Die soziale Frage – ohne Klassenkampf keine Hegemonie
Andrea Ypsilanti hat ein Buch geschrieben mit dem Titel “Und morgen regieren wir uns selbst“, das heute im Westend Verlag erscheint. Darin analysiert sie die Krise der europäischen Sozialdemokratie, spricht sich gegen eine erneute große Koalition aus, fordert die Demokratisierung der inneren Strukturen und entwickelt Ideen, wie die gesellschaftliche Linke zusammenfinden kann, um der neoliberalen Politik einen ernsthaften sozial-ökologischen Umbau entgegenzusetzen. Ein Auszug. Albrecht Müller.
»There’s class warfare, all right, but it’s my class, the rich class, that’s making war, and we’re winning.« Buffett sagte das nicht aus Überheblichkeit, sondern mit Sorge. Investoren wie er oder George Soros erkennen sehr wohl, dass die Schere zwischen oben und unten immer weiter auseinandergeht. Thomas Piketty führt in seinem Werk Das Kapital im 21. Jahrhundert (2016) überzeugend aus, dass die Besitzer von Finanzvermögen, Aktien, Immobilien, Anleihen und so weiter gar nicht anders können, als immer reicher zu werden. Es genüge, einfach stillzuhalten und die Erträge des »passiven« Einkommens anzuhäufen. Der reale Produktionsprozess, der den gesellschaftlichen und materiellen Reichtum erwirtschaftet, kommt dabei nicht mehr mit. Das ist keine moralische Position, sondern einfache Empirie.
Es genügt also nicht, wenn Sozialdemokrat*innen in immer neuen Varianten in Wahlkämpfen die Platte der sozialen Gerechtigkeit auflegen. Es geht eben nicht nur um gute Löhne oder gute Arbeit. Es geht darum, wie die Klassenfrage aufgerufen und die Auseinandersetzung geführt wird. Der Klassenkampf von oben ist real, subtil, medial hegemonial. Das kommt zum Ausdruck, wenn leichtfertig und defätistisch anerkannt wird, dass man eben nicht gegen die Finanzmärkte, das »scheue Reh des Kapitals«, Politik machen könne. Wenn man diese Form der Herrschaft und Ideologie quasi als ein Naturgesetz hinnimmt, in dessen Rahmen höchstens leichte Verbesserungen möglich sind und der Kapitalismus nur »gezähmt« werden kann, wird Gegenhegemonie kaum zu verwirklichen sein. Die Marktsozialdemokratie hat diese Haltung verinnerlicht. Sie hat sich danach ausgerichtet. Die zweite Formation im Klassenkampf ist horizontal. Dem Neoliberalismus ist es gelungen, die unteren sozialen Klassen gegeneinander aufzuwiegeln und auszuspielen. Nun steht er wie der Zauberlehrling vor den Geistern, die er rief und nicht mehr loswird.
Die Sozialdemokratie kann diesen bedrohlichen Tendenzen tatsächlich etwas entgegensetzen und wieder eine Volkspartei werden, wenn sie eine andere Haltung einnimmt. Kulturelle Hegemonie gibt es nicht umsonst. Dafür muss man kämpfen. In der Epoche des neoliberalen Kapitalismus bedeutet dies für Sozialdemokrat*innen, Sozialisten*innen und linke Parteien, die Herausforderungen des neoliberalen Klassenkampfs von oben auch von unten anzunehmen. Es braucht den Mut zu einer »radikalen Reformpolitik«. Es geht darum, »Intellektuelle eines neuen Typs« hervorzubringen, die direkt aus den Lohnabhängigen »hervorgehen und gleichwohl mit [ihnen] in Kontakt bleiben, um ›Korsettstangen‹« einer neuen Bewegung zu werden.[1]
»Radikal sein ist die Dinge an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst. Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.«[2] Dieses von Marx quasi in Stein gemeißelte Zitat ist Analyse und Aufforderung zugleich. In der heutigen Zeit verweist es uns auf eine verdrängte und verbannte Realität.
