Der haitianische und venezolanische “Tsunami”
Massen-Migration als Traum vom besseren Leben und Bühne rechtsradikaler Einmischung am Beispiel Chiles. Zuwanderung und Flüchtlingswellen sind längst kein ausschließliches europäisches Thema. Von europäischen Medien nahezu unbemerkt, ist die Massen-Migration auf dem amerikanischen Kontinent ein viel älteres Phänomen als die anhaltende Flüchtlingsflut von Nahost nach Westeuropa. Als Ursprungsländer der Massen-Migration in Lateinamerika stehen Haiti und Venezuela im Fokus der Berichterstattung, verändern das Straßenbild und heizen die Debatte über die „zumutbare Obergrenze” in Aufnahmeländern wie Chile an. Von Frederico Füllgraf.
Nach unterschiedlichen Schätzungen schwankt die Zahl der Venezolaner, die seit 2015 ihr Land verlassen haben, zwischen 1,4 Millionen und 2,0 Millionen Menschen, von denen allein im vergangenen Jahr 250.000 nach Chile strömten. Die venezolanische Regierung hat diese Zahl wiederholt angezweifelt, vergisst dabei jedoch, dass ihre eigene, offizielle Zählung bereits 2011 die Zahl der ausgewanderten Staatsbürger mit 1.156.578 bezifferte.
Dass seit spätestens 2015 am rasant zunehmenden Exodus aus der bolivarischen Republik mehr dran ist als aufgeputschte Statistik und konservative Propaganda, zeigt allein schon die Zahl der auf dem gerade 1,3 Millionen Einwohner zählenden Trinidad and Tobago gestrandeten 40.000 Venezolaner. Die Angaben sind vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) und beschreiben ähnliche Zustände im benachbarten Panama und der Dominikanischen Republik (‘At home, we couldn’t get by’: more Venezuelans flee as crisis deepens – The Guardian, 17. Juli 2017).
Die Massenauswanderung ist nur zum Teil politisch motiviert, ist sie doch auch Symptom des sozialen Aufstiegsdrucks der Mittelschichten und der schwindelerregenden Kriminalitätsrate, die mit 130,3 Morden auf je 100.000 Einwohner Caracas zur gewalttätigsten Stadt auf dem amerikanischen Kontinent mutieren ließ (Las ciudades más violentas del mundo son latinoamericanas – Sputnik, 12. Januar 2018).
Von ähnlicher Größenordnung ist die ältere, sogenannte „haitianische Diaspora”, die ebenfalls 2 Millionen Menschen umfasst und 20 Prozent der Bevölkerung des knapp 11 Millionen Einwohner zählenden, karibischen Inselstaates ausmacht; davon 975.000 allein in den USA, gefolgt von der Dominikanischen Republik (500.000 bis 800.000), Cuba (300.000), Kanada (200.000) und Brasilien (130.000), das seit 2016 von Chile abgehängt wird, wo zwischen 150.000 und 170.000 Haitianer als „Touristen” landeten. Das kaum 17 Millionen Einwohner zählende Chile nahm 2017 mehr als 350.000 teils legal, teils illegal zugereiste Venezolaner und Haitianer auf, die zusammen mit 130.000 Peruanern, die in den 1990-er Jahren vor der Fujimori-Diktatur flüchteten, eine halbe Million neu zugewanderter Ausländer ausmachen.
„You have 18 months to pack your bags!”, drohte Präsident Donald Trump zur gleichen Zeit rund 60.000 Haitianern nach seinem geopolitischen Schlachtbefehl „Amerika first!” und dem Beschluss, die USA mit einer Mauer vor der illegalen Einwanderung aus Mexiko abzuschotten (Trump to 59,000 Haitians: – Vox, 20, November 2017). Ab Juli 2019 sollen die zu hunderttausenden in den USA lebenden Haitianer jede Form humanitären Schutzes verlieren.
José Antonio Kast, unterlegener deutschstämmiger Rechtsaußen-Kandidat während der jüngsten Präsidentschaftswahlen in Chile, wollte Trump mit Exaltiertheit nicht nachstehen und empfahl vor der Stichwahl Sebastián Piñera den Bau „physischer Bollwerke“ an der 170 Kilometer kurzen Grenze zwischen Chile und Peru und entlang der 1.000 Kilometer langen Demarkationslinie zwischen Chile und Bolivien; angeblich „gegen den Drogenschmuggel“, den Kast Ausländern andichtete (Muros en fronteras y militares en La Araucanía: Piñera incorpora medidas de seguridad de Kast a su programa – El Dinamo, 27. November 2017). Die konservativen Stammwähler würdigten Kasts patriotische Befestigungsanlagen und Sebastián Piñera gewann bekanntlich auch mit nur schlecht kaschierter Ausländerfeindlichkeit die Präsidentschaftswahlen.
