Zum Koalitonsvertrag (IV): Die schwarz-gelbe Koalition vertieft die Kluft zwischen Arm und Reich.
Aufgrund des gegenwärtigen Krisendebakels, das sie ohne Zweifel mit verursacht hat, schien die neoliberale Hegemonie, d.h. die Meinungsführerschaft des Marktradikalismus, vielen Beobachtern in der Bundesrepublik endgültig gebrochen. Dass der Neoliberalismus hierzulande keineswegs im Niedergang, sondern auf dem besten Weg zu einer Renaissance im schwarz-gelben Gewand ist, zeigt der am 24. Oktober vorgestellte Koalitionsvertrag. Von Christoph Butterwegge
Nach zügigen, aber wegen der akuten Haushaltsprobleme nicht unkomplizierten Verhandlungen, aus denen relativ wenig und meist Widersprüchliches nach außen drang, einigten sich CDU, CSU und FDP auf ein Regierungsprogramm, das hauptsächlich für sozial Benachteiligte, die durch ihre überdurchschnittlich hohe Wahlenthaltung am 27. September zum Negativrekord im Hinblick auf die Beteiligung an der Bundestagswahl und damit indirekt zum Wahlsieg von CDU/CSU und FDP beigetragen haben, Anlass zu schlimmen Befürchtungen gibt. Denn das schwarz-gelbe Regierungsbündnis droht entgegen den Beschwichtigungen, mehrdeutigen Formulierungen und Vagheiten, die das Dokument enthält, zur verteilungspolitisch ungünstigsten Konstellation zu werden.
Unter der wohlklingenden Überschrift „Wachstum. Bildung. Zusammenhalt“ wird auf 124 Seiten das Regierungsprogramm von CDU, CSU und FDP für diese Legislaturperiode präsentiert. Trotz seines Titels gefährdet der Koalitionsvertrag die soziale Kohäsion, weil die darin umrissene Politik mit Sicherheit zum weiteren Zerfall unserer Gesellschaft in Arm und Reich beiträgt. Selektiv und die soziale Polarisierung forcierend dürfte beispielsweise das geplante „nationale Stipendienprogramm“ für Hochbegabte wirken. Wenn nur besonders qualifizierte Bewerber/innen unabhängig vom Einkommen (der Eltern) in den Genuss einer Studienbeihilfe in Höhe von 300 Euro monatlich gelangen und dieser Betrag zur Hälfte von Sponsoren aus der Wirtschaft aufgebracht werden muss, dürften sich regionale Ungleichgewichte genauso ergeben wie deutliche Nachteile für Studierende der Geistes- und Sozialwissenschaften gegenüber solchen aus den Ingenieur- und Naturwissenschaften. Wie man da von einem „Beitrag zur Chancengleichheit und Bildungsförderung“ (Vizekanzler Guido Westerwelle) sprechen kann, erschließt sich bloß den Anhängern der Koalitionsparteien.
Die inhaltlichen Schnittstellen zwischen CDU/CSU und FDP im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik sind frappierend: Wenn Angela Merkel, Horst Seehofer und Guido Westerwelle unisono von der Bildung einer „Regierung der bürgerlichen Mitte“ schwärmen, wärmen sie nicht das Herz des Citoyens als Souverän der demokratischen Republik, sondern sprechen bewusst den Bourgeois als Geschäftsmann und Kapitaleigner an. Die besitzbürgerlichen Interessen werden sich unter Schwarz-Gelb noch unverblümter Bahn brechen als unter Schwarz-Rot und Rot-Grün. Gefragt ist der Wirtschaftsbürger (Bourgeois), während die sozialen Bürgerrechte beschnitten werden dürften. Zu übersehen ist weder die Intention von CDU, CSU und FDP, mit Ausdehnung der Mehrwertsteuer auf kommunale Versorgungsbetriebe und Überprüfung des ermäßigten Satzes auf bestimmte Produkte die Massensteuern zu erhöhen, noch entgeht der Wille, weitere Sozialleistungen zu kürzen und den Wohlfahrtsstaat durch die (Re-)Privatisierung sozialer Risiken strukturell zu verändern. Was die künftige Regierungspolitik ausmacht, ist Neoliberalismus, gemildert durch den Gefühlskonservatismus der „Kanzlerin aller Deutschen“ (Merkel über Merkel), und viel Sozialrhetorik, verbunden mit Klientelismus sowie einer knallharten Wirtschafts-, Steuer- und Finanzpolitik im Arbeitgeberinteresse.
