Europa als Anhängsel der USA oder eigenständig? Dazu gibt es ein interessantes Dokument

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Als wir am 3. April dieses Foto veröffentlicht hatten, machte ein Leser der NachDenkSeiten darauf aufmerksam, dass der russische Präsident in einem späteren Interview genau auf diese Szene im Deutschen Bundestag eingegangen war.

Putin berichtete in dem Interview, der in seiner Rede im Deutschen Bundestag am 25. September 2001 gemachte Vorschlag für eine enge Zusammenarbeit in Europa einschließlich Russlands gehe auf den deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl zurück. Wörtlich: ‚Und ich hörte zum ersten Mal von Bundeskanzler Kohl, …, wie er plötzlich sagte: “Ich sehe keine Zukunft für Europa ohne Russland.”‘ Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.


Helmut Kohl hatte, so berichtete Putin in dem Interview, Anfang der Neunzigerjahre in einem Gespräch mit dem Oberbürgermeister von Sankt Petersburg und in Gegenwart des als Übersetzer eingesprungenen Vladimir Putin genau das vorgeschlagen: die Zusammenarbeit in Europa einschließlich Russlands und die gleichzeitige Loslösung von der Vorherrschaft der USA.

Angelika Eberl hat für die NachDenkSeiten die einschlägigen Passagen des Interviews übersetzt. Was wir da zu hören und zu lesen bekommen, ist ausgesprochen spannend und aktuell. Hier ist zunächst der Link auf das Interview und dann folgt der Text:

VIDEO II

32:51: Der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin sagt zu dem Journalisten Soloviev:

Sie haben mich an meine Rede im Bundestag erinnert. Es war 2001, nicht wahr? Bis dahin war ich Sekretär des Sicherheitsrates, Ministerpräsident und ein Jahr zuvor Präsident geworden. Ich war auch Direktor des FSB. Ich hatte viele Informationen zur Verfügung. Ich hatte mir eine Meinung gebildet, was vor sich ging und in welche Richtung. Als ich 2001 im Bundestag das Wort ergriff, sprach ich von der Notwendigkeit, unsere Bemühungen mit Europa zu bündeln, zusammenzuarbeiten und den gemeinsamen politischen Raum zu schaffen. Der Eindruck im Bundestag war, dass es meine eigenen Ideen und Vorschläge gewesen seien. Aber es waren nicht meine Ideen. Bereits 1992 oder 1993 nahm mich der Petersburger Bürgermeister Sobtschak mit nach Bonn, wo er ein Treffen mit Bundeskanzler Helmut Kohl hatte. Irgendwann schickte Kohl alle Anwesenden, auch den Übersetzer, hinaus. Und ich übersetzte das Gespräch zwischen ihnen. Und ich hörte zum ersten Mal von Bundeskanzler Kohl, der in Bonn und nicht in Berlin lebte, wie er plötzlich sagte: “Ich sehe keine Zukunft für Europa ohne Russland.” Für mich, einen ehemaligen Offizier des KGB und des Geheimdienstes, war das wie eine Offenbarung. Ich habe nicht erwartet, so etwas zu hören. Es war sehr interessant. Und er erklärte mit Überzeugung, warum er das dachte. Er sagte, dass in der Welt neue, mächtige und gigantische Machtzentren im Aufstreben seien. Und es ging mit Asien weiter. Er sagte, dass sich die Vereinigten Staaten mit der Zeit mehr und mehr um ihre eigenen Angelegenheiten und um die des amerikanischen Kontinents kümmern würden. Und das ist genau das, was gerade passiert. Alles, was Kohl 1992 sagte, wurde Realität. Und er sagte, wenn Europa als unabhängige Macht und unabhängige Zivilisation überleben wolle, müsse es sich mit Russland zusammentun, mit seinen weiten Gebieten, seinen unerschöpflichen natürlichen Ressourcen und seiner kulturellen und spirituellen Nähe zu Europa. Es müsse sich mit der Wissenschaft und dem Verteidigungspotential Russlands vereinen. Gelingt es, dies zu tun, dann bleiben sie ein unabhängiges Machtzentrum in der Welt. Das hat er an diesem Tag gesagt, und ich habe nur seine Ideen aufgegriffen und seine Worte im Bundestag wiederholt. Ich konnte mich nicht auf den Mann beziehen, der das gesagt hat, aber ich habe seinen Standpunkt immer geteilt.

