Nicht nur die Hardliner, auch die Reformer tragen Mitverantwortung

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Mohssen Massarrat ist emeritierter Professor für Politik und Wirtschaft des Fachbereichs Sozialwissenschaften. Regelmäßige NachDenkSeiten-Leser kennen ihn auch aufgrund seiner Interviews und Gastartikel für die NachDenkSeiten. Geboren ist Mohssen Massarrat in Teheran und er gilt als Kenner der iranischen Politik. Im Interview mit Sabine Kebir, das es auf weltnetz.tv auch in einer einstündigen Langversion gibt, spricht er über die aktuellen Proteste im Iran.

Kebir: Ende 2017 begann eine große Protestwelle im Iran. Was war der Auslöser, wo liegen die tieferen Ursachen?

Massarrat: Der erste Schritt war der Versuch der Ultrakonservativen in Maschhad – sie dominieren dort – eine Demonstration gegen Präsident Rohani anzustacheln. Viele Menschen haben aus eigenen Motiven, mit ganz anderen Parolen demonstriert, z. B. gegen die Außenpolitik der Regierung und finanzielle Unterstützung für die Palästinenser, für die Hisbollah und für Syrien. Wir, sagten sie, haben nichts davon. Die Meinung, die eigene Armut resultiere aus den verschwenderischen Ausgaben der Regierung für andere in der Region, ist sehr verbreitet. Der Grund des Protestes im ganzen Iran – weniger in Teheran – ist in der Tat die wachsende Armut. Eine dünne Schicht bereichert sich innerhalb des Systems und die große Masse leidet unter Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, steigenden Preisen.

Kebir: Um welchen Konflikt innerhalb des Regimes ging es? Rouhani soll erstmalig den Haushaltsplan vollständig offengelegt haben?

Massarrat: Das Budget hat einen geheimen und einen öffentlichen Teil. Auf ersteren hat die Regierung keinen Einfluss, er dient der Stabilisierung der Herrschaft. Rouhani soll wegen des Haushaltsplans mit den Hardlinern – darunter dem Revolutionsführer, der Militz, den religiösen Stiftungen – gerungen haben. Sie forderten einen höheren Anteil des Jahresbudgets für den Herrschaftsbereich. Dann hat er vor dem Parlament das gesamte Budget einschließlich des geheimen Teils offengelegt und die Zeitungen haben das veröffentlicht. Möglicherweise hat Rouhani das mit Absicht getan. Für diese Annahme spricht auch, dass er hinterher das Recht der Bevölkerung auf Protest gegen die Missstände in der Gesellschaft legitimierte; dieser sei für Verbesserungen sehr wichtig. Das zeigt, dass ihm daran gelegen ist, im Volk ein Bündnis für die Veränderung der Kräfteverhältnisse zu erreichen, um eine gerechtere Verteilung der Mittel für Infrastruktur und Soziales durchzusetzen. Es ist jedoch noch nicht klar, ob er wirklich damit Erfolg hat.

Kebir: Läuft die Armenversorgung über Moscheen oder gibt es auch staatliche Versorgungssysteme?

Massarrat: Nach der Revolution wurde ein Sozialsystem geschaffen: ein Arbeitsschutzgesetz, das die Unternehmer als rigide und großes Hindernis für Wirtschaftswachstum kritisierten. Es gibt auch steuerfinanzierte Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe, Krankenversicherung. Erstaunlich ist, dass jeder nach 25 Jahren Arbeit in Rente gehen kann. Trotz des Sozialsystems reicht die Kaufkraft von etwa 40% der Bevölkerung nicht aus, um ein Abrutschen in die Armut zu verhindern. Die Arbeitslosigkeit ist sehr groß, vor allem bei jungen Menschen. Es gibt jedes Jahr über 100 000 Absolventen der Universitäten, davon kommt nur ein Bruchteil im Arbeitsmarkt unter.

Kebir: Ist der Boykott oder auch die Verfasstheit der Wirtschaft die Ursache für die sozialen Probleme?

Massarrat: Letztere ist die Hauptursache für die ungerechte Verteilung. Immerhin erzielt Iran zwischen 30 und 40 Milliarden Dollar Öleinnahmen pro Jahr. Als der Ölpreis über 100 Dollar lag, waren es 80 Milliarden Dollar. Aber diese Einnahmen sind durch Fehlentwicklungen des Systems zum Hindernis für ökonomische und politische Reformen geworden. Nicht nur die religiösen Hardliner sind daran schuld – Khamenei mit seinen Herrschaftsansprüchen im Land und in der Region – sondern auch die Reformer. Während des Irak-Krieges dominierte die Staatswirtschaft mit einer Bürokratie und der monopolistischen Stellung in vielen Wirtschaftssektoren. Es gab Stagnation, keine Produktivitätssteigerung, keine Privatinitiative. Viele blauäugige, wenig kompetente Politiker tappten nun in die andere Richtung, wonach total freie Märkte die Lösung aller Probleme im Iran seien. Neoliberale Ökonomen fassten Fuß in den Medien, in den Universitäten und seit drei, vier Legislaturperioden in der Umgebung der Präsidenten. Neoliberale Rezepte sind gerade für Länder wie Iran Gift, noch viel stärker als im entwickelten Kapitalismus. Nationale Industriebetriebe sind kaum imstande, beim Freihandel mitzuhalten, die meisten von ihnen gehen pleite und entlassen ihre Arbeiter. Die iranische Wirtschaft stagniert seit Jahren, die Importe aber wachsen nahezu ständig. So haben Irans Präsidenten, ob Hardliner wie Ahmadinedjad oder Reformer wie Rohani nichts Ernsthaftes unternommen, um Irans Ökonomie von den Zwängen des Imports zu befreien. Aus China, aus den USA, aus Europa werden landwirtschaftliche Produkte importiert, die auch im Iran produziert werden können. Der Import hilft vielleicht, die Inflation einzudämmen. Die Regierungen gehen selektiv vor. Sie versuchen heute ein Problem zu lösen, womit sie zwei, drei neue Probleme schaffen. Es gibt kein in sich schlüssiges wirtschaftspolitisches Konzept, wie es Südkorea für die Industrialisierung hatte oder China. Anstatt zu importieren, versuchte China, ausländisches Kapital ins Land zu holen, damit es dort produziert. Auch Iran müsste die nationalen Betriebe durch gezielte Importbeschränkungen schützen und fördern.

