Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein. Dieses großartige Versprechen ist an den Nagel gehängt. Wahnsinn!
Wenn man die Entspannungspolitik von Beginn an begleitet und dann auch mitgemacht und dafür gearbeitet hat, dann gerät man heute total ins Grübeln. Sind die Menschen ausgetauscht? Ist die politische Garde auf den Kopf gestellt? Sind Geist und Seele gewaschen? Aus Versöhnen ist Feindseligkeit geworden. Aus Zusammenarbeit Sanktionen. Aus sich vertragen sich beschimpfen. Aus Vertrauen aufbauen Misstrauen säen. Es ist wahnsinnig. Und gefährlich! Was ist passiert? Zwei mögliche Antworten. Erstens: Jene Kräfte, die schon den Kalten Krieg in den fünfziger Jahren bestimmt haben, und ihre geistigen Nachfahren sind heute die Meinungsführer und Entscheider. Zweitens: Der unser Zusammenleben und das Verhältnis zu anderen Völkern bestimmende Geist wurde „zurückgedreht“. Wertewandel könnte man das nennen. Albrecht Müller.
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Am besten kann man Letzteres erklären, wenn man sich an die grundlegende Aussage erinnert, die die Entspannungspolitik ab Oktober 1969 prägte: „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein.“ Das war von Willy Brandt in seiner ersten Regierungserklärung als Bundeskanzler propagiert. Es wurde vom Koalitionspartner FDP mitgetragen. Darauf haben sich später dann nach harten innenpolitischen Auseinandersetzungen auch Christdemokraten eingelassen. Auch der spätere Bundeskanzler Helmut Kohl. Spätestens 1990 gab es einen parteiübergreifenden Konsens auf der Basis der von Brandt eingeleiteten Entspannungspolitik.
Heute ist das alles weg. Die Politik der CDU/CSU wird von Leuten wie von der Leyen, Merkel und – typisch – dem CDU-Europa-Abgeordneten und Lobbyisten von Bertelsmann, Elmar Brok, der sich gerade besonders forsch gegen Russland geäußert hat, bestimmt. Und auf sozialdemokratischer und grüner Seite ist das kaum anders. Auch der neue sozialdemokratische Außenminister Heiko Maas ist mit kleinen Variationen auf der Linie der Konfrontation. Die Grünen haben sich zum Vorreiter des Feindbildaufbaus und zum Totengräber der alten Idee, dass wir ein Volk der guten Nachbarn sein wollen, gemausert. Im 1990 zum Partner erklärten Russland sehen sie heute den Feind, ein Land, das man bekämpfen müsse, statt mit ihm zusammenzuarbeiten.
Und wie sieht‘s beim Volk aus? Vermutlich etwas besser. Wir wollen mehrheitlich wohl keinen Krieg. Wir wollen uns mehrheitlich wohl auch mit Russland vertragen. Aber wie lange diese Stimmung noch hält, wenn der Geist der Feindseligkeit und des Misstrauens von oben und von den Medien weiter verbreitet wird, das ist offen. Ein kleiner Gradmesser für uns NachDenkSeiten-Macher ist, dass wir gelegentlich – und häufiger – Leser-Mails erhalten, die uns Einseitigkeit vorwerfen, obwohl wir mit den bescheidenen Mitteln der NachDenkSeiten nur ein bisschen ausbalancieren wollen, was an Dauerpropaganda in unseren Medien und von den Politikerinnen und Politikern an Feindbild-Propaganda betrieben wird. Glücklicherweise überwiegen die Mails von Menschen, die Konflikte abbauen und für friedliches gut nachbarliches Zusammenleben werben wollen und uns deshalb stützen. Auch die Kommentarspalten zum Beispiel von Spiegel Online und Tagesschau Online zeigen, dass es beim Volk noch nicht so schlimm steht wie bei Politikern und Medien.
Was dort geschieht, ist Zeichen einer ausgesprochen gefährlichen Entwicklung. Es ist ein Spiel mit dem Feuer und es zeigt, dass die heute regierenden und den Geist der Zeit bestimmenden Politikerinnen und Politiker nicht einmal fähig sind, die Folgen ihres Tuns und ihres Redens zu begreifen. Und sie sind nicht willens und nicht fähig, wenigstens ein bisschen strategisch zu denken. Darin unterscheiden sie sich grundlegend von jenen Politiker-Kolleginnen und -Kollegen, die die Entspannungspolitik entworfen und umgesetzt haben.
