Brasilien – Der Mordanschlag auf Marielle Franco, die faschistische Gewaltpredigt und der Vernichtungskrieg gegen Afrobrasilianer
Rio de Janeiro, Mittwoch, 14. März, gegen 21 Uhr 30, im citynahen Bezirk Estácio. Die Stadtverordnete der linken Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL), Marielle Franco, kehrt von einer Sitzung mit afrobrasilianischen Slumbewohnerinnen nach Hause zurück.
Sie sitzt ausnahmsweise auf dem hinteren Sitz, auf dem von ihr üblicherweise bevorzugten Beifahrersitz leistet diesmal ihre Referentin Fernanda Chaves dem Fahrer Anderson Pedro Gomes Gesellschaft. Als der bis vor wenigen Wochen arbeitslose Gomes mit dem weißen Chevrolet in die Joaquim-Palhares-Straße einbiegt, wird er von einem dunkelsilbernen PKW eingeholt, aus dem aus halber Höhe mindestens neun Schüsse auf den weißen Chevrolet abgefeuert werden. Vier Projektile zerschmettern Marielle Francos Kopf und Nacken, ihr Fahrer Anderson erleidet drei Schüsse in den Rücken. Franco und Gomes sind auf der Stelle tot, Referentin Fernanda Chaves kommt mit einer Armverletzung davon. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.
Zwei Fußgänger, die den Anschlag als geschockte Augenzeugen erlebten, zweifelten an der Hypothese eines Raubüberfalls. Das Auto mit den Mördern sei nach den Schüssen mit hoher Geschwindigkeit in der Dunkelheit verschwunden. Die Kriminalpolizei bestätigte die These wenige Stunden später: Der Mord an Franco und Gomes sei ein Attentat. Noch ungewöhnlicher schaltete sich Luis Fux, notorisch konservativer Magistrat am Obersten Gerichtshof, mit einem Aufschrei in den Nachrichtenstrom ein. Der Mord an Marielle Franco, so der Richter – der an anderer Stelle weniger vorteilhaft zitiert werden muss – sei „ein Versuch, eine politische Stimme zum Schweigen zu bringen”.
Mithilfe der sozialen Netzwerke hatte die Nachricht vom Attentat die Wirkung einer Zündschnur. Wenige Stunden später protestierte bereits eine Tausendschar vor der Stadtverordnetenkammer Rio de Janeiros, mindestens 50.000 Menschen hielten anschließend die Totenwache und gaben Franco und ihrem Fahrer Gomes ihr letztes Geleit zum Friedhof Caju, in Rios armen Nordbezirk.
Woche der Schande
Der Mord an der 38-jährigen Soziologin, Politikerin und Menschenrechts-Aktivistin passierte in einer Woche, die in Brasilien von Demütigung, Ehrlosigkeit und Zynismus schwerlich zu überbieten war.
Kaum anders zu beschreiben, als von eiskalter Spottlust angetrieben, empfing doch tatsächlich die Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, Carmen Lúcia, am Wochenende vor dem Anschlag den hemdsärmelig gekleideten de-facto-Präsidenten Michel Temer wegen einer neuen Korruptionsanklage zu einem Privatgespräch in ihrer Wohnung. Aus Anstand und sich der augenblicklichen Amtsenthebung bewusst, würde sich in jeder respektierlichen Demokratie kein hoher Richter und Staatschef zu derartig frecher Promiskuität hinreißen lassen. Die Oberste Richterin verabschiedete ihren Wochenend-Besucher mit Umarmung und einem Wangenküsschen; ungebetene Augenzeugen dokumentierten die Intimhandlung per Handy.
Während in Brasilien ein Großteil der mindestens 20 Millionen Arbeitslosen sich schon zur Nachtzeit in langen Schlangen für wenige Stellenausschreibungen gegen konkurrierende Bewerber die Beine in den Bauch stand, belog derselbe Temer anschließend im fernen schweizerischen Davos das Weltwirtschaftsforum mit der Behauptung, Brasiliens Wirtschaft habe mit 1,0 Prozent Wachstum die Gefahrenzone verlassen. Wie üblich sparte der de-facto-Staatschef nicht mit starkem Tobak. „Wir wollen freie Wahlen, an denen alle teilnehmen. Es ist wichtig, die vollständige Demokratie wiederherzustellen“. Alle dachten an Brasilien, doch Temer meinte… Venezuela! Die Deutsche Welle war so entzückt von dem zynischen Spruch und widmete dem Umstürzler gegen Präsidentin Dilma Rousseff, ohne mit der Wimper zu zucken, ein Interview.
Zwischen São Paulo und Brasília ging es nicht weniger abstoßend zu. Während in der 12-Millionen-Metropole zigtausende streikende Lehrer des öffentlichen Schulbetriebs von der Polizei des Landesgouverneurs Geraldo Alckmin blutig niedergeknüppelt wurden, ließen sich ein paar dutzend Bundesrichter vor dem Obersten Gerichtshof mit einer bizarren Ankündigung fotografieren: Falls man ihrem Wohnungszuschuss in Höhe von umgerechnet 1.200 Euro die Rechtmäßigkeit absprechen sollte, würden sie in einen „unbefristeten Streik“ treten – sie, die mehrfachen Hausbesitzer und Spitzenverdiener im öffentlichen Dienst, mit Monatsgehältern von bis zu 20.000 Euro! In Brasilien nennt man diese Herrschaften die Erben des „Herrenhauses“, Casa Grande genannt.
Wer war Marielle Franco?