Der neoliberale Glaube an den Markt hat zweifellos religiöse Züge. Mit ihm wird seit über vierzig Jahren der »Klassenkampf von oben organisiert«[3]. Dem ist nicht alleine mit dem kategorischen Imperativ, alles »umzuwerfen«, beizukommen. Zwar ist die neoliberale Hegemonie brüchig geworden, aber sie hat sich in unser alltägliches Denken eingenistet. Man muss dieser Konstellation radikaler begegnen als in der Vergangenheit. Das bedeutet politisch, sich der Logik der Alternativlosigkeit zu verweigern. Selbst dann, wenn die Alternativen nicht offen auf dem Tisch liegen. Im Sinne Ernst Blochs: »Wer A sagt, muss nicht automatisch B sagen.«
Die populistische Rechte scheut sich nicht, Machtfragen zu stellen, Tabus zu brechen, Verleumdungen und Lügen in die Welt zu setzen. Die Sozialdemokratie ist gut beraten, den populistischen Weg zu meiden. Sie muss jedoch Machtfragen stellen und Tabus von links brechen. Eine grelle Rhetorik – »wir kämpfen für die hart arbeitende Mitte« –, verbunden mit dem Hinweis, dass Pfleger und Krankenschwestern gesellschaftlich wertvolle Arbeit leisten, wirkt schal. »Wortgebimmel« würde Rosa Luxemburg sie nennen, das sich aus der Agendarhetorik speist und völlig ignoriert, dass es eben noch die anderen gibt. Jene, die aus vielerlei Gründen nicht dazugehören, aber gleichwohl ein Recht haben, gehört zu werden.
Vielleicht wissen die Krankenschwester, der Pfleger, der Busfahrer oder die Kassiererin ja, dass sie hart arbeiten. Die Bäckerei mit Stehcafé weiß ebenso, dass sie Steuern zahlt und Starbucks eben nicht. Das ist sogar legal. Und vielleicht sind sie gerade deswegen enttäuscht und entfremdet von einer Sozialdemokratie, weil sie sehr wohl registrieren, wie sehr die Vermögen, Managergehälter und Kapitaleinkünfte in den vergangenen Jahrzehnten gestiegen sind, während die Reallohneinkommen stagnierten. Weil sie es schwarz auf weiß im Auszug lesen, wie viel Steuern sie zahlen, während die großen internationalen Konzerne die kleinsten Schlupflöcher nutzen. Aber außer Rhetorik hat die Politik nichts dagegengesetzt.
Eine Sozialdemokratie, die wieder kämpfen will, muss politökonomische Machtfragen stellen, die die sozialen Klassen, für die die Sozialdemokratie historisch angetreten ist und zeitgenössisch vorgeblich steht, mitnehmen und ihnen eine Perspektive weisen. Diese Perspektive sollte die Auseinandersetzung und den Konflikt nicht meiden und zeigen, auf welcher Seite sie steht. Eine linke Position mit »Drohpotential«, die bereit ist, ihre Forderungen in die Praxis umzusetzen, wird attraktiver sein als die Endlosschleifen der »guten Arbeit«, die gerecht entlohnt werden muss.
Die »Koalition«, gebildet aus gegen den autoritären Staat rebellierenden linken und grünen Bewegungen der frühen 1980er Jahre und dem neoliberalen Kapitalismus, vereint in einem »progressiven Neoliberalismus«, wie ihn Nancy Fraser beschreibt, führt zu einem Populismus der vermögenden Klassen. Sie können sich diesen Staat leisten, die Einkommensschwachen aber nicht. Dabei geht es bei der Frage, wie »stark« der Staat sein kann und soll, um mehr als nur die Infrastruktur. Es geht auch um die soziale Sicherheit. Der »progressive neoliberale Populismus«, der durchaus Minderheiten schützt, nicht selten aus wohlfeilen ökonomischen Interessen – schließlich braucht man günstige, talentierte Migranten –, empört sich umso entschiedener, wenn es um staatliche Leistungen geht. Aber genau diese waren und sind die Domäne und Daseinsberechtigung der sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien.
