Haben „wir“ wirklich einen funktionierenden Sozialstaat, Frau Nahles?
Vergangene Woche, Donnerstag bei Maybrit Illner. Zu Gast ist Andrea Nahles, die Fraktionsvorsitzende der SPD. Unter dem Titel „Digital oder sozial – die Angst um die Arbeit von morgen“, diskutiert Nahles unter anderem mit Peter Altmaier (CDU) und Nicola Beer (FDP) über die Veränderungen in der Arbeitswelt. Dann, nach 11 Minuten, eine Aussage von Nahles, die zeigt: Die SPD will auch bei Umfragewerten von 16, 17 Prozent noch immer nicht verstehen, dass es besser wäre, die soziale Wirklichkeit in Deutschland nicht mehr zu verleugnen. Ein Beitrag von Marcus Klöckner.
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Thema war wieder einmal die „Digitalisierung“, ein Schlagwort, das von den NachDenkSeiten bereits häufiger thematisiert wurde. Auch Andrea Nahles scheint eine große Anhängerin dieses Schlagworts zu sein, das im Koalitionsvertrag ganze 94mal vorkommt. Konfrontiert mit den angeblich zu erwartenden sozialen Kahlschlägen, hätte Nahles eigentlich die Chance gehabt, den Sonntagsreden von der Parteierneuerung ein wenig praktische Unterfütterung zu verleihen. Doch was sagt Andrea Nahles? „Wir haben jetzt einen funktionierenden Sozialstaat … den wir auch weiterentwickeln können.“ (ab Minute 10:50). Weder Moderatorin noch die anderen Gäste der Polit-Talkshow haben die Aussage von Nahles aufgegriffen, um zu fragen: Bitte was haben wir?
Gewiss: Nun kann man unterschiedlicher Meinung darüber sein, was ein funktionierender Sozialstaat ist. Richtig ist: Es gibt in Deutschland „soziale Sicherungssysteme“. Und: Ja, diese sind im Vergleich zu anderen Ländern beachtlich. Doch da geht das Problem schon los. Was heißt: Im Vergleich zu anderen Ländern? Die Realität ist: Trotz des hochgelobten Sozialsystems in diesem Land gibt es Armut und Leid. Viel Leid – bedingt durch eben eine Armut, der der „funktionierende Sozialstaat“ nicht entschieden genug entgegentritt.
Anzeichen für die Schieflagen des Sozialstaates gibt es viele. Gerade von einer sozialdemokratischen Partei ist zu erwarten, dass ihre Repräsentanten sich für ein starkes soziales Sicherungssystem einsetzen und nicht die Wirklichkeit beschönigen, indem sie von einem „funktionierenden Sozialstaat“ faseln, während gleichzeitig Verteilungskämpfe an den Tafeln um abgelaufene Lebensmittel ausgetragen werden.
Dass sich gerade einmal einen Tag nach dem Auftritt von Nahles die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitet, wonach die Tafel in Essen vorerst nur noch Menschen mit einem deutschen Pass aufnimmt, zeigt einmal mehr, wie wirklichkeitsfremd der Blick der SPD geworden ist.
Der Spiegel-Online-Kolumnist Jakob Augstein geht mit den Sozialdemokraten in seinem aktuellen Beitrag scharf ins Gericht. Mit der Unterbrechung von vier Jahren trage die SPD bald seit „20 Jahren Regierungsverantwortung in Deutschland.“ „In dieser Zeit“, so Augstein weiter, „ist die Zahl der Tafeln von 220 auf 934 gestiegen.“ Die Tafeln, wie der Kolumnist anmerkt, „unterstützen regelmäßig etwa 1,5 Millionen Menschen.“ Und der Grund für diesen Zustand liegt nahe: „Weil die staatlichen Leistungen für viele Arbeitslose, Rentner und Flüchtlinge nicht ausreichen.“ Und Augstein weiter: „Die SPD ist schuldig. Sie erfand erst die Agenda-Politik und besetzte dann jahrelang das Sozial- und Arbeitsministerium. SPD-Politiker sollten bei diesem Thema besser schweigen.”
Das sind harte Worte, die der Kolumnist hier wählt. Sicher. Aber sie sind nichts weiter als angebracht.
Doch es scheint alles nichts zu helfen. Egal von wem die Kritik auch kommt, egal wie klar und deutlich die Partei auf ihre schwerwiegenden Weichenstellungen hingewiesen wird: Die Verantwortlichen in der SPD wollen einfach nicht einsehen. Sie wollen nicht ansatzweise erkennen, dass sie als Vertreter einer sozialdemokratischen Partei, die gerade aufpassen muss, von der AfD nicht weiter überholt zu werden, sich mit Äußerungen über einen „funktionierenden Sozialstaat“ besser zurückhalten sollten.
Die Fraktionsvorsitzende der Linken, Sahra Wagenknecht, sagte am Wochenende gegenüber dem Deutschlandfunk zur Situation in Essen, dass im Vordergrund der Diskussion stehen müsse, wie überhaupt in einem so reichen Land wie Deutschland „ein Streit darüber entbrennen kann, wer jetzt Zugang zu abgelaufenen Lebensmitteln hat.“ Auch das ist eine Aussage, die (nicht nur) die SPD sehr nachdenklich stimmen sollte.
Der Herbst des vergangenen Jahres liegt noch gar nicht so lange zurück. Da kam die Bertelsmann-Stiftung (nicht unbedingt als Organ eines linken Klassenkampfes zu verstehen) in einer Untersuchung zu einem für eine sozialstaatliche Politik vernichtenden Ergebnis. „Kinderarmut ist in Deutschland ein Dauerzustand“, so Jörg Dräger vom Vorstand der Bertelsmann Stiftung. „Wer einmal arm ist, bleibt lange arm. Zu wenige Familien können sich aus Armut befreien.”
Nun mal davon abgesehen, dass „Kinderarmut“ natürlich immer auch auf die Armut der Eltern verweist: Nahles sollte nicht nur diese Studie bekannt sein. Sie sollte wissen: Wenn Kinder in einem Land unter Armut leiden, dann sollten Politiker besser nicht von einem „funktionierenden Sozialstaat“ sprechen.
Wie groß die Schuld der SPD an diesen Zuständen ist, darauf verweist auch eine Nachricht, die ebenfalls kurz nach der Illner-Sendung bekannt wurde. Demnach treffen die Sanktionen, die gegen Hartz-IV-Empfänger verhängt werden, zu einem Drittel Haushalte, in denen Kinder leben. Von den 954.000 Sanktionen, die 2017 gegen Leistungsbezieher verhängt wurden, trafen 310.000 Familien mit Kindern.
Die Praxis, Sanktionen gegen die Armen zu verhängen, sprich: das Existenzminimum, über das die Armen in unserer Gesellschaft verfügen, noch weiter zu kürzen, geht auf die SPD und ihre „Agenda-Politik“ zurück. Vielleicht wäre es für die SPD-Verantwortlichen besser, den Begriff Sozialstaat gar nicht mehr in den Mund zu nehmen.