Chile – Mit hoher Wahlenthaltung, „friendly fire” der Linken und Venezuela-Vergleich gewinnt Sebastián Piñera Präsidentschaftswahl
Chile wählte am vergangenen Sonntag einen neuen Staatspräsidenten. Wie bereits vor der ersten Wahlrunde vom vergangenen 19. November geschehen, versagten sämtliche Prognosen der Meinungsforschungsinstitute auch für die Stichwahl. Anstatt eines angeblichen Patts zwischen Regierungskandidat Alejandro Guillier und seinem konservativen Herausforderer Sebastián Piñera führte Letzterer bei 20 Prozent der Stimmenauszählung bereits mit 9 Punkten vor dem Mitte-Links-Kandidaten und wurde am frühen Abend des 18. Dezember mit 54,5 Prozent gegen 45,4 Prozent als neuer Präsident Chiles für die kommenden vier Jahre bestätigt. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.
Zur Stichwahl wurde der amtierende Senator der sozialdemokratischen, radikalen Partei Chiles von der neuformierten, linken Frente Amplio (Breite Front) und zwei linksreformistischen Splitterparteien unterstützt (siehe auch den Artikel auf den NachDenkSeiten vom 26.11.2017), während Piñera, der Chile bereits von 2010 und 2014 zum ersten Mal regierte, vom im ersten Wahldurchgang unterlegenen, ultrarechten Präsidentschaftskandidaten José Antonio Kast, jedoch allen Anzeichen nach auch von der konservativen Fraktion der der Mitte-Links-Regierungskoalition von Präsidentin Michelle Bachelet zugehörigen Christdemokratischen Partei Chiles unterstützt wurde.
Als vorausgesagte Begleiterscheinung blieb jedoch die Hälfte Chiles am Wahlsonntag zu Hause. Mit etwas höherer Wahlbeteiligung im Vergleich zum ersten Wahlgang (55 Prozent) war die Stichwahl ebenfalls von extrem hoher Stimmenthaltung (51,1 Prozent) der 14,3 Millionen Wahlberechtigten gekennzeichnet, sodass von 6,95 Millionen gültigen Stimmen 3,7 Millionen auf Sebastián Piñera und 3,15 Millionen auf Alejandro Guillier entfielen.
Jedoch auch das Wahlverhalten von Armen und Reichen stellte die Prognosen der Meinungsforschungsinstitute auf den Kopf. Diese hatten vorausgesagt: Je niedriger die Wahlbeteiligung, umso größer der Vorteil Piñeras. Es passierte das genaue Gegenteil: Piñeras Wähler der Mittelschicht aufwärts strömten massiv zu den Urnen, während beispielsweise in den Armenvierteln des südlichen Santiago – die potentielle Wählerbasis der Linken – 72 Prozent der Wähler den Urnengang verweigerten und die Niederlage Guilliers herbeiführten.
Die Wahl Piñeras scheint zweierlei Mutmaßungen über die chilenische Gesellschaft der Post-Pinochet-Ära zu bestätigen. Zum einen stoßen selbst vorsichtige Steuer-, Arbeitsrechts-, Bildungs- und Genderrechts-Reformen, wie die Michelle Bachelets, auf massiven Widerstand von mindestens der Hälfte der 17 Millionen Chilenen, deren unvermuteter Konservatismus eine Querfront durch die sozialen Klassen bildet.
So reichte die virale Verbreitung einer Falschmeldung, wonach der moderate Sozialdemokrat Guillier in Wirklichkeit ein Wolf im Schafspelz – genauer: ein „getarnter Anhänger Nicolás Maduros“ – sei und Chile mit ähnlicher Intoleranz und wirtschaftlicher Inkompetenz in eine „ruinöse Diktatur“ führen werde, damit der rechte Rand zur durchschlagenden Wahlbeteiligung gegen „ChileZuela“ aufrief. Anstatt sich von der absurden und verlogenen Unterstellung zu distanzieren, heizte Piñera sie jedoch an.
Zum anderen offenbart das Wahlverhalten weitverbreiteten Individualismus, merkantilistisches Vorteilsdenken und Indifferenz, die als schwere, geistige Schädigungen des rabiaten, neoliberalen Wirtschaftssystems erst 27 Jahre nach Ende der Militärdiktatur ernstgenommen werden.
“Friendly fire”
Die taktische Wahlunterstützung Guilliers durch Beatriz Sánchez´ linke Frente Amplio kann man mit „kloppen, pusten und wieder einschlagen“ beschreiben. Die Widersprüchlichkeit und Inkonsequenz verwirrte einen Großteil der Wähler.
Kurz nach dem ersten Wahlgang von Mitte November zog sich die Breite Front zu Konsultationen ihrer Basis und Beratungen ihres äußerst heterogenen, aus 12 unterschiedlichen, linken Splitterparteien bestehenden Führungsstabs eine Woche lang zurück. Im Anschluss daran trat Sánchez mit der Erklärung auf, „wir, als Frente Amplio, werden keinen der beiden Kandidaten unterstützen. Wir werden nicht an der Regierung teilnehmen, wir werden keine Verhandlungen führen. Persönlich habe ich trotzdem erklärt, für wen ich stimmen werde, doch besitze ich kein Mandat für die Stimmen unserer Wähler, ich kann deshalb auch keinen Aufruf zur Wahl machen”, betonte die Journalistin und langjährige Kollegin Guilliers im chilenischen Rundfunk und Fernsehen.