Die geplanten Steuerreformen: Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung
Wenn CDU, CSU und FDP ein gemeinsames Regierungsprojekt haben, dann auf steuerpolitischem Gebiet: Alle drei Parteien hatten im Wahlkampf mit dem Slogan „Mehr Netto vom Brutto“ geworben, ganz so, als wären nicht das Sinken der Lohnquote auf einen historisch Tiefstand und die Ausweitung des Niedriglohnsektors das Hauptproblem von Millionen Arbeitnehmer(inne)n, sondern der „überbordende Sozialstaat“ und dessen steigende (Bürokratie-)Kosten. Zwar zeichnete das kurz nach der Wahl vom Kanzleramt präsentierte Papier mit dem Titel „Finanzpolitische Lage des Bundes“ ein düsteres Bild der Haushaltsentwicklung und des Steueraufkommens, die neuen Koalitionäre hielten jedoch trotz vergleichbarer Tendenzen bei den sozialen Sicherungssystemen an ihren Wahlversprechen fest. Stimmen aus der Wirtschaft, die nach einer Lockerung des Kündigungsschutzes, einer Ausweitung von Leiharbeit und Minijobs sowie einer stärkeren Belastung der Rentner/innen riefen, bildeten die harsche Begleitmusik dazu.
Die zentrale Frage ist eigentlich nie, ob Steuererhöhungen oder -senkungen zu erwarten sind, sondern eher, welche Steuern erhöht und welche gesenkt werden. „Korrekturen“ der Unternehmen- und Erbschaftsteuerreform haben den Vorteil, dass sie von der breiten Öffentlichkeit weniger stark wahrgenommen werden als drastische Senkungen des Spitzensteuersatzes oder die Abschaffung der Gewerbesteuer, wie sie die FDP im Kapitalinteresse fordert. Deshalb weicht die schwarz-gelbe Koalition eher Regelungen auf oder nimmt sie ganz zurück, die ein drastisches Absinken des Steueraufkommens im Unternehmensbereich durch Finanzmanipulationen der Konzerne verhindern sollten, etwa die Einführung der „Zinsschranke“ und der Mindestbesteuerung sowie die zeitweilige Aussetzung der degressiven Abschreibung.
Die geplante Einkommensteuerstrukturreform sieht explizit „Stufentarife“ vor, wie sie die FDP im Bundestagswahlkampf gefordert hat, was den Abschied von einem linear-progressiven System bedeutet und den Weg zur unsozialen Einheitssteuer ebnen könnte, die es unter dem Namen „Abgeltungssteuer“ seit dem 1. Januar 2009 für Kapitaleinkünfte, Zinsen und Dividenden bereits gibt. Dass die für den Inneren Frieden gefährliche Kluft zwischen Arm und Reich nicht geschlossen, sondern vergrößert werden soll, zeigt das folgende Beispiel: Die FDP will den Spitzensteuersatz von 45 Prozent (sog. Reichensteuer) auf 35 Prozent herabsetzen, die auch Facharbeiter mit relativ hohem Einkommen und vielen Überstunden bereits zahlen müssten, während der Eingangssteuersatz für Geringverdiener/innen nur von 14 auf 10 Prozent sinken soll. Deutlicher kann eine Partei kaum zu erkennen geben, dass sie die Besserverdienenden vertritt, wenngleich ihr dies heute imageschädigend erscheint.
