Die kommenden Koalitionspartner sind weit weg von der Lebenslage vieler Menschen und von dringlichen Problemen unserer Zeit.
Heute sind die Ergebnisse der Sondierungsgespräche von CDU, CSU und SPD in einer „Finalen Fassung“ – wie es heißt; verdammt noch mal, können die nicht Deutsch? – veröffentlicht worden. Siehe hier. Überfliegen Sie, wenn Sie Zeit haben, diesen Text. Vergleichen Sie ihn mit Ihren eigenen Erfahrungen und Einsichten und den auf den NachDenkSeiten gestern veröffentlichten Analysen und Vorschlägen. Wir sollten eine rege Diskussion über das dürftige Sondierungsergebnis entfachen. Albrecht Müller.
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Zu den Ergebnissen der Sondierungsgespräche will ich einige wenige Anmerkungen machen:
- Die künftigen Koalitionäre kennen die Lebenswirklichkeit vieler Menschen nicht.
Sie stellen in der Präambel fest, das Wahlergebnis vom September letzten Jahres zeige, dass viele Menschen unzufrieden waren. Und dann wird angekündigt, daraus die entsprechenden Schlüsse zu ziehen, nämlich „zu sichern, was gut ist, aber gleichzeitig den Mut zur Erneuerung und Veränderung zu beweisen“. Da wird also unterstellt, die Menschen seien unzufrieden gewesen, weil sie bei den Regierenden den Mut zur Erneuerung vermissten.
Das scheint mir eine falsche Diagnose zu sein. Die Koalitionäre haben nicht verstanden, warum so viele Menschen unzufrieden sind. Sie haben jedoch selbst wenige Sätze vorher die Erklärung geliefert. Da schreiben sie nämlich schon im dritten Satz der Präambel:
„Die Wirtschaft boomt, noch nie waren so viele Menschen in Arbeit und Beschäftigung.“
Die Partner der großen Koalition, die uns in der letzten Zeit regiert haben und wieder regieren werden, haben offenbar nicht verstanden, dass ihr wiederkehrendes Selbstlob über die boomende Wirtschaft und „die vielen Menschen in Arbeit und Beschäftigung“ eine Provokation für jene vielen Menschen ist, die arbeitslos sind oder sich von prekärer Beschäftigung zu prekärer Beschäftigung schleppen. In dem heute auf den NachDenkSeiten zitierten Leserbrief von Manfred Becker wird sehr anschaulich geschildert, wie dieses Leben ist und wie es im Widerspruch zu dem Leben von Menschen steht, die in richtiger Arbeit und Beschäftigung sind.
Das Papier der Koalitionäre zeigt, dass sie dieses grundlegende Problem unserer Gesellschaft nicht begreifen wollen. Sie machen ihre eigene Welt zur Welt aller, jedenfalls in ihrer Propaganda. Traurig.
- Die Koalitionäre wollen „die großen Fragen unserer Zeit entschlossen lösen“. Aber bei den genannten sogenannten „großen Fragen“ fehlt Entscheidendes, zum Beispiel:
- Kein Wort zu der Kriegsgefahr, kein Wort zum Konflikt mit Russland, kein Wort zu den Sanktionen.
- Die Kriege des Westens werden als Ursache für den Tod von Millionen Menschen und als Ursache von Flucht und Leid nicht erwähnt.
- Das Problem, im Westen eine imperiale Führungsmacht zu haben – übrigens nicht erst seit Trump – und dieser militärisch orientierten Führungsmacht hilflos ausgeliefert zu sein, wird nicht erkannt, jedenfalls nicht angesprochen.
- Dass wir über die vielen US-amerikanischen Militärbasen direkt in diese auf Militär abgestützte Außen- und Sicherheitspolitik einbezogen sind, ist kein Thema für die sich neu abzeichnende Koalition.