Selbstverständlich war es ein offenes Geheimnis, dass Sánchez in der Stichwahl ihre Stimme an Guillier abgeben würde. Ihr Beispiel fand nun massenhafte Nachahmung in zahlreichen Erklärungen verschiedener Parteiführungen, wurde jedoch von ebenso vielen gegenteiligen Deklarationen und Bedingungen, wie der des anmaßend bis arrogant auftretenden Abgeordneten und Frente-Amplio-Mitbegründers Gabriel Boric, konterkariert, der Guillier „klare Bekenntnisse in Kernfragen“ abzuzwingen versuchte.
Die ambivalente Haltung der Breiten Front blieb nicht ohne Folgen, viele Wähler suchten das Weite und blieben dem Wahlgang fern.
Ausweitung der neoliberalen Wende
Piñeras Sieg wird selbstverständlich auf Seiten von Großunternehmen, Banken und konservativen Medien als „liberale Wende“ im Scheingegensatz zum vorsichtigen Reformkurs der ohnehin unter neoliberalen Vorzeichen handelnden Regierung der Sozialistin Michelle Bachelet gefeiert. Er stärkt die seit zwei Jahren in Argentinien und Brasilien vorangetriebene Demontage der mäßigen sozialen Umverteilungspolitik der vorangegangenen Mitte-Links-Regierungen. Piñeras Duzfreund, Geschäftspartner und amtierender Präsident Argentiniens, Mauricio Macri, scheute nicht einmal einen diplomatischen Zwischenfall mit einer Wahlempfehlung per YouTube seines geistigen Bruders im liberalen Credo und erntete eine Beschwerde von Bachelets Außenministerium.
In Chile stand zur Diskussion, ob der Reformkurs Bachelets bestätigt und vertieft oder mit Piñera eine Wende mit verstärktem neoliberalen Akzent eingeläutet werden sollte. Darüber entzweite sich das Land. Wie die spanische El País richtig erkannte, sollten weder Guilliers noch Piñeras Programme als wirklich tiefe Veränderung bzw. als radikale Kurswende gewertet werden (Piñera gana las elecciones en Chile con una diferencia clara de nueve puntos – El País, 18. Dezember 2017).
Als Signal des Entgegenkommens an die Forderung nach Kontinuität von Bachelets begonnener Reform für das Grundrecht auf komplette, kostenlose Ausbildung in staatlichen Grund- und Hochschulen „klaute“ Piñera Guillier eines seiner Regierungsprogramme und erklärte seine Akzeptanz der staatlich geförderten Universitätsausbildung. Das Problem Piñeras ist nämlich, dass er keine Mehrheit im neugewählten Parlament haben wird, ergo moderate und progressive Abgeordnete umwerben muss, um seine Gesetzes-Initiativen durchzusetzen.
Piñera setzt auf Verlangsamung und Umdenken im Reformkurs, doch selbst eine radikale Umkehr bei einem Gesetz wie der teilweisen Entkriminalisierung der Abtreibung oder des Kinder-Adoptionsrechts für homosexuelle Paare – Initiativen Bachelets, die unter schweren Beschuss der ultrakonservativen Kräfte im Parlament gerieten – scheinen kaum vorstellbar. Es darf vermutet werden, dass der Multimilliardär für den Ausbau von Bürgerrechten und Reformen nicht zu haben sein wird. Sollte er gar von seinen erzreaktionären Wahlunterstützern zum Abbau bestehender Errungenschaften genötigt werden, setzt er sich in ein Wespennest und riskiert in kürzester Zeit das Aufwallen von Massenprotesten, die bereits für März 2018 angekündigt sind.
Dem pfiffigen und zwielichtigen Unternehmer kommt es erst einmal darauf an, die Privatwirtschaft mit Steuersenkungen, ergo mit einer teilweisen Annullierung von Bachelets Steuerreform und staatlichen Fördermaßnahmen, zu beschenken, um damit gleichzeitig dem Mittelstand mit kaum verhüllter Demagogie zu signalisieren, „es geht wieder bergauf“. Was Piñera dabei verschweigt, ist, dass nach jahrelangem Preisverfall des Kupfers, der Bachelet zu schaffen machte, der Kurs des Hauptdeviseneinbringers Chiles sich langsam wieder erholt, die staatlichen Einnahmen entscheidend verbessern und eventuell die nur mäßig wachsende Wirtschaft neu ankurbeln könnte.