Klassenverhältnisse und soziale Sicherheit sind zwei Seiten einer Medaille. Der neoliberale Kapitalismus hat einen großen Teil der lohnabhängig Beschäftigten mit der Kürzung und Schleifung der sozialen Sicherheitssysteme »enteignet«. Die Sicherheiten des fordistischen Normarbeitsverhältnisses mit einem starken Sozialstaat bis zu den 1990er Jahren wurden ebenso wie das Individuum grundlegend flexibilisiert. Nicht ohne Grund warnen konservative und liberale Parteien vor Rentenwahlkämpfen und echauffieren sich schnell und heftig, wenn die Sprache auf die Verteilungsgerechtigkeit kommt.
Es ist an der Zeit, dass sozialdemokratische und sozialistische Parteien, aber zum Teil auch die Gewerkschaften sich in diesen Fragen nicht mehr domestizieren lassen. Dass sie auch nicht mehr dem Mantra der demographischen Entwicklung folgen, die Kürzungen bei Renten seien unumgänglich. Wenn das stimmen würde und man dem Argument folgte, dass nicht immer weniger Beitragszahler immer mehr Rentner finanzieren können, stellt sich allerdings eine historische Frage. Nach dieser Logik hätten im 19. und frühen 20. Jahrhundert die Rentenkassen prall gefüllt sein müssen. Denn zu dieser Zeit gab es exponentiell viele Beitragszahler, weniger Rentner und eine geringere Lebenserwartung. Andererseits weniger Rente, schwere ökonomische Krisen, von der Lebensqualität ganz zu schweigen. Die demographische Frage, von Walter Riester und den Versicherungen ideologisch aufgepumpt, verschweigt eine schlichte ökonomische Tatsache. Der tatsächliche Verteilungsspielraum, ob für Löhne oder Renten, hängt vom Produktivitätsfortschritt ab. Wenn der jedoch nicht verteilt, sondern strukturell bei den Unternehmen und Kapitalbesitzern verbleibt, wird es tatsächlich eng für die Sozialausgaben. Hinzu kommt, dass die Gruppen, die keine Einkommen erzielen und Reserven bilden können, doppelt benachteiligt sind. Zum einen wird ihnen die soziale und kulturelle Teilhabe verweigert. Zum anderen sterben Arme früher als Reiche.[4]
Das sind einfache empirische Fakten mit hohen gesellschaftlichen Nachwirkungen. Es lässt sich herunterdeklinieren auf die gesamten sozialen Versicherungssysteme. Weshalb die sozialdemokratischen und sozialistischen Funktionäre unkritisch den ideologischen Argumenten des neoliberalen Kapitalismus folgen, bleibt ihr »Geheimnis«.
Fakt ist, dass publizistisch auch auf sozialstaatlicher Ebene die Hegemonie der Austerität dominiert.
Diese wenigen Beispiele zeigen, dass Hegemonie nicht (nur) eine Frage populistischer Stimmungen, sondern politischer, sozialer und ökonomischer Klassenkämpfe ist.
Eine Sozialdemokratie, die soziale und kulturelle Hegemonie wiedergewinnen will, muss die Courage haben, Auseinandersetzungen zu antizipieren und sich ihnen ohne Wenn und Aber auch zu stellen. Vielleicht benötigen wir dafür mit Blick auf die Zukunft auch eine neue Erzählung. Aber vorerst würde es auch schon einmal genügen, im Sinne Willy Brandts, richtig Erkanntes politisch zu formulieren und durchzuhalten. Sozialist*innen und Sozialdemokrat*innen verlieren, wenn sie Stimmungen oder Umfragen hinterherlaufen. Das bedeutet nicht, diese zu ignorieren. Doch Gegenhegemonie erfordert neben der Aufklärung über die Verhältnisse eine grundlegende Programmatik wie auch eine theoretische, emotionale und sinnliche Überzeugung. Sie beginnt nie in der Mehrheit, sondern entsteht durch Ideen, Erkenntnisse und Analysen einer überzeugten Minderheit. Das war bei der Ostpolitik von Brandt, der Frauenbewegung, der Ökologiebewegung und anderen Prozessen der Fall.