- Es gibt eine Ausnahme zu den vielen Lücken; darauf machte uns ein Leser der NachDenkSeiten gerade aufmerksam: Auf Seite 26 des Papiers steht: „Völkerrechtswidrige Tötungen durch autonome Waffensysteme lehnen wir ab und wollen sie weltweit ächten“
Dazu der NachDenkSeiten Leser:
„Da von Ramstein aus völkerrechtswidrige Tötungen ermöglicht werden, sollte man sofort auf diese klare Aussage im Sondierungspapier reagieren. Ramstein ist jetzt fällig!“
- Europa ist ein Schwerpunkt. Das ist richtig. Aber wenn man das so will, dann muss man auch die großen Probleme Europas mit in die eigene Regierungsarbeit einbeziehen. Das geschieht nicht. Es ist außerdem höchst fraglich, ob es richtig ist, den Aufbau Europas so sehr auf die Zusammenarbeit von Deutschland und Frankreich alleine abzustützen. Die Überschätzung und Fehleinschätzung des französischen Präsidenten Macron schwingt auch hier überall mit.
- Die Koalition will die gemeinsame europäische Außen-und Sicherheitspolitik im Sinne einer Friedensmacht Europa stärken. Das Politische soll Vorrang haben vor dem Militärischen. Das klingt gut, aber dann wird auf PESCO verwiesen. Und das klingt gar nicht gut. Das ist nämlich die Ankündigung der engeren militärischen Zusammenarbeit zwischen EU und NATO. Und das ist kein guter Weg.
- Im Kapitel über Europa wird angekündigt, den Kampf gegen Steuerbetrug und aggressive Steuervermeidung voranzutreiben. Was ist denn „aggressive“ Steuervermeidung? Soll die normale Steuervermeidung der großen Unternehmen so weiterlaufen wie bisher? Das ist nicht akzeptabel.
- Auf Seite 6 wird CETA gelobt, wegen angeblich zukunftsweisender Regelungen für den Schutz von Arbeitnehmerrechten, öffentlicher Daseinsvorsorge und für einen fortschrittlichen Investitionsschutz. Naja.
- Beim Thema Verkehr wird sichtbar, dass die künftigen Koalitionäre nicht wahrnehmen, was in diesem Zusammenhang und bei diesem Thema nötig wäre. Verkehrsvermeidung kommt nicht vor und Überlegungen zu dezentraleren und regionaleren Produktionsräumen mit weniger Verkehr sind den in Berlin versammelten Koalitionären offenbar fremd. Siehe dazu im Vergleich das NachDenkSeiten Papier von gestern.
- Dass die „Arbeit auf Abruf“ zunimmt, wird nicht kritisiert. Man will jedoch sicherstellen, dass der Arbeitnehmer „ausreichend Planungs- und Einkommenssicherheit in dieser Arbeitsform“ hat. (Seite 8). Nur fünf Zeilen später wird versprochen, man „wolle Familien in ihrem Anliegen unterstützen, mehr Zeit für einander zu haben und die Partnerschaftlichkeit zu stärken“. Wie das bei Arbeit auf Abruf gehen soll, wird nicht erklärt.
- Auf Seite 9 wird angekündigt, dass das Kindergeld steigen soll und hinzugefügt: „Gleichzeitig steigt der steuerliche Kinderfreibetrag entsprechend.“ Das wird von einer SPD mitgetragen, die 1975 stolz darauf war, dass sie die ungerechten Kindersteuerfreibeträge gänzlich abgelöst hat und durch ein gleiches Kindergeld für alle ersetzt hat.
- Bei der Thematik Rente klopft man sich allen Ernstes auf die Schulter bei dem Versprechen, die „gesetzliche Rente auf heutigem Niveau von 48 % bis zum Jahr 2025 gesetzlich abzusichern“. Das ist bodenlos anspruchslos und die Fortsetzung der programmierten Altersarmut.
Nach wie vor hält die Koalition am Drei-Säulen-Modell fest. Die Partner wollen in diesem Rahmen die private Altersvorsorge weiter entwickeln. Sie haben also nichts aus dem Scheitern der Riester-Rente und den negativen Folgen der staatlich geförderten betrieblichen Altersversorgung gelernt. Siehe dazu im Gegensatz die Ziffer 1. des NachDenkSeiten Papiers von gestern.
- Positiv kann man werten, dass die Parität bei den Beiträgen zur gesetzlichen Krankenversicherung wieder hergestellt werden soll. Aber die Bürgerversicherung in diesem Bereich wird offensichtlich nicht angestrebt.
- Die Förderung des sozialen Wohnungsbaus ist unzureichend angedacht. Das müsste aber ein Schwerpunkt der künftigen Regierungsarbeit sein.
Dies waren ein paar erste Hinweise. Wenn Sie das Papier überfliegen, werden sie weiteres entdecken.