Wer auf den finanzpolitischen Realitätssinn der Union vertraut und glaubt, sie werde die FDP im Rahmen der Verhandlungen über die Details zähmen oder entzaubern, verkennt augenscheinlich, dass sie im Unterschied zur „Ära Kohl“ heute keine bloße Steigbügelhalterin oder parlamentarische Mehrheitsbeschafferin von CDU und CSU, sondern ein durch das beste Wahlergebnis ihrer Geschichte selbstbewusster gewordener Koalitionspartner ist, der „auf Augenhöhe“ verhandelt und im Zusammenspiel mit dem gleichfalls gestärkten Wirtschaftsflügel der Union auch mächtige Partikularinteressen durchsetzen kann. Zwar wird man kein neues Steuersystem aus der Taufe heben, das „einfach, niedrig und gerecht“ wäre, die Koalitionspartner dürften jedoch tiefgreifende Veränderungen bei Freibeträgen, Steuersätzen und im Tarifverlauf herbeiführen.
Ungefähr zur selben Zeit, als das Bundesverfassungsgericht am 20. Oktober 2009 darüber verhandelte, ob die Bedürfnisse der in landläufig „Hartz-IV-Haushalten“ genannten SGB-II-Bedarfsgemeinschaften lebenden Kinder bei der Regelsatzbemessung angemessen berücksichtigt wurden oder zumindest die Kinderregelsätze das Sozialstaatsgebot des Grundgesetz verletzen, trieb CDU, CSU und FDP offenbar sehr viel stärker die Sorge um, „Leistungsträger“ und Besserverdienende könnten – auch für ihre Kinder – zu viel Steuern zahlen. Denn sie beschlossen nicht etwa, die Armut von Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien zu verringern, sondern den steuerlichen Grundfreibetrag für Kinder zunächst auf 7.008 Euro und später auf die künftig für Erwachsene geltende Höhe von 8.004 Euro anzuheben sowie das Kindergeld von 164 Euro auf 184 Euro monatlich zu erhöhen.
Dabei handelt es sich nicht um eine Entlastung „der“ Familien, wie CDU, CSU und FDP behaupten, sondern um eine weitere Begünstigung von Besserverdienenden und Begüterten. Die zuletzt Genannten profitieren davon überproportional, Eltern mit einem geringen Einkommen haben jedoch wenig und Transferleistungsempfänger/innen mit noch so vielen Kindern gar nichts davon. Während beispielsweise ein Chefarzt mit sieben Kindern demnächst erheblich weniger Einkommensteuer zahlen muss, wird die Not der alleinerziehenden Mutter im Hartz-IV-Bezug kein bisschen gelindert. Da ist es nur folgerichtig, dass die Armut von Kindern im Koalitionsvertrag mit keinem Wort erwähnt wird. Beim steuerlichen Grundfreibetrag sollen die Kinder den Erwachsenen möglichst bald gleichgestellt werden. Beim Hartz-IV-Regelsatz wehrt sich die Bundesregierung gegen eine solche Gleichbehandlung, obwohl die von Sozialgeld lebenden Kinder darauf viel eher angewiesen wären als die Kinder der Einkommensteuerzahler/innen, und man fragt sich, wie beides unter Menschenrechtsgesichtspunkten miteinander vereinbar ist.
Im sog. Kinderförderungsgesetz wurde festgelegt, dass Kinder nach Vollendung des 1. Lebensjahres ab 1. August 2013 einen Rechtsanspruch auf den Besuch einer Tageseinrichtung oder Förderung in Kindertagespflege haben. CDU, CSU und FDP wollen zum selben Datum ein „Bundesbetreuungsgeld“ in Höhe von 150 Euro einführen. Es wird das traditionelle „Alleinernährer“-Familienmodell zementieren und den Anteil jener Eltern sinken lassen, die ihr Kind in eine Krippe geben. Manch finanzschwache und bildungsferne Familie wird auf diese Weise davon abgehalten, ihre Kinder in eine Krippe zu geben, wo sie mehr geistige Anregungen bzw. für die Intelligenzentwicklung erforderliche Impulse erhalten könnten, was nicht nur antiemanzipatorisch wirkt, weil Frauen von der (Wieder-)Aufnahme einer Erwerbsarbeit abgehalten werden, sondern sich auch im Hinblick auf die Bekämpfung der (Bildungs-)Armut von Kindern als fragwürdig erweist. Daran ändert natürlich auch der diskriminierend wirkende Plan nichts, Transferleistungsempfänger(inne)n kein Geld auszuzahlen, sondern ihnen im Unterschied zu den übrigen Eltern, die lieber zu Hause bleiben, als erwerbstätig zu sein, (Bildungs-)Gutscheine für ihr Kind zu geben.