Hegemonie kann eine Partei nicht beschließen, sie kann sie programmatisch vorantreiben und befördern. Eine Sozialdemokratie, ob national, europäisch oder internationalistisch, sollte sich wieder trauen, »das in Möglichkeit Seiende«[5] zu antizipieren, zu erkennen, zu formulieren und mit Haltung auch gegen Widerstände der herrschenden Eliten zu vertreten.
Regierungsmacht und Hegemonie sind dabei nicht zwingend identisch. Die »Münteferingsche Subjekt-Prädikat-Objekt-Dialektik« – »Opposition ist Mist« – verkennt historische Fakten und einen Wesenskern demokratischer Gesellschaften. Opposition ist zunächst eine große Errungenschaft der offenen, liberalen Gesellschaften. Sie ist ein Wert an sich der bürgerlichen Gesellschaften und der parlamentarischen Demokratie. Besonders Sozialdemokrat*innen und Sozialist*innen sollten das nicht geringschätzen, denn in ihren historischen Kämpfen um Presse- und Meinungsfreiheit ging es zunächst gerade darum, oppositionelle Positionen zu legalisieren. Deshalb ist es historisch falsch, dass Opposition immer Mist ist. Im Gegenteil, sozialdemokratische Politik und Positionen waren in der Opposition bisweilen wirksamer als in der Regierungsverantwortung. Die Montanmitbestimmung in der Adenauer-Epoche oder der Kampf um die 35-Stunden-Woche in der Kohl-Ära legen davon Zeugnis ab. Entscheidender als die Frage der Regierungsverantwortung ist der gesellschaftliche Wirkungsgrad der Alternativen zur herrschenden Politik und Ökonomie.
Der Kulturwissenschaftler Mark Fisher formulierte die Anforderung an eine Politik und Kultur, die mit dem neoliberalen Kapitalismus bricht, dramatisch optimistisch: »Wir müssen die lange, dunkle Nacht am Ende der Geschichte als große Chance begreifen. Die unterdrückerische Verbreitung des kapitalistischen Realismus bedeutet, dass sogar der kleinste Funke alternativer politischer oder ökonomischer Möglichkeiten eine überproportionale Wirkung haben kann. Das kleinste Ereignis kann ein Loch in den grauen Vorhang limitierter Handlungsmöglichkeiten reißen, die bisher den Möglichkeitshorizont des kapitalistischen Realismus markieren. Aus einer Situation, in der nichts passieren kann, ist eine geworden, in der wieder alles möglich ist.«[6]
Das bedeutet jedoch nicht, auf den Funken zu warten. Denn auch dieser muss entzündet werden. Dafür braucht es einen programmatischen Ansatz. Eine radikale Reformpolitik muss hierzu formuliert werden. Sie könnte das Feuerzeug sein.
Andrea Ypsilanti: „Und morgen regieren wir uns selbst. Eine Streitschrift“, 250 Seiten, Westend Verlag, 12.1.2018
Mehr dazu auch in diesem kurzen Videointerview.
[«1] Antonio Gramsci: Gefängnishefte, Herausgegeben von Wolfgang Fritz Haug und Peter Jehlen, Hamburg 1991–2001, S. 1390.
[«2] Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1, S. 385.
[«3] Christine Resch, Heinz Steinert: Kapitalismus, Munster 2011, S. 126.
[«4] Siehe den Beitrag in Panorama von Ben Bolz und Tina Soliman: Lebenserwartung: Wer wenig hat, ist früher tot, 2017
[«5] Ernst Bloch: Prinzip Hoffnung, Frankfurt 1985.
[«6] Mark Fisher: Kapitalistischer Realismus ohne Alternative, VSA, Hamburg 2013, S. 95.