Mexikanisierung oder schleichende Diktatur in Brasilien? Das Spiel hinter den Kulissen der Militär-Intervention in Rio de Janeiro
Nach Karnevals-Umzügen, deren Bilder beißender Sozialkritik und Verspottung der de-facto-Regierung Michel Temer um die Welt gingen, erwachte Rio de Janeiro Mitte Februar wie heimgesucht von einem Aschermittwochs-Kater. Panzerfahrzeuge, aus der Luft von Hubschraubern eskortiert, rollten von den Kasernen rund um die 6-Millionen-Metropole in Richtung Innenstadt; tausende schwerbewaffnete Soldaten des Heeres gingen in Stellung mit Straßenblockaden und Haussuchungen in einschlägigen Favelas, die als Hochburgen der Drogenbanden bekannt sind. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.
Es ist der dreizehnte Einsatz des Militärs in Rio de Janeiro in 25 Jahren, jedoch mit einem entscheidenden, politischen Unterschied. Verrichtete das Militär in allen vorangegangenen Einsätzen eine Art „Notdienst“ als Hilfspolizei, handelt es sich mit der Unterstellung von Polizei, Feuerwehr und Haftanstalten unter das Kommando des Heeres, um die erste Intervention der Bundesregierung in den Sicherheitsapparat des Bundesstaates Rio de Janeiro seit Inkrafttreten der brasilianischen Verfassung von 1988. Kommandant mit uneingeschränkter Polizeigewalt des Eingriffs, der bis zum Jahresende 2018 in Kraft bleiben soll, ist Heeres-General Walter Souza Braga Netto.
Auslöser der Intervention, so die Regierung Temer, sei die Eskalierung der Gewalt, die die bewaffnete Konfrontation rivalisierender Drogenhändler-Banden aus São Paulo und Rio de Janeiro und die generell ausufernde Kriminalität zum Hintergrund hat. Die Regierung beruft sich bei ihrer Entscheidung auf ein Hilfe-Ersuchen des amtierenden Gouverneurs des Bundesstaates Rio de Janeiro, Luiz Fernando Pezão, dessen Landespolizei bereits mit der Sicherung der Fußball-WM von 2014 und der Sommer-Olympiade 2016 überfordert war und nun ihre Kapitulation vor der schweren Kriminalität eingestand.
Das Fiasko vorangegangener Militär-Einsätze
Der ehemalige Minister für Menschenrechte in der Regierung Fernando Henrique Cardoso und emeritierte Professor für Politikwissenschaften an der Universität São Paulo, Paulo Sérgio Pinheiro, bezeichnete den Eingriff in die Sicherheitssphäre Rio de Janeiros als „wirkungsloses Desaster, das absolut nichts bringen wird”.
„Die großen Dealer wohnen an Copacabanas Nobel-Avenue Atlântica, im Snobviertel Barra da Tijuca oder in Miami. Doch die, die für diese Intervention zahlen werden, sind die Bewohner der armen Gemeinden, der Favelas. Es ist ein völlig sinnloses Unternehmen. Die Streitkräfte haben keine Kompetenz, mit Verbrechern umzugehen, ganz gleich ob mit der gewöhnlichen oder der organisierten Kriminalität. Kurzfristig wird es überhaupt nichts bezwecken, es wird im Gegenteil die Situation nur verschlimmern “, warnte Pinheiro in einem Interview mit Rádio Brasil Atual (Intervenção no Rio: moradores das favelas são os que mais sofrerão – Rede Brasil Atual, 20. Februar 2018).
Auf Twitter zog der weltweit renommierte Theologe und Buchautor Leonardo Boff Bilanz vergangener Militäreinsätze:
„Mit den 600 Millionen (umgerechnet 150 Millionen Euro), die für die 14 Monate in der Maré-Favela für das Militär ausgegeben wurden, hätten Häuser, Schulen und Gesundheitsämter für die gesamte Bevölkerung (130.000 Bewohner) gebaut werden können, erklärte ein General. Und aus diesen Lektionen wird nichts gelernt”.
Der Einsatz der Streitkräfte zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität hat sich im Vergleich zu den 1990-er Jahren mehr als verdreifacht. Er betrug im Durchschnitt 293 Tage im Jahr außerhalb der Kasernen. Armee, Marine und Luftwaffe beteiligten sich mit je 3.717 männlichen und weiblichen Soldaten an insgesamt 181 sogenannten GLO-Einsätzen, ein brasilianisches Akronym für „Garantie zur Aufrechterhaltung der Legalität und der öffentlichen Ordnung“.