Seit dem 1. Januar 2009 wird Kindern und Witwen von Familienunternehmern die betriebliche Erbschaftsteuer erlassen, wenn sie die Firma zehn Jahre lang fortführen und die Lohnsumme über den gesamten Zeitraum hinweg konstant halten. Indem CDU/CSU und FDP die zuletzt genannte Bedingung lockern, werden selbst größere Entlassungswellen ohne Folgen für die Steuerbefreiung möglich, ohne dass Erben von Betriebsvermögen ihr Privileg gegenüber Erben anderer Sachwerte und von Geldvermögen verlieren. Gleichzeitig werden Geschwister, Nichten und Neffen künftig auf Kosten der Allgemeinheit besser gestellt.
Steuergeschenke an Wohlhabende und Reiche sollen nicht bloß eine Belebung der Konjunktur, sondern auch eine Sanierung der öffentlichen Haushalte bewirken. Man fühlt sich unwillkürlich an die Quadratur des Kreises bzw. an den Baron von Münchhausen erinnert, wenn sich die Koalitionäre am eigenen Schopf aus der finanziellen Misere herausziehen wollen: Höchstens finanzpolitische Alchimisten und hartnäckige Lobbyisten verbreiten die Illusion, man brauche nur die „Leistungsträger“ steuerlich entlasten, um die Wirtschaft zu stimulieren, Wachstum zu generieren und am Ende das Steueraufkommen zu maximieren. In Wahrheit ist es genau umgekehrt: Eine Anhebung der Transferleistungen für sozial Benachteiligte wäre nicht bloß gerechter, sondern auch ökonomisch sinnvoller, weil diese das zusätzliche Geld in den Alltagskonsum stecken und damit die Binnenkonjunktur beleben würden, statt es zu sparen oder neue Spekulationsblasen auf den Finanzmärkten zu produzieren.
Von branchenbezogenen Mindestlöhnen zum Niedriglohnparadies für Unternehmer?
Die nach ihrem Stimmenzuwachs noch selbstbewusster auftretende FDP versteht sich als wirtschafts- und sozialpolitischer Motor des neuen Regierungsbündnisses. Man betont „Eigenverantwortung und Eigeninitiative“, meint damit aber hauptsächlich Mehrbelastungen für Arbeitnehmer/innen und Rentner/innen, während die Arbeitgeber von Sozialversicherungsbeiträgen („Personalzusatzkosten“) und Kapitaleigentümer ebenso wie Topverdiener von Steuerlasten befreit werden sollen. Das neoliberale Dogma, wonach eine Senkung der „Lohnnebenkosten“ – damit gemeint sind vor allem die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung – extrem beschäftigungsfördernd wirkt und letztlich die Rückkehr zur Vollbeschäftigung ermöglicht, feiert im Koalitionsvertrag fröhliche Urständ. Gleichzeitig hätte sich der Staat ausschließlich um „wirklich und dauerhaft Bedürftige“ zu kümmern, was suggeriert, ein Großteil der jetzigen Empfänger/innen von Transferleistungen komme ohne Anspruchsberechtigung in deren Genuss. Man will aus dem Sozial- einen Minimalstaat und aus dem Sozialversicherungs- einen Fürsorgestaat machen. So verkümmert die bisherige Lebensstandard- und Statussicherung für Arbeitnehmer/innen etwa bei Erwerbslosigkeit und im Alter endgültig zur reinen Existenzsicherung bzw. zur bloßen „Grundversorgung“ (FDP-Deutschlandprogramm).
