möchte ich am liebsten sagen: „Sei doch einfach ruhig, wenn Du keine Ahnung von dem Thema hast.“ Mit so einer Aussage stigmatisiert und diskriminiert er die Menschen, die von Transferleistungen leben müssen. Wir kennen das von Sarrazin, wir kennen das von Ursula von der Leyen, die sich auch auf eine stigmatisierende Art und Weise geäußert haben. Von der Leyen sagte, als es um das Bildungspaket ging, sinngemäß, warum solle man den vorgesehenen Betrag innerhalb des Regelsatzes auszahlen, das werde doch von den Empfängern nur vertrunken oder in Pauschalreisen investiert.
Aber diese Gedanken sind, längst nicht nur bei Politikern, ziemlich vorherrschend, wenn es um die Armen geht. Man unterstellt den Armen auf klassistische Weise, dass sie mit Geld nicht umgehen können und es für Alkohol und Tabak ausgeben.
Das ist schlicht eine Unverschämtheit. Es gibt wissenschaftliche Expertisen, aus denen klar hervorgeht, dass Eltern in einer Armutssituation für ihre Kinder an das eigene Budget gehen und lieber das Geld für ihre Kinder ausgeben als für sich selbst. Mein Kollege, Werner Wüstendörfer, hat dies in mehreren wissenschaftlichen Expertisen sehr gut belegen können. Wenn ich jedenfalls solche Aussagen wie von Spahn oder von der Leyen höre, dann denke ich mir: Die Herren und Damen mögen mal bitte für ein halbes Jahr von Hartz IV leben.
Dann aber bitte unter realen Bedingungen, das heißt, eingebettet in eine marode „Infrastruktur“, wie es bei den Ärmsten eben der Fall ist: Ohne finanzielles Polster, in einer alten Wohnung, in einer heruntergekommenen Gegend lebend (mit all dem Stress und den Problemen, die das bereitet), mit Gebrauchsgegenständen, die allesamt dabei sind, kaputt zu gehen, mit Schulden, mit dem Gerichtsvollzieher vor der Tür usw.
Genau, darum geht es: So mancher Politiker, der sich über die Armen auslässt, müsste unter realen Bedingungen erfahren, was es heißt, hier in dieser Gesellschaft arm zu sein.
Gerade auch die Wohnsituation führt bei sozial benachteiligten Menschen zu vielen Problemen. Wo leben die Menschen denn? Sie leben dort, wo die Mieten billig sind. Und wo sind die Mieten billig? Natürlich in stressauslösenden Wohnlagen, wie zum Beispiel direkt an einer vielbefahrenen Straße oder in den Einflugschneisen von Flughäfen. In Vorträgen frage ich öfter mal: Wissen Sie, was eine alleinerziehende Mutter mit ihrem fünfjährigen Kind pro Tag für ihr Kind für Frühstück, Mittagessen und Abendessen zur Verfügung hat, wenn sie von Hartz IV lebt? Gerade einmal 2,80 Euro.
Wenn man sich diese Zahl vor Augen führt, dann wird einem klar, was es heißt, von so einem Budget zu leben. Ich selbst habe vier Kinder. Wenn Sie im Sommer mit Ihrem Kind durch die Stadt gehen, dann möchte es das, was andere Kinder auch wollen: ein Eis. Eine Kugel Eis kostet 1 Euro oder mehr. Wie wollen Sie diese Ausgabe von 2,80 Euro stemmen? Das geht einfach nicht.
Worauf ich hinaus möchte, ist: Die Kinder von Eltern, die in Einkommensarmut leben, erfahren schon früh, dass sie ausgegrenzt sind. Sie können an dem, was in unserer Gesellschaft an Angeboten vorhanden ist, nicht teilhaben.
Sie sind wütend, wenn Sie darüber sprechen.
Ja, und ich werde zunehmend wütender, wenn ich mir vor Augen führe, dass Politiker, die aus der Oberschicht stammen, keine Ahnung von der Lebenswirklichkeit der betroffenen Menschen haben. Sie wissen nicht, wie es sich anfühlt, wenn man durch Armut stigmatisiert ist. Sie kennen das Gefühl nicht, das Menschen spüren, wenn sie sich viele Male beworben haben und nur Absagen erhalten. Als Student habe ich mal ein Experiment gemacht – in einer Obdachlosensiedlung.