Rückblende zum Bundestag, 25. September 2001. Man sieht Helmut Kohl und hört die Stimme von Wladimir Putin in deutsch sprechen. Putin damals: Heute müssen wir das Ende des Kalten Krieges ein für alle Mal erklären. [Klatschen]. Wir geben unsere Stereotypen und Ambitionen auf und werden gemeinsam die Sicherheit Europas und der ganzen Welt wahren. [Ende Rückblende]

Leider ist das nicht geschehen. Was habe ich 2007 in meiner Münchner Rede gesagt? Ich sagte, dass es ein Land gibt, nämlich die Vereinigten Staaten von Amerika, die den Ehrgeiz haben, ihre Zuständigkeit über ihr eigenes Territorium und ihre nationalen Grenzen hinaus, auszudehnen. Niemand wollte dem zustimmen. Das habe ich 2007 gesagt. Einige europäische Staats- und Regierungschefs – mögen sie sich wohlbefinden – einige von ihnen sind noch in der Politik – sagten, meine Rede sei zu hart. Und ich sagte: Sie stimmen mir nicht zu? Sie sagten weiter nichts dazu.

Rückblende zu Wladimir Putins Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz, 10. Februar 2007, Putin sagte damals: Man sollte nicht so tun, als sei man der Allmächtige und für andere Länder entscheiden. [es wird eingeblendet: Münchner Sicherheitskonferenz, 10. Februar 2007.] Wir können nur günstige Bedingungen schaffen, die den Menschen helfen, ihre Probleme zu lösen.
Wir müssen als Garanten der Verträge und Abkommen auftreten. Aber wir können diese Verträge und Abkommen den Menschen nicht aufzwingen. Sonst enden wir in einer Sackgasse. Ende der Einblendung Münchner Sicherheitskonferenz 2017.

37:27…
Ende des übersetzten Abschnitts.

Ergänzende Anmerkungen dazu:

Diese Aussagen von Putin sind in vieler Hinsicht interessant.

  • Sie bestätigen zum Beispiel, was Willy Wimmer beim Pleisweiler Gespräch am 21.6.2014 berichtet hatte – dass nämlich Helmut Kohl des Öfteren voller Sorgen aus Besprechungen mit dem Präsidenten und der Regierung der USA zurückkam. Er hat dort erlebt, wie die vereinbarte Zusammenarbeit mit Russland missachtet wird und die USA ganz andere, nämlich imperiale Ziele in Europa und Asien, verfolgen.
  • Inzwischen bereitet die Abhängigkeit von den USA weder im Kanzleramt noch im Auswärtigen Amt in Berlin irgendwelche Sorgen. Die handelnden Personen sind Teil des transatlantischen Systems. Siehe dazu auch das Thema der zuvor gerade eingestellten Leserbriefe zum Thema Unterwanderung.
  • Der Bericht Putins beleuchtet auf seine Weise auch die Bestrebungen und Machenschaften des US-amerikanischen Politikberaters Friedman von Stratfor. Darauf sind wir in einem NachDenkSeiten-Beitrag im Frühjahr 2015 eingegangen. Siehe hier am 13. März 2015: ‘„Der Tod kommt aus Amerika“ und die Bestätigung durch den Chef von STRATFOR‘.
    Auch diesen Artikel nachzulesen, lohnt sich.

Das ist alles einschlägig für das Nachdenken über die entscheidende Frage, ob Europa ein Anhängsel der USA bleibt oder eigenständig wird. Zurzeit sehen die Perspektiven düster aus. Die meisten europäischen Staaten haben sich unter der Rädelsführerschaft der britischen Ministerpräsidentin und ihres Außenministers zum Vasallentum entschlossen. Darauf lässt jedenfalls das Agieren in der Affäre um den Giftanschlag von Salisbury schließen.

Nachbemerkung: Was wir Ihnen hier an Informationen bieten, zeigt auch, wie großartig die NachDenkSeiten-Leser auf unsere redaktionelle Arbeit einwirken und wie produktiv sie sind. Als kleine Redaktion können wir so viel gar nicht beobachten, wie nötig ist, um Sie auf dem Laufenden zu halten. Deshalb sind wir dankbar, so wie in diesem Fall auf Hinweise unserer Leser zurückgreifen zu können.