Längerfristig könnte Schwarz-Gelb die bestehenden Transferleistungen unter dem selbst bei manchen Linken populären Label „Bürgergeld“ (FDP) bzw. „Solidarisches Bürgergeld“ (Dieter Althaus, CDU) zusammenfassen. Dies wäre freilich ein sozialpolitischer Etikettenschwindel, zumal dann, wenn es auf oder sogar unter dem Hartz-IV-Niveau geschieht und alle steuerfinanzierten Leistungsarten (z.B. das Wohngeld, der Kinderzuschlag und das Elterngeld) entfallen würden. Dass pauschalierte Leistungen dem Einzelfall nicht immer gerecht werden, zeigt die spürbare Benachteiligung von Arbeitslosengeld-II-Empfänger(inne)n mit vielen Kindern durch den Wegfall einmaliger Beihilfen (etwa für die Reparatur oder die Neuanschaffung einer Waschmaschine) am 1. Januar 2005. Wenn das „Bürgergeld“ – wie bei der FDP – streng an der Bedürftigkeit ausgerichtet ist, sich gegen Mindestlöhne richtet und als eine Art „Kombilohn für alle“ fungiert, der günstigere Rahmenbedingungen für den Niedriglohnsektor schaffen und die „Lohnflexibilität nach unten“ erhöhen soll, damit auch Geringqualifizierte mit seiner Hilfe von „marktgerechten Löhnen“ leben können, vermehrt es die Armut von prekär Beschäftigten, weil sich diese vom Staat alimentieren lassen müssen, während er das Lohndumping von Unternehmen mit Steuergeldern subventioniert.
Statt die Binnenkonjunktur anzukurbeln, die Massenkaufkraft zu stärken und einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, der dazu nötig wäre, setzt die CDU/CSU/FDP-Koalition auf Lohndumping und Sozialabbau als Instrumente der Krisenbewältigung. Selbst wenn die wenigen branchenbezogenen Mindestlöhne, welche die SPD der Union in der vergangenen Legislaturperiode abgetrotzt hat, nach der im Koalitionsvertrag vorgesehenen Evaluation ihrer Wirkung erhalten bleiben sollten, wird es keine vergleichbaren Regelungen in anderen Branchen geben. Eine rigide Niedriglohnstrategie, die Krisenmanagement auf dem Rücken anderer Volkswirtschaften betreibt, soll die Bundesrepublik noch konkurrenzfähiger werden lassen, als es der langjährige „Exportweltmeister“ ohnehin schon ist.
Systemwechsel im Gesundheitswesen und Teilprivatisierung des Pflegefallrisikos
Besonders gravierend sind die im Bereich der Kranken- und Pflegeversicherung vorgesehenen Änderungen. Dort planen CDU/CSU und FDP einen Systemwechsel, den Angela Merkel seit dem Leipziger „Radikalreformparteitag“ am 1./2. Dezember 2003 offenbar nie ganz aus den Augen verloren hat. Nach dem Muster der sog. Riester-Rente soll nun auch die Pflegeversicherung teilprivatisiert und partiell vom Umlageverfahren auf das Prinzip der Kapitaldeckung umgestellt werden. Im Unterschied zur privaten Altersvorsorge wird im Pflegebereich allerdings Versicherungspflicht bestehen, obwohl die FDP sonst immer Wahlfreiheit fordert.