Heimat kaputt: Hintergründe der haitianischen Massenflucht
Die Weltbank, die Interamerikanische Entwicklungsbank (IDB) und die Europäische Union haben in den vergangenen fünf Jahren Haiti zwar Kredite und Nothilfe-Leistungen von umgerechnet 2,0 Milliarden Euro gewährt, doch die Summe war angesichts des desolaten Zustands im Land bisher ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Da meldete sich plötzlich die VR China. Ende August 2017 erklärte die chinesische Regierung, sie plane 30 Milliarden US-Dollar in Haiti zu investieren. Zur Mega-Investition gehören unter anderem Kraftwerksprojekte, Fernstraßen, Stadthallen, Märkte und zigtausende Wohnungen. Mit einem Wort: der erste integrale und glaubwürdige Wiederaufbau-Plan für den zerstörten Inselstaat (Gobierno de China invertirá US$30 mil millones en Haití – Al Momento, 31.August 2017).
Am 12. Januar 2010 wurde Haiti von einem Erdbeben der Stärke 7,0 verwüstet, das verheerendste seit zwei Jahrhunderten. Es forderte 222.750 Todesopfer und die Vertreibung von 1,5 Millionen Haitianern. Die Überlebenden hatten keinen Zugang zu Grundnahrungsmitteln, Wasser-, Sanitär-, Gesundheits-Notfalldiensten und den elementarsten Formen sicheren Unterschlupfs. Mit 770.000 geschätzten Fällen brach zudem Monate später die größte Cholera-Epidemie aller Zeiten aus, die mit Leichtigkeit hätte bekämpft werden können, jedoch bis Mai 2016 mehr als 9.000 Menschenleben forderte (Generaldirektion Humanitäre Hilfe und Katastrophenschutz/GD ECHO, 21. Oktober 2016).
Mit einem Pro-Kopf-Jahreseinkommen von 739 US-Dollar (2016) ist Haiti nach Angaben der Weltbank das ärmste Land auf dem amerikanischen Kontinent und eines der ärmsten der Welt. Haushaltsbefragungen nach dem Erdbeben ergaben, dass mehr als 6 Millionen, also 59 Prozent der 10,4 Millionen Haitianer, unter der nationalen Armutsgrenze von 2,41 Dollar/Tag und über 2,5 Millionen unter der extremen Armutsgrenze von 1,23 Dollar/Tag lebten. Haiti ist zugleich eines der sozial ungleichsten Länder, mit einem Gini-Koeffizienten von 0,59, was die niedrig ausgebildete Resilienz erklären mag.
Maßgebliche Untersuchungen über Entwicklungs- und Demokratie-Standards in Haiti verweisen auf die extrem hohe Gewalt-Statistik, insbesondere gegen Frauen und Kinder: 35 Prozent aller Frauen über 15 Jahre sind Opfer körperlicher Gewalt im häuslichen Bereich. Mit 34 Morden je 100.000 Einwohner übertrifft Haiti zudem den regionalen Durchschnitt von 22,9/100.000.
Doch nicht alles sind Naturgewalten. Erdbeben und Epidemien allein erklären nicht die Extrem-Armut des einst revolutionären Inselstaates. „Wenn Haitis Bruttoinlandsprodukt 8,5 Milliarden Dollar beträgt, dann sind ungefähr 95 Prozent davon in den Händen von zehn Familien“, ist verschiedentlich zu lesen (Who is the richest person in Haiti and how did he make his money? – Quora, April 2013).
Die sechs reichsten Familien in Haiti heißen Madsen, Brandt, Lacombe, Gardere, Mevs, Bigio und entstammen weißen Einwanderern aus Europa und Nahost. Sie waren politisch eng in die blutige Diktatur François „Papa Doc” Duvaliers (1957 – 1971) involviert und verdanken ihr den Aufstieg und die Monopolstellung in der lokalen Wirtschaft. Ihnen wird auch eine entscheidende Rolle beim Staatsstreich von 2004 nachgesagt, als der demokratisch gewählte Präsident und schwarze Millionär Jean-Bertrand Aristide aus dem Amt gejagt wurde.