Landesweite Rezession, Massen-Arbeitslosigkeit, endemische Korruption mit Verhaftung des ehemaligen Gouverneurs Sérgio Cabral und der Verurteilung des amtierenden, jedoch durch Immunität geschützten Gouverneurs Pezão – die beide den finanziellen Kollaps des Bundesstaates Rio herbeiführten – ferner die verantwortungslose Beschneidung der Ressourcen durch Bund und Landesregierung für die ohnehin schlechtbezahlte und von Drogenbanden zu großen Teilen korrumpierte Polizei bilden die Hintergründe und Brutstätten der gegenwärtigen Sicherheitskrise Rio de Janeiros.
In diesem Kontext ging die in São Paulo beheimatete und hochprofessionell operierende kriminelle Vereinigung „Primeiro Comando da Capital / Erstes Kommando der Hauptstadt“ (PCC) zur landesweiten Offensive gegen rivalisierende Banden über. Der blutige Disput begann mit der regelrechten Abschlachtung von mehreren Dutzend Rivalen in Haftanstalten, setzte sich in Amazonien zum Zweck der Kontrolle über Kokain- und Waffenlieferungen aus den USA und dem benachbarten Kolumbien fort und gipfelte im anhaltenden Stadtkrieg um die Kontrolle des Drogenmarktes in Rio de Janeiro, den die PCC erfolgreich mit dem Anwerben von Verrätern der vor Ort beheimateten Bande „Comando Vermelho / Rotes Kommando“ und der Installierung ihres gewinnmaximierenden Drogen-Kapitalismus führt.
Nach Beurteilung des Anthropologen und ehemaligen Staatssekretärs Rios für öffentliche Sicherheit, Luiz Eduardo Soares, ist die Situation eine intensivierte Folge langandauernder Umstände und Fehlgriffe der öffentlichen Hand:
„Es ist immer das gleiche Vorgehensmuster: Konfrontation mit den ´Drogenbanden´ und militärische Einfälle in die Favelas, die Polizeibeamte, Verdächtige, vor allem aber Unschuldige töten. In einem Wort: die alte ´Politik´ des berüchtigten und längst besiegten ´Krieges gegen die Drogen´”.
Michel Temers Isolierung und der Geheimdienst als Strippenzieher
Die farblose Berichterstattung einschlägiger, deutscher Medien wie der ARD-Tagesschau (Kriminalität in Rio – Brasiliens Armee soll für Ordnung sorgen) und des Spiegels (Bandenkriminalität – Brasiliens Präsident schickt Militär nach Rio) erschöpfte sich bisher in der Banalisierung des Eingriffs. Die Oberflächlichkeit übersieht oder ignoriert dabei ein weitaus vielschichtigeres Szenarium hinter den Machtkulissen, das sich aus einem 4-teiligen Puzzle zusammensetzt.
Zum einen als Notbremse zur Rettung des durch Korruption, bei gleichzeitiger Verschuldung und Mittelverknappung, kollabierten Bundesstaats Rio de Janeiro. Zum zweiten als demagogischer Schachzug Temers, der sich mit einem weiteren Schwenk nach rechts verzweifelt aus seinem langandauernden Popularitäts-Tief von 7 Prozent an den eigenen Haaren hochzuziehen versucht. Zum dritten als politisches Manöver des rechtsradikalen Geheimdienstchefs General Sérgio Westphalen Etchegoyen, der den krankheitsgeschwächten Heereskommandanten, General Eduardo Villas Bôas, zu verdrängen versucht und viertens den parlamentarischen Putsch gegen Dilma Rousseff in eine schleichende Militärdiktatur oder vorläufig in die Arme des faschistischen Hauptmanns a.D., Abgeordneten und Präsidentschaftskandidaten Jair Bolsonaro spielen will, der mit rund 17 Prozent an zweiter Stelle hinter Altpräsident Luis Inácio Lula da Silva als Wähler-Favorit rangiert. Bolsonaro ist unter anderem für Ausrottungs-Parolen wie „ein guter Verbrecher ist ein toter Verbrecher!“ bekannt.
Obwohl sich Michel Temers und Etchegoyens Pläne taktisch ergänzen, verfolgen beide unterschiedliche Ziele. Temer muss mit mehreren Problemen gleichzeitig kämpfen, zum Bespiel damit, dass der Verabschiedung seiner unpopulären Rentenreform im unberechenbaren Parlament plötzlich die Stimmen-Mehrheit fehlt. Mit seinem Rechtsschwenk fantasiert der von 94 Prozent der Brasilianer abgelehnte, illegitime Staatschef seiner Traumstunde entgegen und gab die überstürzte Installierung eines neuen Ministeriums für öffentliche Sicherheit bekannt, dessen Zuständigkeiten ja ohnehin vom bestehenden Justizministerium wahrgenommen werden, das offenbar der Bedeutungslosigkeit preisgegeben werden soll.