Die Kehrseite der Casa Grande war stets die Sklavenhütte, in Brasilien als Senzala bekannt. Im homonymen Klassiker der Soziologie „Casa Grande e Senzala“ durchleuchtete vor mehr als 80 Jahren der legendäre Wissenschaftler Gilberto Freyre die in republikanische Zustände hinübergeretteten Auswüchse und Schandflecken der 1888 offiziell abgeschafften Sklavenhalter-Gesellschaft, mit ihrer sozialen Ausgrenzung und ihrem Rassismus. In einer dieser sinnbildlichen Sklavenhütten an der Bucht Rio de Janeiros – dem 110.000 Einwohner zählenden und mehrere Favelas (Elendsviertel) umfassenden Elendsdistrikt Maré – war Marielle Franco aufgewachsen und da wirkte die Diplomsoziologin als Verfechterin von Grundrechten und elementarem Schutz armer und schwarzer Frauen.
Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 2015 werden in Brasilien mindestens 5 von je 100.000 Frauen ermordet. Einer sogenannten Landkarte der Gewalt gegen Frauen ist anschaulich und erschreckend zu entnehmen, dass zwischen 1980 und 2013 nach vorsichtigen Schätzungen 106.093 Frauen umgebracht wurden; eine weibliche Großstadt blutig ausradiert. Besonders betroffen waren und sind nach wie vor Frauen schwarzer Hautfarbe, deren Sterberegister im laufenden Jahrzehnt um 54 Prozent zugenommen hat. Annähernd 35 Prozent der Morde an schwarzen Frauen gehen auf das Konto der äußerst gewalttätigen Polizei.
Marielle Franco hatte das Drama 2016 zum zentralen Thema ihrer Kampagne für die Kommunalwahlen gemacht und war mit beachtlichen 45.000 Stimmen zur Stadtverordneten auf der Wahlliste der Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL), einer früheren, linken Abspaltung der Arbeiterpartei (PT), gewählt worden. Seitdem führte sie in der Stadtkammer den Vorsitz der Menschenrechts-Kommission, für die sie in den Stunden vor ihrer Ermordung im Elendsviertel Maré eine Arbeitssitzung zum „Empowerment“ junger Afrobrasilianerinnen abgehalten hatte.
Wer schoss auf Marielle Franco und Anderson Gomes?
Die 38-jährige Politikerin saß auch im Landesausschuss zur Überwachung der vor einem knappen Monat begonnenen Militärintervention in Rio de Janeiro (siehe Mexikanisierung oder schleichende Diktatur in Brasilien?). Vor einer Woche hatte Franco einen Bericht über die Ermordung von zwei Männern und die „Entsorgung“ ihrer Leichen in einem Abwassergraben im Elendsviertel Acari durch die landesweit diskreditierte Militärpolizei bekanntgegeben. Nach Auskunft der Bewohner führe sich die Polizei seit Beginn der Intervention auf, als besitze sie „den Freibrief zum Töten”.
Genauere Angaben zum Profil der Mörder sind bisher unbekannt. Allerdings erinnert der Modus Operandi an den Hinterhalt, dem Richterin Patrícia Acioli 2011 mit 21 Todesschüssen zum Opfer fiel. Die Ermittlungen sprachen eine der mehrfachen Milizen für schuldig und das Landesgericht Rio de Janeiro verurteilte u.a. fünf diensthabende Polizisten als erwiesene Mörder. Die Milizen sind eine Ortsversion der italienischen Mafia, zusammengesetzt aus Polizisten, Feuerwehrleuten und Mitgliedern der Streitkräfte, die mit Erpressungen von Bewohnern und Kleinhändlern, ferner mit illegalen Geschäften – die vom Schwarzmarkt für Gasversorgung bis zu illegalen Kabelfernseh-Installationen reichen – den angeblichen Schutz vor Narcos betreiben, sich mit der Kontrolle von nahezu 40 Prozent von Rios Elendsvierteln in Wahrheit zur Konkurrenz der Drogendealer entwickelten und gefährlichen Einfluss auf Stadt- und Landesparlamente ausüben.
Da Marielle Franco heftige Kritik an Polizei-Übergriffen, insbesondere des 41. Bataillons von Acari, geleistet hatte, schließen einzelne Ermittler und Medien nicht aus, dass ihr Tod von Milizionären oder korrupten Militärpolizisten in Auftrag gegeben wurde. Seit einem Jahrzehnt ermuntert der ehemalige Armee-Oberst, Kongressabgeordnete und nach Altpräsident Lula an zweiter Stelle favorisierte, faschistische Präsidentschafts-Kandidat Jair Bolsonaro das Vorgehen der zu 60 Prozent korrupten Polizei und der kriminellen Milizen mit Sätzen wie „Ein guter Bandit ist ein toter Bandit!“ oder „General Pinochet hat einen großen Fehler begangen: Er hat nicht alle Terrorristen umgebracht!“ und peitschte 2016 im Parlament die Herabsetzung des Strafalters für Jugendliche auf 16 Jahre durch; damals schon als „Freibrief zum Abknallen“.
Doch erreichte Bolsonaros psychopathischer Auswurf wohl seine Krönung in dem Satz, den er der ehemaligen Staatssekretärin für Menschenrechte in der Regierung Dilma Rousseff und amtierenden Abgeordneten der Arbeiterpartei, Maria do Rosário, von der Parlamentstribüne entgegenschleuderte: „Ich vergewaltige dich nicht, weil du‘s nicht verdient hast!“.