Positiver Wandel durch Annäherung
Das war der Grundgedanke der Entspannungspolitik. Wir bauen die Konfrontation ab, wir drohen nicht mit Rollback und Regime Change und erreichen damit eine gelassenere und freundlichere Haltung beim früheren Gegner und vor allem, dass sich dort die Dinge auch im Innern zum Positiven wandeln. So ist es gekommen – in der DDR, in Polen, in Tschechien, in der Sowjetunion und damit auch in Russland und bei anderen Staaten und Völkern.
Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein. Diese Willensbekundung galt also nicht nur für die Holländer und die Franzosen und die Italiener usw. Sie galt auch unseren östlichen Nachbarn. Auf der Basis dieser Grundeinstellung zum Umgang mit anderen Völkern wurde dann die sogenannte Entspannungspolitik und die Politik der Verständigung und Versöhnung eingeleitet – mit Verträgen mit Moskau, Warschau, Prag usw. .
Die Strategie „Wandel durch Annäherung“ war von Brandt und einem Zirkel von Mitarbeitern und Freunden schon Ausgangs der Fünfzigerjahre ausgedacht und dann 1963 im bayerischen Tutzing als neue Strategie und Gegenstück zur Adenauerschen Politik von Egon Bahr und Willy Brandt verkündet worden.
Die Vorstellung, dass man mit anderen Völkern wie mit anderen Menschen freundlich und freundschaftlich umgeht, markierte auch einen Wertewandel. Das Denken war, wenn man so will, in Teilen der Bergpredigt entlehnt. Es entsprach auch damals nicht den Wertvorstellungen der Rechten und Rechtskonservativen und der Politikerinnen und Politiker, die militärische Interventionen für einen wichtigen Teil der Politik hielten und halten. Diese beherrschen heute wieder die Szene.
Ein wichtiges Instrument der Entspannungspolitik war der Versuch, Vertrauen zwischen den Völkern und zwischen den Regierungen aufzubauen. Von unserer Seite ist das bewusst betrieben worden. Das Schlüsselwort war etwas sperrig: „vertrauensbildende Maßnahmen“. Es war völlig klar, dass man das Gegenteil sinnvollerweise nicht macht. Es galt als selbstverständliche Regel unter den damals handelnden und verantwortlichen Politikerinnen und Politikern, dass man mit Äußerungen und mit Entscheidungen nichts tun sollte, was Misstrauen sät, Partnerschaft zerstört und neue Aggressionen aufbaut.
Alle diese Erfahrungen und Erkenntnisse sind vergessen und mit Füßen getreten worden. Wozu das führt, ist mir bei Lektüre der „Frankfurter Allgemeinen am Sonntag“ vom 18.3.2018, also am letzten Sonntag, klar geworden. Da wird der russische Außenminister Lawrow zitiert:
„Die westliche Propaganda wird leider immer primitiver und unverschämter.“
Wenn der sowjetische Außenminister in der Phase der Entspannungspolitik der Siebzigerjahre so etwas hätte sagen müssen, dann hätten Schmidt oder Brandt ihr Küchenkabinett zu einer Krisensitzung zusammengerufen. Heute ist das den Berliner Verantwortlichen schnurzegal. Das ist gefährlich und vor allem dumm.
Gefährlicher Wandel durch Konfrontation
Heute haben genau jene Kräfte das Sagen, die nicht das “sich vertragen” für wichtig halten, sondern das “sich bekämpfen”, nicht die Politik der Versöhnung, sondern die Politik der Stärke und der Konfrontation. Dem Gehabe dieser Menschen in der Politik entspricht vermutlich auch ihre Einstellung zum Umgang im persönlichen Bereich: Jede/r Andere ist potenziell ein Gegner, allenfalls ein Verbündeter im Kampf. Dieser Umgang wird heute von Kindesbeinen an geübt. Kein Wunder, dass der Wertewandel in der großen Politik nicht auf massiven Protest trifft.