Anziehungskraft und Register eines Wirtschaftskriminellen
Die Frage, die sich nicht wenige aufgeklärte Chileninnen und Chilenen nach dem Wahlergebnis stellten, ist, was bringt die einfache Frau, den einfachen Mann auf der Straße und große Teile der Mittelschichten dazu, einen Multimilliardär zu wählen, dem seit Jahrzehnten doch der Ruf anhängt, Politik als verlängerten Arm von Geschäftemacherei zu betrachten, bei der Anhäufung seines beachtlichen Besitzes nicht gerade im Einklang mit Gesetz und Anstand gehandelt zu haben und obendrein auf öffentliche Kritik mit kaltschnäuziger, abfälliger Indifferenz zu reagieren.
Auf die vom grenzen- und gesetzlosen Neoliberalismus eingefangenen Geister strahlt Piñera das Sinnbild des entschlossenen „Selfmademans” aus, der sein Wirtschaftsimperium aus dem Geschäft mit Kreditkarten aufbaute und mit trickreichen Gelegenheits-Investitionen in Privatkliniken und Supermärkten, Fernsehen und Fußball aufpäppelte; nicht zu vergessen, seine millionenschweren Einkünfte als ehemaliger Hauptaktionär des privaten TV-Senders Chilevisión und der Fluggesellschaft LAN, die durch Fusionierung mit der brasilianischen TAM, unter dem Namen LATAM zur Zeit als größte Airline Lateinamerikas rangiert.
Piñera wurde mit einem Skandal in Verbindung gebracht, der in jedem Land mit funktionierender Justiz mehr als nur Kopfschmerzen verursacht hätte: Er nutzte vertrauliche Informationen für den Erwerb seiner LAN-Aktien. „Piñera zu wählen bedeutet, Verlierer zu sein“, urteilte die als Wertekonservative bekannte, chilenische Philosophie-Professorin und Journalistin Teresa Marinovic in einer mutigen Abrechnung mit dem Multimilliardär vom September 2015 auf dem privaten Fernsehsender Radio Biobio.
„Piñera ist nicht das kleinere Übel“, warnte Marinovic, und erinnerte daran, dass in einem zweiten Fall, in den wieder die Airline LAN involviert war, auch in Argentinien gegen den jetzt frischgewählten Präsidenten wegen mutmaßlicher Zahlung von Bestechungsgeldern ermittelt wurde. Im Jahr 2010 wurde dem angehenden Präsidentschaftskandidaten deshalb der Prozess gemacht, als E-Mails des argentinischen Abgeordneten Jaime Manuel Vázquez enthüllten, dass die Fluggesellschaft eine „Provision” in Höhe von 1,5 Millionen Dollar für betrügerische Scheinberatung gezahlt hatte. Piñeras wurde zur Zahlung einer Strafe in Höhe von 20 Millionen Dollar verurteilt.
Die Liste der Wirtschaftsdelikte des neuen chilenischen Präsidenten umfasst mindestens zwei Zeitungsseiten, die Beschuldigungen füllen tausende von Gerichtsakten. Gleichwohl dürfte Piñeras bekanntester Fall der skandalumwobene Betrug der Banco de Talca gewesen sein; ein trickreicher Vorgang, der in der Geschichte der Wirtschaftskriminalität seinesgleichen sucht.
Der Fall trug sich folgendermaßen zu. Am 28. August 1982 ordnete Richter Luis Correa Bulo die Festnahme Sebastián Piñeras an, dem als damaligem Geschäftsführer der Banco de Talca schwerer Betrug vorgeworfen wurde. Der Richter begründete seinen Haftbefehl mit dem Hinweis auf Verstöße gegen das chilenische Gesetz über das Bankwesen und beschuldigte Piñera auch als Komplizen von schweren Betrugs gegen Minderheitsaktionäre der Bank.
Zum einen wurde Piñera beschuldigt, als Bankdirektor angebliche Kredite in Höhe von mehr als 200 Millionen Dollar an sogenannte „Partner-Unternehmen“ vergeben zu haben, die das Grundkapital der Banco de Talca um das Fünffache überstieg und damit gegen das Gesetz verstieß, wonach Kredite den Wert von 25 Prozent des Banken-Grundkapitals nicht überschreiten durften. Das war Piñeras erstes Vergehen.
Das zweite, viel gravierendere Delikt war, dass es sich bei den sogenannten „Partner-Unternehmen“ um Scheinfirmen handelte. Sebastián Piñera tauchte 24 Tage lang unter, um seinen Anwälten Zeit zu geben, seine Verteidigung vorzubereiten. Wie General Augusto Pinochets ehemalige Justizministerin Mónica Madariaga Jahre später zugab, hatte sie sich auf Einwirken des Diktators dafür verwendet, dass der soeben zum zweiten Mal gewählte Präsident freigelassen wurde.
Die Rettung der Bank wurde von der Pinochet-Justiz abgelehnt, Piñera wurde nicht dazu verpflichtet, die Hauptschulden und Strafgebühren zu zahlen. Die Ermittlungen wurden im Laufe der Jahre eingestellt, der Fall Banco de Talca ad acta gelegt. „Ad acta gelegt“ trifft jedoch als Redewendung den Ausgang des Millionenbetrugs nur ungenau: Laut Medienberichten verschwanden die Gerichtsakten auf nimmer Wiedersehen.