Als schließlich im September 2013 das Verfassungsgericht der Dominikanischen Republik – Ersatzheimat von bis zu 800.000 Haitianern – eine Resolution erließ, wonach die im Lande geborenen Kinder ausländischer Eltern, die keinen regulären Migranten-Status besaßen, kein Recht auf dominikanische Staatsbürgerschaft hatten, machte die Mehrheit der Betroffenen keinen Gebrauch vom Angebot, ihren Status bis Juni 2015 zu regeln. So begann der haitianische Massen-Exodus auch im dominikanischen Nachbarland. Seitdem überschritten rund 86.000 Menschen die Grenze nach Haiti, gefolgt von mindestens 1.200 vollwaisen Kindern. Von Haiti nach Südamerika war ihr nächster Schritt.
Das chilenische Geschäft mit den Migranten
Die chilenischen Einreisebestimmungen von 1975, aus der Ära Pinochet, gehören zu den reformbedürftigsten Lateinamerikas. Wenige afrikanische und asiatische Länder, zuzüglich Kuba, Dominica und Guyana, benötigen für Chile ein Einreisevisum. Von Touristen wird lediglich die Vorlage eines gültigen Reisepasses verlangt, der sie zum international üblichen Aufenthaltsvisum für die Dauer von 90 Tagen berechtigt. „Irreguläre” Migranten sind streng genommen nur diejenigen, die heimlich einreisen und die, die die Frist überziehen, ein Verstoß, der mit bis zu 20 Mindestlöhnen (maximal 8.000 Euro) geahndet werden kann.
Gleichwohl erhielt die chilenische Kriminalpolizei PDI Mitte 2016 eine Anzeige gegen den verstärkten Zustrom von Haitianern, die in Wahrheit nicht als Touristen, sondern mit Arbeits- und Wohnabsichten in Chile einreisen würden. Die Anzeige hatte eine Kriminaluntersuchung über die Beteiligung der damals gerade neu gegründeten, chilenischen Fluggesellschaft Latin American Wings (LAW) an angeblichem Menschenhandel zur Folge. Zum Flugpreis von 730 Dollar operierte LAW nahezu als Exklusivanbieter für den Transport von Haitianern, vor allem zwischen dem dominikanischen Flughafen Punta Cana und Santiago de Chile.
Die eingeschaltete Staatsanwaltschaft stieß bei der Untersuchung auf ein Geschäft für die Ausstellung falscher Einladungen und Arbeitsverträge durch fiktive Kircheneinrichtungen, wofür die Haitianer 300 Dollar zahlen mussten. Handlungsort waren anrüchige Reisebüros auf Santiagos elegischer Plaza de Armas im Herzen Santiagos. Der Schwindel flog auf, als Beamte der Ausländerbehörde feststellten, dass ein und dieselbe Person 300 angebliche Verträge ausgestellt und damit einen Gewinn von umgerechnet 23.000 Dollar erzielt hatte. (Fiscalía investiga a aerolínea en caso de tráfico de haitianos en Chile – Cooperativa, 20.November 2016). Die Fluggesellschaft LAW stand im Verdacht, an dem Schwindel mit Zahlung von Kommissionen beteiligt gewesen zu sein. Im September 2017 erhielt LAW Landeverbot in Haiti und stellte im Januar 2018 ihren Flugverkehr für Chile ein.
Haitianer in Chile: schlechtbezahlte Drecksarbeit und aufkeimender Rassismus
Als Brasilien, die größte Wahlheimat der arabischen Gemeinde außerhalb des Vorderen Orients, 2015 beschloss, die Mehrheit von 5.000 syrischen Flüchtlingen aufzunehmen, die in Europa nicht hereingelassen wurden, warf der in den NachDenkSeiten vielfach zitierte, rechtsradikale Ex-Hauptmann der Armee und gegenwärtige Präsidentschaftskandidat Jair Bolsonaro in einem Zeitungsinterview mit rassistischem Gedankengut um sich. Die Flüchtlinge seien der „Abschaum der Welt” (Bolsonaro vê imigrantes como “ameaça” e chama refugiados de “a escória do mundo” – Opção, 18. September 2015).
In den gleichen Chor des Fremdenhasses stimmten Rechtsextreme in Chile mit paranoiden Sätzen in den sozialen Netzwerken ein, wie „Haitianer sind getarnte Terroristen, die in Kuba ausgebildet wurden und den Auftrag haben, Chile mit einem Krieg zu überziehen”.