Die paritätische Finanzierung der Krankenversicherung, welche Rot-Grün durch Erhöhung der Zuzahlung von Patient(inn)en sowie Einführung der Praxisgebühr und des Sonderbeitrages für die Versicherten bereits untergraben hat, wird völlig ausgehebelt, indem man die Höhe der Arbeitgeberbeiträge deckelt und nur die Versicherten zur Vermeidung von Defiziten der einzelnen Kassen heranzieht. Die „einkommensunabhängigen Arbeitnehmerbeiträge“, von denen im Koalitionsvertrag die Rede ist, erinnern an die Gesundheitsprämie der CDU und bedeuten einen Bruch mit jenem Wohlfahrtsstaatsmodell, das diese Partei in der alten Bundesrepublik unter dem Markenzeichen „Soziale Marktwirtschaft“ mit begründet hat, weil nun nicht mehr die Höhe des Einkommens darüber entscheiden soll, welchen Beitrag jedes einzelne Kassenmitglied bezahlen muss. Während die Besserverdienenden und die Unternehmer einmal mehr finanziell entlastet werden sollen, sind Rentner/innen, Geringverdiener/innen und ihre Familien die Hauptverlierer/innen der für das Jahr 2011 geplanten Gesundheitsreform. Die regressiven Verteilungswirkungen eines Kopfprämienmodells sprechen unabhängig von seiner organisatorischen Ausgestaltung für alle, die in der Belastungsgerechtigkeit ein zentrales Beurteilungskriterium sehen, gegen seine Einführung.
Während sich Barrack Obama seit Übernahme des Präsidentenamtes gegen erheblichen Widerstand der Versicherungskonzerne bemüht, in den USA eine staatliche Krankenversicherung zu etablieren, weil die schrecklichen Folgen eines privatwirtschaftlich organisierten Gesundheitssystems für ärmere Bevölkerungsschichten nicht mehr zu übersehen und seine explodierenden Kosten nicht mehr zu tragen sind, gewinnen hierzulande offenbar jene Lobbygruppen an Einfluss, die es noch stärker für kapitalistische Profitinteressen öffnen wollen.
Was die Koalitionäre als „Modernisierungskonzept“ für das Gesundheitswesen beschlossen haben, ist Liberalkonservatismus pur, aber kein Patentrezept für den „kranken Sozialstaat“. Obwohl mit Steuermitteln ein Sozialausgleich für die Bezieher/innen niedriger Einkommen erfolgen soll, ist die Kopfpauschale das Ende der solidarischen Krankenversicherung, weil höchstens nachträglich und wahrscheinlich sehr rudimentär über staatliche Transfers korrigiert wird, was bisher im System selbst an Gerechtigkeit eingeschrieben war. Zwar gelang es der FDP nicht, die Privatisierung der Krankenversicherung durchzusetzen, da sie jedoch mit dem jungen Augenarzt und bisherigen Wirtschaftsminister Niedersachsens Philipp Rösler künftig den Bundesgesundheitsminister stellt, können ihr bei der Ausgestaltung des Konzepts inhaltliche Präjudizierungen gelingen.
Wer die Sozialversicherung wie die FDP am liebsten zerschlagen und sämtliche Versicherungszweige möglichst umfassend privatisieren würde, spaltet unser Gemeinwesen in einen Wohlfahrtsmarkt und einen Wohltätigkeitsstaat. Auf dem Wohlfahrtsmarkt kaufen sich dann jene Bürger/innen, die es sich finanziell leisten können, ein Höchstmaß an sozialer Sicherheit (z.B. eine luxuriöse Altersvorsorge durch teure Versicherungspolicen der Privatassekuranz). Die übrigen werden mit einem „aktivierenden Mindesteinkommen“ abgespeist, ansonsten jedoch der Privatwohltätigkeit überantwortet. Folgerichtig setzt die FDP auf „private Stiftungen“, die karitative Aufgaben erfüllen, preist das Ehrenamt und fordert „mehr Engagement“ im Sozialbereich. In ihrer „solidarischen Bürgergesellschaft“ herrscht „Fairness“, was den Eindruck erweckt, als ginge es dort um einen Wettkampf, aber nicht um mehr soziale Gerechtigkeit.
Sozialstaat in Gefahr?