Erzählen Sie uns bitte davon.
Ich habe damals Sozialarbeit studiert und bin dann für 6 Wochen in eine Obdachlosensiedlung gezogen, um zu erfahren, was dieses Leben dort bedeutet. Ich habe dann mit meiner Vita Bewerbungen verschickt. Aber als Adresse war die Obdachlosensiedlung angegeben. Das Ergebnis war: Ich habe keinen Job bekommen. Kurzum: Nicht meine Qualifikation war entscheidend, sondern die Anschrift. Das ist jetzt nur ein Beispiel dafür, wie die Lebensumstände in Armut zur Ausgrenzung führen. Und dann kommt ein Politiker wie Spahn daher und nimmt sich heraus, etwas über sozial benachteiligte Menschen sagen zu können.
Im Gegensatz zu Herrn Spahn sind Sie durch Ihre Arbeit ja sehr nahe dran an den armen Menschen. Was sehen Sie?
Leid. Ich sehe viel Leid. Was glauben Sie, wie solche Aussagen wie die von Herrn Spahn oder von Frau von der Leyen am Selbstwertgefühl der Menschen nagen? Ich kann bei meiner Arbeit beobachten, wie Menschen sich immer mehr aufgeben, weil die äußeren Umstände einfach brutal sind. Arbeitslose Menschen haben im Übrigen eine 20-mal höhere Suizidrate als Erwerbstätige.
Ulrich Schneider hat vor einiger Zeit im Vorwort zu seinem Buch „Kampf gegen die Armut“ bemerkt, dass die Sprache, mit der über arme Menschen geredet werde, furchtbar sei. Er hat eine empathielose, kalte Sprache identifiziert.
Jesper Juul, ein dänischer Familientherapeut, hat im Zusammenhang der Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern den Begriff der Gleichwürdigkeit geprägt. Diesen Begriff, den es in unserer Sprache nicht gibt, verwende ich gerne und sage, dass er die Basis unserer Kommunikation zu benachteiligten, armen Menschen sein muss. Man muss diesen Menschen mit Würde begegnen, ihnen Würde zurückgeben und ihnen so auch dabei helfen, wieder den Glauben an sich selbst, an das Wertvolle in ihnen, an die eigenen Ressourcen zurückzufinden. Manchmal habe ich das Gefühl, dass dieser Teil unserer Arbeit, wenn wir zum Beispiel zu wohnungslosen Menschen gehen und sie ärztlich versorgen, viel wichtiger ist als die Behandlung einer Krankheit oder eines körperlichen Gebrechens.
Warum wird oft so abwertend und mit so einer Geringschätzung über die Armen geredet?
Das ist eine Frage, die ich mir auch schon oft gestellt habe. Ich glaube, das hat sehr viel mit unserem System, mit unserer kapitalistischen Demokratie zu tun. Es geht immer nur um Leistung, Leistung, Leistung. Nur wer, definiert nach kapitalistischen Kriterien, in dieser Gesellschaft etwas leistet, bekommt Anerkennung. Wohnungslose Menschen, Menschen die sich diesem Leistungsdenken nicht unterwerfen, stellen dieses Leistungsparadigma in Frage. Das macht sie gefährlich für das Funktionieren anderer Menschen in dieser Leistungsgesellschaft. Also auch daher kommt vielleicht diese Abschätzigkeit im Verhalten gegenüber sozial benachteiligter Menschen.
Was fällt Ihnen bei der aktuellen Armutsdiskussion auf?
Das Erste, was mir in den Kopf kommt, ist: In der Diskussion wird über Objekte, nicht über Subjekte gesprochen. Die Hintergründe, die dazu geführt haben, dass Menschen abgestürzt sind, ihr Leben, wie man allgemein so sagt, nicht auf die Reihe bekommen, interessiert in der Diskussion kaum jemanden. Bei einer Untersuchung unter Obdachlosen bin ich einmal der Frage nachgegangen, was die Gründe dafür sind, dass Menschen obdachlos geworden sind. Als Hauptgründe wurden angegeben: Verlust der Arbeit und Lebensereignisse, die dramatisch waren, also: Tod des Partners, Tod von Kindern, schwere Krankheit.