Der populäre Ansager von Santiagos Radio Agricultura, Sergio „Checho” Hirane, war plötzlich von einem Ansturm rassenhygienischer Paranoia ergriffen und erbrach sich im Äther mit den Worten:
„Aus humanitären Gründen bin ich ein Befürworter der Einwanderung gewesen, aber ich bin auch besorgt über die fehlende Kontrolle. Das ist kein Pappenstiel, sie kann die Rasse verändern“.
Hirane bezog sich auf eine ominöse „Reinheit der chilenischen Rasse“ und blieb nicht unwidersprochen. Der Satz löste bei Hörern und in den sozialen Netzwerken Empörung aus (Checho Hirane lanza frase racista por ingreso de extranjeros al país: “Esto puede cambiar la raza” – El Mostrador, 27. Februar 2018).
Doch kein anschaulicheres Beispiel steht für chilenischen Rassismus als das mit Mayonnaise, Senf, Ketchup und Spucke angegriffene Gesicht eines haitianischen Arbeiters in der Ortschaft Santa Cruz, 150 Kilometer südlich von Santiago. Vor wenigen Tagen schmetterte ein weißer, chilenischer Kunde dem Angestellten eines Tankstellen-Kiosks die Reste eines Hotdogs ins Gesicht (siehe Video), weil dem Sandwich angeblich der hierzulande beliebte Avocado-Aufstrich fehlte. Das Attentat auf die Menschenwürde entfesselte hunderttausendfaches Magenumdrehen und einen medialen Ansturm von Entsetzen gegen den nur ungern zugegebenen Rassenhass im Lande.
„Wenn es eine „Invasion” gäbe, wären es die Venezolaner, nicht die Haitianer. Immer, wenn Menschenhandel oder Arbeitsausbeutung nachgewiesen werden, sind Haitianer Opfer und nicht Täter“, hatte Wochen zuvor der junge Jurist Arturo Subercaseaux getwittert und seinen konservativen Landsleuten das Maul mit harten Fakten gestopft: „2017 zahlten sie 490 Millionen Dollar an Einkommenssteuer und zusammen mit den 2,9 Prozent der Migranten 913 Millionen Dollar Umsatzsteuer“ (El aplaudido análisis tuitero sobre llegada de haitianos a Chile – Publimetro, 02. März 2018). Der Preis für die Demütigungen: Vergessen hatte Subercaseaux, dass zudem die Geld-Überweisungen von Chile nach Haiti in den vergangenen Jahren um 400 Prozent zunahmen und 2016 den Rekordwert von 36 Millionen Dollar erreichten; ein Opfergang für die verarmten, daheimgebliebenen Familienangehörigen (Envío de dinero desde Chile a Haití aumentó casi 400% en 2016 – La Tercera, 01. Juli 2017).
Nicht weniger rabiat geht es auf dem sogenannten „Arbeitsmarkt“ zu. Haitianer sieht man als Straßenfeger, Gehilfen auf dem Bau, Pflücker auf Frucht- und Gemüseplantagen oder als Kistenschlepper auf Märkten, die Frauen zumeist als Domestiken oder Küchengehilfinnen; allesamt von Chilenen gemiedene Drecks- und Schwerarbeiten.
An Beispielen für die miserable Behandlung der für ihren Einsatz und Fleiß landesweit gelobten Haitianer mangelt es nicht. Bereits im März 2017 bestätigte Ildefonso Galaz, Inspektor der Arbeitsaufsichtsbehörde Maule, die Klagen haitianischer Saisonarbeiter, deren Arbeitgeber sich aus dem Staub gemacht und ihre Gehälter nicht gezahlt hatten. Nicht weniger als 140 gleichlautende Beschwerden sind bei der Behörde eingereicht worden, die auf die prekären Arbeitsbedingungen der haitianischen Zuwanderer im Obstsektor verwiesen und behördliches Eingreifen forderten.
Die “qualifizierten” und überwiegend rechtsradikalen Venezolaner
Der jüngste Bericht der Internationalen Organisation für Migrationen der Vereinten Nationen vom Februar 2018 beziffert die Zahl der im Ausland lebenden Venezolaner – einschließlich jener mit Flüchtlingsstatus oder als Asylantragsteller – auf rund 1,6 Menschen (World Migration Report 2018, S. 75 ff.). „The Bolivarian Republic of Venezuela had the next largest migrant population, followed by Mexico and Brazil“, heißt in der Einleitung zum Kapitel über die Karibik und Lateinamerika.