Nie zuvor wussten die Deutschen nach einer Bundestagswahl so wenig, was sie politisch erwartet, wie heute. Man konnte nur spekulieren, welche Maßnahmen die Wahlsieger/innen in der nächsten Legislaturperiode ergreifen, weil insbesondere die Bundeskanzlerin bis zum 27. September allenfalls zart angedeutet hatte, wo sie politisch steht und wie sich ihre Agenda nach dem Regierungswechsel gestaltet. Getrieben von der Angst, bei der nächsten Landtagswahl am 9. Mai 2010 die Mehrheit im größten Bundesland und damit im Bundesrat zu verlieren, streuten etwa der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers und sein Sozialminister Karl-Josef Laumann den Menschen politischen Sand in die Augen, wenn sie gebetsmühlenartig beteuerten, es werde „keine Sozialkürzungen“ und „keine Koalition der sozialen Zumutungen“ geben, sondern höchstens „eine Neujustierung in den Systemen“ erfolgen.
Als ihren ersten Beschluss verkündeten die Koalitionspartner, dass sie das Altersvorsorge-Schonvermögen für Hartz-IV-Bezieher/innen in Höhe von bisher 250 Euro pro Lebensjahr auf 750 Euro pro Lebensjahr verdreifachen wollen. Gleichzeitig soll die Klausel entfallen, wonach eine selbstgenutzte Immobilie bloß dann zum Schonvermögen gehört, wenn sie eine „angemessene Größe“ hat. Schließlich werden die Zuverdienstgrenzen bei Hartz IV erhöht. Mit ihrem Maßnahmenpaket zum Hartz-IV-Komplex hat die künftige Regierungskoalition – sehr werbewirksam inszeniert – Imagepflege betrieben, um den ihr vorauseilenden Ruf sozialer Kälte zu entkräften, und darüber hinaus ein soziales Trostpflaster an Transferleistungsempfänger/innen verteilt, denen es noch verhältnismäßig gut geht: Beispielsweise hat in Ostdeutschland nur die Hälfte der Betroffenen überhaupt Vermögen, das geschont werden kann; eine Immobilie nennt bloß eine kleine Minderheit ihr Eigen; auch die Möglichkeit des Zuverdienstes haben längst nicht alle Bezieher/innen von Arbeitslosengeld II.
Neben den unmittelbar Begünstigten, die überwiegend aus der Mittelschicht stammen dürften, deren Angehörige vor einer länger währenden Arbeitslosigkeit noch am ehesten private Altersvorsorge etwa in Gestalt einer Kapitallebensversicherung betreiben können, profitieren hauptsächlich Versicherungskonzerne und Banken von den beschlossenen Maßnahmen, denn es ist natürlich ein gutes Verkaufsargument, wenn ein Finanzprodukt vor der Anrechnung bei Hartz IV geschützt ist. (Ist es bloß Zufall, dass die FDP, die sich wie keine andere Partei für ein höheres Schonvermögen bei der Altersvorsorge eingesetzt hat, mit Abstand die höchsten Großspenden aus eben dieser Branche erhält?) Begünstigt werden natürlich auch die Bauindustrie und den Immobilienhandel. Noch anderen Unternehmern kommen die höheren Zuverdienstmöglichkeiten zugute, können sie doch mehr Hartz-IV-Bezieher/innen im Sinne einer staatlichen Subventionierung von Niedriglöhnen als preiswerte Arbeitskräfte rekrutieren.
Es gehört schon ein hohes Maß an Chuzpe dazu, die etwa durch laut Koalitionsvertrag geplante Ausweitung der sog. Minijobs (Anhebung der Verdienstgrenze für sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse von bisher 400 Euro auf 600 Euro), wachsenden Defizite der Sozialsysteme ab 2010 in einen „Sozialversicherungsstabilisierungsfonds“ genannten Schattenhaushalt abzuschieben und diesen der Öffentlichkeit auch noch als „Rettungsschirm für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“ (Angela Merkel) zu verkaufen.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt ist sein Buch „Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird“ (Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2009) erschienen.