In den wenigen kritischen Medien Brasiliens werden Temers Schachzüge von stümperhaft bis chaotisch bezeichnet. „Während die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit seiner Regierung lauter wird, dient der Schrei nach den Streitkräften offenbar zwei Zielen. Einerseits der Wiederbelebung des Bündnisses mit den konservativeren Randgruppen der Mittelschicht und ihrem Schlachtruf nach ´Recht und Ordnung´. Andererseits zur gegenteiligen Einschüchterung jener Gesellschaftsgruppen, die zur Beteiligung am organisierten Widerstand bereit sind”, kommentierte der Politikwissenschaftler an der Universität Brasília, Luis Felipe Miguel (O que quer Temer? Jornal GGN, 17. Februar 2018).
Der Geheimdienstchef und Scharfmacher, General Etchegoyen, dessen Vater einer der von der Wahrheitskommission angeklagten Militärs ist, verfolgt weitreichendere Ziele.
„Seine Strategie ist, die Intervention voranzutreiben, mehr Willkürakte zu wagen und den Widerstand der nationalen Institutionen zu testen“, mahnte Luis Nassif, Herausgeber des einflussreichen oppositionellen Internet-Journals GGN in São Paulo, und unterstellt, Etchegoyen sei der eigentliche Machthaber hinter den Kulissen: „Gibt es keinen nennenswerten Widerstand, wird er die Verfassung wie eine Melone mit dem Stiefel zertreten. Und die ´Flaschen´ in Zivil vom Obersten Gerichtshof, der Staatsanwaltschaft und dem Kongress sollen sich bloß nicht hinterher beschweren“ (Xadrez de Sérgio Etchegoyen, o comandante de fato do governo Temer – GGN, 19. Februar 2018).
Etchegoyen ist der „Export” der Intervention in andere brasilianische Bundesstaaten zuzutrauen, von denen 9 höhere Kriminalitäts- und Gewalt-Statistiken als Rio de Janeiro vorzuweisen haben. Doch längst spekuliert der rechtsradikale General mit der Kriminalisierung sozialer Bewegungen wie den Landlosen (MST); ein Doppelziel, womit Etchegoyen Brasilien unwiederbringlich in die blutige „Mexikanisierung”, nämlich die komplette, jedoch verfassungswidrige Übernahme der inneren Sicherheit durch das Militär stürzen würde.
General fordert Freibrief für geplante „Kollateralschäden“
Die scharfe und differenzierte Kritik an der Intervention in der brasilianischen Öffentlichkeit bleibt in deutschen Medien unerwähnt. Im Zentrum der Debatte steht die Hinterfragung der tatsächlichen Erfolgsaussichten des Militäreinsatzes.
Doch für Alarm sorgte eine Drohung von General Villas Bôas. Während einer Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates am 19. Februar erklärte der Heereskommandant, er sei besorgt über die Aufstellung einer „neuen Wahrheitskommission” nach Ende des Militäreingriffs in Rio. Der Satz weckte sofort Erinnerungen an finstere Zeiten und war im Handumdrehen beherrschendes Thema in Medien und sozialen Netzwerken.
Wogegen stänkerte der General? Villas Bôas meinte die Nationale Kommission der Wahrheit (CNV), die dank der Initiative von Präsidentin Dilma Rousseff (2010-2016) die von der 21 Jahre lang herrschenden Militärdiktatur (1964-1985) begangenen, schweren Verbrechen gegen die Menschenrechte untersuchte. In ihrem Abschlussbericht aus dem Jahr 2014 benannte die Kommission 377 Militärs und Polizisten als Schuldige der Gewalt-Verbrechen und für das Verschwinden von mindestens 450 politischen Gefangenen. Ein von den Militärs Anfang der 1980-er Jahre erlassenes Gesetz der Eigen-Amnestierung verhinderte bisher, dass die Folterer und Mörder vor Gericht gestellt werden konnten. Vor diesem Hintergrund interpretieren Kritiker der Militär-Intervention Villas Bôas´ respektlose Provokation als Freibrief für Kollateralschäden, man lese: die straffreie Misshandlung der Bevölkerung in Rios Elendsvierteln.
Juristen und Staatsanwälte aus der Strafrechts- und Menschenrechts-Szene schlugen Alarm. Die Erklärung des Generals sei vor allem deshalb „schlimm, weil sie die Übergriffe der Diktatur legitimiert – eine Diktatur, die gefoltert, getötet und zensiert hat“, warnte Pedro Abramovay, ehemaliger Staatssekretär im Justizministerium der Regierung Lula.