„Seit 2013 ist die reguläre Zuwanderung aus Venezuela um das 19-fache gestiegen“, hieß es Ende 2017 in chilenischen Medien (Venezolanos lideran solicitudes de residencia en Chile durante 2017 – La Tercera, 30. Oktober 2017). Einem Bericht der Ausländerbehörde an den Ausschuss für Innere Angelegenheiten der Abgeordnetenkammer zufolge besetzen die zugewanderten Venezolaner – selbst gegenüber Nachbarländern wie Argentinien oder anderen, explosiv zunehmenden Gruppen wie die der Haitianer – in den vergangenen drei Jahren den Rang der viertgrößten ausländischen Gemeinde in Chile.
„Der venezolanische Einwanderer unterscheidet sich von anderen Lateinamerikanern”, erklärt Hector Carvacho, Professor für Psychologie an der Katholischen Universität Chiles. Der Venezolaner sei nicht der „typische Ausländer”, der sich ein Land allein aus höheren wirtschaftlichen Erwägungen aussucht. Sie seien in Bezug auf Bildung und Arbeit besser qualifiziert, wertet Carvacho. Oder mit anderen Worten: „Menschen mit größerem sozialen und kulturellen Kapital”, die, so warnt er, „die obere Mittelschicht zum Integrationsziel haben, wo sie am besten empfangen werden… Was genau deshalb nicht bedeutet, dass sie bleiben werden. Sie könnten ein anderes Migrationsziel wählen, wenn Chile nicht ihre Erwartungen erfüllt.”
Gilberto Aranda, Lateinamerika-Forscher an der Universidad de Chile, bringt das Profil der Venezolaner präziser auf den Punkt. Es handele sich vorwiegend um junge Fachkräfte mit frischem Hochschulabschluss, die nach „neuen Horizonten“ suchen. Sie wollen in Wohlstand und politischer Freiheit leben, die sie in Venezuela nicht finden.
Im Mai 2017 ging es los mit dem „Leben in politischer Freiheit“. Mit einem Riesentransparent „Schluss mit der Diktatur in Venezuela!“ protestierten hunderte Venezolaner in Chile gegen die Regierung Nicolás Maduro in der Nähe der venezolanischen Botschaft in Santiago. Gleichwohl, als die rechten Venezolaner das diplomatische Quartier im Nobelbezirk Providencia zu erreichen versuchten, wurden sie von Gegendemonstranten daran gehindert.
Mit Fahnen der ehemaligen Guerilla-Organisation „Patriotische Front Manuel Rodríguez (FPMR)“ und der kommunistischen Jugend antworteten die Chilenen, dass die venezolanische Regierung demokratisch gewählt worden sei. Es kam zum Handgemenge, Spezialeinheiten der Polizei griffen ein und trieben die Parteien auseinander, jedoch befeuert von der chilenischen Rechten reißen die Demonstrationen der ausgewanderten Feinde des Chavismo nicht mehr ab.
Der Gipfel ungebetener Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chiles war ein Video der Maduro-Feinde von Ende November 2017 mit einem Wahlaufruf gegen den Mitte-Links-Präsidentschaftskandidaten Alejandro Guillier. Das Video kreierte die Verschwörungstheorie von der angeblichen Unterstützung des eher scheuen Sozialdemokraten Alejandro Guillier durch den Erzfeind der chilenischen Rechten, Nicolás Maduro. Der konservative Sebastián Piñera machte sich den Aufruf zu eigen und verglich seinen Gegner mit dem venezolanischen Präsidenten:
„Ich sehe, es wird immer heftiger, mehr demagogisch, sprunghafter Tag für Tag, wie Nicolas Maduro.”
Obwohl das Video keinen der beiden Kandidaten erwähnte, verfolgte es unmissverständliche politische Zwecke: „Vor einiger Zeit wählte ich Chile zu meiner zweiten Heimat, weil ich aus Venezuela fliehen musste“, schluchzt eine Maduro-Gegnerin. „Deshalb sage ich Ihnen heute“, alarmiert ein Venezolaner, „wenn Sie wählen, sollten Sie mit Gewissen abstimmen, für Chile stimmen!“. Zu den Stimmen der Haitianer-Feinde gesellten sich rasch die Stimmen der paranoid gestimmten Maduro-Feinde. Auch deshalb gewann Sebastián Piñera die Wahl.