In den 25 Jahren meiner Arbeit sind mir diese schweren Krisen bei wohnungslosen Menschen, mit denen ich zu tun habe, immer wieder begegnet. Und ich habe mich gefragt: Wie würde ich eigentlich damit umgehen, wenn mir so etwas zustoßen würde? Wenn ich kein soziales Umfeld hätte, das mich trägt, dann würde es mir vielleicht genauso gehen und ich würde auch obdachlos werden. Vielleicht würde ich auch meine Motivation, zu funktionieren, zu arbeiten, zu leisten, verlieren. Wenn man sich so den Biographien von unter Einkommensarmut betroffener Menschen nähert, dann sind diese vielleicht bisweilen so fremd wirkenden Menschen einem näher und vertrauter und man erkennt, dass man genauso gut auf der anderen Seite stehen könnte, wenn das Leben einem so mitgespielt hätte.
Die Diskussion um die Armen ist oft von Schuldzuweisungen geprägt. „Die“ sind doch selbst schuld an ihrer Misere, heißt es dann. Aber ich habe gelernt, dass die Schuldfrage nicht hilfreich und wenig sinnvoll ist. Ich muss bei der Begegnung dieser Menschen versuchen, ihr Selbstwertgefühl zu stärken, darf sie nicht mit Schuldzuweisungen überhäufen.
Aber das Gegenteil ist der Fall?
So ist es. Ich beobachte aber immer wieder, dass von Armut betroffene Menschen Strukturen ausgesetzt sind, die genau das Gegenteil tun und bewirken. Ob Jobcenter, Sozialämter, Krankenkassen: Diese Einrichtungen sind oft Hindernisse, sie sind Steine im Weg der Menschen zurück in die Gesellschaft. Das heißt, zu ihrem bereits sehr steinigen Weg werden von diesen Ämtern und Behörden noch weitere Steine dazugelegt, über die sie dann zu gehen haben.
Wie geschieht das?
Die Behörden stellen oft administrative Hürden auf, die sozial benachteiligte Menschen aufgrund ihrer fehlenden Kraft gar nicht mehr nehmen können. Außerdem beraten sie beispielsweise nicht rechtskonform. Hinzu kommt, dass neben den bürokratischen Hürden auf den Ämtern oft den Menschen auch noch vermittelt wird, dass sie selbst schuld sind, keinen Wert haben usw. Zudem sind Antragsformulare in einer Sprache verschriftlicht, die kaum verstehbar ist.
Sie haben gerade von den Steinen gesprochen, die den Armen in den Weg gelegt werden. Kann es sein, dass die Rutschbahn, die nach unten führt, ziemlich glattpoliert ist? Nehmen wir doch nur mal die Sanktionsmaßnahmen, gerade auch gegen jüngere Transferleistungsbezieher.
Die Agenda 2010 war für viele Menschen eine Katastrophe. Die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes ist auf dem Rücken der Armen geschehen. Mit der Agenda haben wir tatsächlich, wie sie sagen, eine Art Rutschbahn installiert, die in die Armut führt. Gerade das Mittel der Sanktionen trägt zum Absturz von Menschen bei. Die Politik spricht von einem Fördern und Fordern. Da wird überhaupt nicht bedacht, in welchen Lebenssituationen die Menschen sind. Die Betroffenen sind mit dem, was von ihnen gefordert wird, oft überfordert. Sie können nicht erfüllen, was die Ämter von ihnen verlangen. Diese Bringleistung ist oft, meines Erachtens, so intransparent und hochschwellig, dass ein Scheitern, ein Nichterfüllen strukturell gewollt ist. Ich halte von diesen Sanktionen absolut nichts.
Die Sanktionen bewegen sich, pädagogisch betrachtet, auf einer Ebene mit dem Konzept der Prügelstrafe.
Absolut. Aber seien wir nicht naiv: Diejenigen, die die Agenda 2010 samt den darin enthaltenen Sanktionsmaßnahmen ausgearbeitet haben, waren ja keine Dummköpfe. Es gibt natürlich ein Kalkül hinter den Sanktionsmaßnahmen. Man arbeitet hier mit Abschreckung, anstatt ernsthaft Armut zu bekämpfen. Nehmen Sie nur den aktuellen Koalitionsvertrag. Wo wird darin wirklich Armut bekämpft?
Hier geht es zum zweiten Teil des Interviews mit Gerhard Trabert.