Wenn die Politik den Reichen, den Rentiers, den Spekulanten im Finanz- und Immobiliensektor zuspielt, wenn alle, die schnell reich werden und irgendwie konzeptlos investieren wollen, Erleichterungen und freie Hand bekommen, wenn plötzlich Spekulation im Banksystem entsteht und mafiöse Strukturen im Immobilienbereich – dann soll man sich nicht wundern, wenn sich diese Kräfte mit all ihren Möglichkeiten auch die staatlichen Mittel aneignen.

Kebir: Es heißt doch, dass im Iran nur islamische Banken erlaubt sind, die das System von Gewinnen und Zinsen überhaupt ablehnen?

Massarrat: Eine kurze Zeit lang wurden Gewinne von Banken legitimiert durch Verwaltungskosten. Nach und nach redet niemand mehr darüber. Nach dem Krieg mit dem Irak war die Inflation sehr hoch und die Banken mussten, um Anleger zu finden, eine über der Inflation liegende Rendite abgeben, bis zu 40 %. Das hat die Menschen und auch die Regierung darin bestärkt, dass notfalls auch höhere Renditen der Banken eine ökonomische Funktion haben können. Teile des Regimes gehören selbst zu den Spekulanten. Es gibt religiöse Stiftungen, die sich unter Ahmadinedjad in Banken umgewandelt wurden. Die Regierung gibt sogar zu, dass durch Finanzspekulationen ein Teil der Anleger Gewinne bis zu 80 % im Jahr erreicht hat. Das hat Banken in die Pleite getrieben und hunderttausende Kleinanleger um ihr Vermögen gebracht. In der islamischen Republik etablierte sich die schlimmste Form des Finanzmarktkapitalismus. Die Einkommensverteilung im Iran hat sich im letzten Jahrzehnt weit ungerechter als im Weltdurchschnitt verschlechtert.

Kebir: Welche Schichten waren an den Protesten beteiligt und welche haben sich zurückgehalten bzw. das System sogar unterstützt?

Massarrat: Hauptträger der Unruhen waren Arme in den Provinzen und vor allem perspektivlose junge Menschen. Die Älteren, die Intellektuellen, der Mittelstand, die die Träger der Grünen Bewegung von 2009 waren, haben sich zurückgehalten. Auch einfache Leute können sehr gut artikulieren, dass im Iran nur Reformen sinnvoll sind. Man muss geduldig die Kräfte unterstützen, die sie herbeiführen können, sie zugleich herausfordern und kritisieren, weil sie selbst Teil des Systems sind und oft vergessen, dass sie für Reformen gewählt wurden. Viele wollen keine Proteste ohne Führung, ohne Programmatik unterstützen. Es wird sicher weitere Proteste geben, stärkere, länger anhaltende. Aber auf Grund der historischen Erfahrung werden sie sich nicht für Regime Change einsetzen. Eine Systemänderung ist unvermeidlich, wird aber aus den Gegensätzen und Widersprüchen des Systems selber entspringen.Und das dauert länger, aber die sozialen Kosten sind viel geringer als ein Umsturz, der im Prinzip nur von außen kommen kann. Die Menschen, die sich an den Protesten nicht beteiligten, sind sich bewusst, dass die USA, Saudi-Arabien und Israel auf eine Atmosphäre im Iran warten, die sie missbrauchen können.

Kebir: Der größte Teil der Iraner scheint also einig zu sein, dass man sich zumindest nach außen geschlossen zeigt?

Massarrat: Die Menschen im Iran sind realistischer als politisch agierende Exiliraner, die eher Regime Change anstreben. Das ist naiv, aber typisch für Exilsituationen, in denen man den Realitätsbezug verliert und nur noch ideologisch argumentiert. Bis auf eine kleine Schicht – ehemalige Schah-Anhänger, die eine Intervention begrüßen würden, lehnt das die überwältigende Mehrheit der Iraner ab. Die historische Erfahrung, besonders der CIA-Putsch 1953, bewirkt, dass jeder Eingriff von außen dem Iran nicht geholfen, sondern Schaden zugefügt hat.


Prof. Dr. Mohssen Massarrat kam Ende der fünfziger Jahre nach Deutschland und lehrte Politik und Ökonomie in Osnabrück. Er lebt jetzt in Berlin. Sein aktuelles Buch „Braucht die Welt den Finanzsektor? Postkapitalistische Perspektiven“ erschien 2017 im Hamburger VSA.

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