Nachtrag – Der Fake von den „5 Millionen Kolumbianern” oder wie alternative Medien ihren Gegnern in die Hände spielen
In einem kürzlichen Beitrag von Maria Müller (Vermeintliche Flüchtlingskrise: Wie Kolumbien die Welt an der Nase herumführt – RT Deutsch, 20.03.2018) wird mit ungeprüften oder nicht ordentlich recherchierten Zahlen Unfug über venezolanische und kolumbianische Migranten und Flüchtlinge verbreitet, der so leider nicht unkommentiert stehenbleiben kann.
„… Etwa 70 Prozent der Menschen, die heute nach Kolumbien kommen, sind rückkehrwillige Exil-Kolumbianer”, schreibt Müller. Demnach hätten sich “in den vergangenen 20 Jahren … rund fünf Millionen auf der Flucht vor Krieg und Armut dauerhaft oder vorübergehend in Venezuela niedergelassen. Sie wurden dort ohne viel Aufsehen in das soziale System integriert und den Venezolanern gleichgestellt. Venezuela erbat nie internationale Hilfe angesichts dieses beträchtlichen finanziellen Solidaritätsaufwands.”
Woher Müller sich diese Zahl holte, ist schleierhaft. Die venezolanische Volkszählung von 2014 erwähnt ausdrücklich 721.791 Kolumbianer (XIV Censo Nacional de Población y Vivienda – INE, 2014, S. 42). Ferner widerlegte eine Forschergruppe unter Führung der Kolumbianerin Socorro Ramírez (Universidad Nacional de Colombia) und des Venezolaners Antonio De Lisio (Universidad Central de Venezuela) mit überzeugend recherchierten Quellen die von verschiedenen progressiven Publikationen verbreitete Version von “5 Millionen Kolumbianern”, die offenbar das vergebliche Ziel verfolgt, den venezolanischen Exodus kleinzuschreiben.
Nach Angaben ihres Berichts heißt es, „das von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) erarbeitete Migrationsprofil von Südamerika 2012, mit Zahlen des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR), stellte ein Länder-Ranking auf, in denen Kolumbianer mit Flüchtlingsstatus lebten: Ecuador (54.243), USA (22.004), Kanada (17.243) und Costa Rica (10.297); Venezuela lag mit 1.941 kolumbianischen Flüchtlingen an fünfter Stelle”.
Ferner ist zu lesen:
„Zu Beginn des Jahres 2014 zählte UNHCR 204.259 Kolumbianer in Venezuela, die als schutzbedürftige Personen galten, und gewährte davon 23.195 Menschen Unterstützung … Das Jahr schloss mit 173.519 Schutzbedürftigen, von denen in Venezuela 34.083 unterstützt wurden…”.
Und weiter heißt es:
„Zum Zweck der Identitäts-Feststellung hatte Präsident Hugo Chávez, gemäß dem Amtsblatt Nr. 37.871 vom 3. Februar 2004, den Nationalen Plan zur Legalisierung und Einbürgerung von Ausländern eingeführt … Im Jahr 2005 verkündete der Direktor der Ausländerkontrollabteilung der Onidex, dass die Mission den Umständen ´gerecht´ geworden sei, weil damit die Lage von 273.000 undokumentierten Einwanderern – darunter 186.000 Kolumbianer und viele ´Opfer von Erpressung und Missbrauch´ – legalisiert worden sei, die sich andernfalls um bis zu 30 Jahre verzögert hätte … Er bestätigte auch, dass die Behörde 700.000 Anfragen erhalten habe, von denen 85 Prozent (etwa 595.000) Kolumbianer waren. Von den 427.000 Bewerbungen stammten wiederum 409.000 von Kolumbianern“.
Das Schlusswort der Forscher gegen die Mär von den „5 Millionen Kolumbianern” ist messerscharf.
„Es ist sehr schwierig, verlässliche Zahlen zu diesem Thema zu erschließen, aber die Angaben von 680.000 undokumentierten Kolumbianern stimmen mit den genannten Trends überein, die sich merklich von den Zahlen unterscheiden, die ohne Quellenangabe verbreitet werden. Will man etwa behaupten, dass die Zahlen, die die Angaben der letzten Volkszählung mit dem 7-fachen multiplizieren, sich auf undokumentierte Kolumbianer beziehen? Was ist dann mit der Einwanderungskontrolle und (Chávez‘) Mission Identitäts-Feststellung passiert?“.