Die bestimmenden Kräfte in der russischen Politik haben lange und geduldig darum geworben, die Politik der Verständigung und der Zusammenarbeit beizubehalten. Noch zwei Jahre nach dem NATO-Krieg in Jugoslawien, der völkerrechtswidrig war und sich auch gegen Russland wandte, hat der russische Präsident 2001 im Deutschen Bundestag um Zusammenarbeit geworben. Auch dieses Werben wurde auf westlicher Seite nicht ernst genommen. In Russland zog man danach offensichtlich die Konsequenzen und schaltete um. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Jahre 2007 war der Wandel zu spüren.
Der Wandel, der negative Wandel im Innern und verlautbart nach außen, ist verständlich. Die Kräfte der Verständigung, zum Beispiel Außenminister Lawrow und Präsident Putin, werden von westlicher Seite dem Spott ihrer innenpolitischen Gegner ausgesetzt. Natürlich gibt es auch in Russland Politiker und Ideologen, die von enger Zusammenarbeit mit den USA und ihren Verbündeten einschließlich der NATO nicht so viel halten. Ihnen spielt der Westen in die Hände und wenn das so weitergeht, dann könnten wir an der Schwelle eines wirklichen Wandels zum Schlechteren stehen. Aus der wirtschaftlichen Zusammenarbeit wird unter dem Druck von Sanktionen und feindseligen Äußerungen durch die westliche Politik und Medien dann eine neue und verschärfte militärische Konfrontation, also Aufrüstung und Drohgebärden. Das war in der Rede Putins zur Lage der Nation am 1. März 2018 schon spürbar. Und wenn dieser Präsident vom Westen inspiriert unter innenpolitischen Druck der nationalistischen Kräfte Russlands kommen sollte oder gar ausgewechselt werden sollte, dann könnte die Welt morgen noch um vieles gefährlicher sein. Der gegenseitige Feindbild-Aufbau enthält nämlich viele Tücken. Und irgendwann kracht es dann.
Man muss sich fragen, ob es in Berlin und in London, und in Washington und Brüssel keine politischen Führungspersonen gibt, die sich darüber Gedanken machen. Offensichtlich haben wir es mit einer Generation von Spielernaturen zu tun. Da ich Willy Brandt und Helmut Schmidt und Walter Scheel und Gustav Heinemann und Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher noch persönlich kannte, kann ich ein bisschen ermessen, was uns heute fehlt. Es fehlt schon der unbedingte Wille zum Frieden – und strategisches Denken sowieso.
Es gibt eine professionell und teilweise privat organisierte Lobby, die auf Konflikte setzt und dafür wirbt.
Der Feindbildaufbau wird professionell betrieben – von einer gut geschmierten Lobby und hilfsbereiten Medien. Die oben zitierte Aussage des russischen Außenministers hat offensichtlich einen Hintergrund, der nicht nur mit bösem Willen erklärt werden kann. Die westliche Propaganda ist primitiv und unverschämt, aber nicht nur das, sie ist auch professionell gemacht und verfügt über große finanzielle und organisatorische Mittel. Das konnte man jetzt gerade wieder bei der Entwicklung und Durchführung der Kampagne zu dem Giftanschlag in Großbritannien sehen.
Die Einsicht in dieses Phänomen professioneller und privat organisierter Lobby und Meinungsmache könnte man zur Entlastung und Entschuldigung dafür anführen, dass es heute bei den im Westen verantwortlichen Politikerinnen und Politikern so düster aussieht. Das ist eine Erklärung. Aber beruhigend ist sie nicht. Und es ist auch keine Entschuldigung für die falsche Politik.
Es bleibt uns nicht viel an Gegenwehr. Es bleibt jetzt die Bitte an Sie, liebe NachDenkSeiten-Leserinnen und -Leser, kümmern Sie sich um Krieg und Frieden. Reden Sie mit den Jüngeren unter uns. Versuchen Sie für die Einsicht zu werben, dass der Geist der Gewalt und der Konfrontation im persönlichen Bereich wie im politischen Bereich zerstörerisch ist. Und wir deshalb dagegen aufstehen müssen. Werben Sie dafür, dass wir ein Volk der guten Nachbarn bleiben und da, wo wir es nicht mehr sind, es wieder werden.